DORIAN
Mir läuft der Schweiß die Stirn herab. Mit den Handrücken wische ich ihn mir aus der Stirn.
Besser wird es dadurch nicht. Auf dem Dachboden ist es staubig, dreckig, stickig und heiß.
Wer von uns zwei hatte eigentlich die bescheuerte Idee, heute diesen Raum hier auszumisten?
Da hilft es auch nicht, dass ich eine kurze Hose anhabe und meinen Oberkörper von meinem Shirt befreit habe. Es ist einfach zu heiß hier oben für solche Aktionen. Zumindest wenn man das effektiv erledigen und erfolgreich sein möchte.
Mein Bruder zieht nun einen großen Karton aus dem Durcheinander hervor. Sofort wirbelt Staub auf, und ich höre ihn laut husten.
Ich blicke zu ihm herüber. Was hat er da hervorgekramt?
Er greift nach einer Flasche Mineralwasser und nimmt einen großen Schluck. Wie es aussieht, müssen wir bald wieder Nachschub aus dem Kühlschrank holen.
Er blickt auf den Schriftzug des Kartons. „Bruderherz, das gehört dir“ erklärt er.
Ich seufze. Ich habe keine Lust mehr auf diese Aktion hier.
Unwillig nähere ich mich dem Fund. Er hat recht, mein Name steht darauf. Ich starre nachdenklich auf den Gegenstand. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich darin eingepackt habe.
Oder sind das etwa…?
Mir kommt ein Verdacht und ich hebe den Deckel. Unten am Boden des Kartons sind diverse Kleidungsstücke säuberlich zusammengelegt untergebracht. Oben liegt eine eher matte, rote Latexmaske. Sie wird über das Gesicht gezogen und verhüllt das darunter liegende Antlitz komplett. Einmal angezogen, bedeckt sie komplett den Hals.
Die Maske hat lediglich schmale Öffnungen für die Augen. Alle anderen Konturen des Kopfes sind vorgeformt. So ist z.B. auch der Mund geschlossen und die Stimme klingt gedämpft, wenn man spricht. Obwohl das mit der Stimme eh so eine Sache ist bei dieser Maske. Ich lächle, als ich daran denke.
Das Gesicht, das sie zeigt, wirkt hager und etwas streng – mit der entsprechenden passenden restlichen Körpersprache wirkt man durchaus dominant und auch ein wenig furchteinflößend. Die Nase ist etwas groß und wirkt markant im Gesicht. Auch steht das Kinn leicht vor und verstärkt daher den bestimmenden Eindruck.
Ja, ich hatte nicht mehr in Kopf gehabt, wie sie aussieht. Aber die Erinnerung ist sofort wieder da.
Offensichtlich auch bei meinem geliebten Bruder, der mir ins Gesicht grinst. „Master Dorian“ sagt er ganz leise mit heiserer Stimme in dem Versuch, eine Sub nachzuahmen.
Ich lache kurz. Natürlich bin ich nicht der einzige, der sich erinnert. Ich habe immer offen mit ihm über meine Neigung gesprochen, wie auch ich von ihm weiß, wie er so tickt. Wir hatten diesbezüglich einfach Glück, dass wir so offen miteinander sprechen konnten.
„Meinst du, sie passt dir noch?“ fragt er.
„Weshalb sollte sie nicht?“ brumme ich. „So lange ist das jetzt schließlich auch nicht her. Davon abgesehen, ist das eine Maske für den Kopf, also sei nicht albern“.
Er schaut mich fragend an. Er erwartet offensichtlich, dass ich sie anprobiere und eine kurze theatralische Vorstellung von meinem zweiten Ich gebe. Aber ich schüttle den Kopf.
„Nein, mein Lieber. Ich dominiere nicht mehr, das weißt du doch“.
„So lange ist das noch nicht her. Wie viele Jahre sind das jetzt? Vier?“
„Fünf!“ korrigiere ich genervt. „Es war eine schöne Zeit, aber es reizt mich nicht mehr“ wiederhole ich.
Er schüttelt den Kopf. „Das glaube ich nicht“.
Ich starre ihn an. „Ich habe keine Lust mehr auf diese wöchentlichen Sessions. Es war schön, aber es reizt mich nicht mehr“.
Mein Bruder schaut mich ungläubig an. Natürlich weiß er es mal wieder besser. „Das ist nicht dein Problem. Du bist einfach älter geworden und suchst etwas Festes. Keine wechselnden Frauen, sondern die eine, die sich dir unterwirft. Vielleicht sogar die Frau fürs Leben“.
Er bekommt einen schwärmerischen Ausdruck. Oh Mann, lieber Bruder, manchmal hast du doch tatsächlich einen Knall.
„Vergiss es“ antworte ich ihn deshalb leicht genervt. „Du redest dummes Zeug! Ist dir die Hitze hier oben zu Kopf gestiegen?“
„Nein. Aber wenn du meinst, dass du damit wirklich abgeschlossen hast, was machen wir dann mit dem ganzen Zeug? Wir wollten ja hier ausmisten. Also alles ab in den Müll? Da müssten noch mehr Kartons mit deinen verschiedenen Dom- Materialien hier herumliegen“.
Was anzunehmen ist. Er hat den Karton hinten aus der rechten Ecke hervorgeholt. Da dürften noch einige weitere Kisten rumstehen.
Vom Verstand her möchte ich ihm recht geben. Es ist ein abgeschlossenes Kapitel in meinem Leben. Eine Frau, die zu mir passt und nicht nur sexuell mit mir auf gleicher Wellenlänge liegt, muss erst noch geboren werden.
Trotzdem – irgendwas hält mich zurück. Eine Ahnung, ein Instinkt, ich weiß es nicht. Und kann es selbst nicht verstehen.
Daher erkläre ich: „Lass mal. Die Dinge bleiben hier, da wird nichts weggeworfen“.
Mein alles geliebter Bruder sagt nichts darauf. Sein triumphaler Gesichtsausdruck – der so viel heißt wie ‚Ich hab’s ja gewusst‘ – reicht mir eigentlich.
Deshalb wende ich mich ab und wende mich einer anderen Ecke des Speichers zu.