Dass ich nicht so richtig weiß, wo Emilia und ich nun stehen, plagt mich mehr, als ich es zugeben mag. Seit der Abschlussfahrt ist sie wieder komisch. Ich darf sie auch nicht mehr küssen. Ich halte mich an ihre Regeln. Das werde ich immer tun! Trotzdem schmerzt es. Doch jetzt soll sich alles ändern. Ich habe am Abend einen genauen Plan aufgestellt, wie alles laufen soll und, wie ich mich verhalten soll.
Jetzt wird alles besser!, denke mír, als ich am Tag darauf den Klassenraum mit neuer Kraft betrete. In der ersten Stunde haben wir Deutsch. Herr Illian gibt uns eine Aufgabe, die wir in Einzelarbeit bearbeiten sollen, während er aus seinem Büro etwas holt.
Die Affen neben mir machen sich einen Spaß daraus, die Klasse zu zerstören. Ich lasse mich nicht darauf ein. Ich hole meinen Block hervor und klappe ihn auf, als ein paar Blätter herunter fallen. Niklas, ein zu klein geratener Außenseiter hebt sie auf und hält sie stolz in der Hand. Ich möchte sie ihm wegnehmen, aber er zieht sie schnell weg. Er holt zwei Blätter aus der Klarsichtfolie und ich spüre, dass ich geliefert bin.
Anders, als sonst, ist seine Stimme stark und selbstbewusst, als er beginnt, das Geschriebene laut vorzulesen: „Liebe Emilia,“... Alle Augenpaare sind nun auf mich gerichtet. Ich erröte und der Scham macht sich in mir breit. Mein Blick schweift Hilfe suchend zu Lea. Ich spüre, dass sie mir gerne helfen würde, aber sie kann nicht. Ich habe es mir selber zuzuschreiben und muss nun damit umgehen können. Mit diesem Druck komme ich keine Sekunde länger zurecht. Ich renne aus dem Raum. Herr Horst kommt mir entgegen und redet wild auf mich ein. Ich höre ihm nicht zu, renne weiter. Bis zur Mädchentoilette und lasse mich auf dem Boden nieder. Ich hole wiedr meine Pinnnadel hervor und gehe diesmal an der anderen Seite meines Armes, ganz nah an den Adern entlang. Es tut höllisch weh. Ich mache weiter. Es nimmt mir all den Stress der letzten Wochen. Viel Zeit vergeht und ich sitze einfach nur da, als plötzlich die Tür aufgeht. Mittlerweile sind mir die Reaktionen darauf bekannt. Ich sollte wohl besser aufhören, aber ich tue es nicht.
„Verdammt, Julia!“, ertönt eine Stimme. Ich kenne sie. Sie ist hell und magisch. Sie löst vieles in mir auf. Es ist die Stimme von Hannah Ricken, die mir noch im selben Moment die Nadel aus der Hand reißt. Ich sehe in ihre eisblauen Augen und fühle mich vollkommen. Strenge liegt in ihrem Blick. Oder ist es Wut?
Schon viel zu oft hatte sie mich bitten müssen, es zu lassen, doch das geht nicht mehr. Ich bin gerannt und gerannt, obwohl alle mich gewarnt haben, ich solle stehen bleiben. Nun stehe ich ganz alleine in einer dunklen Sackgasse. Verdammt... Hätte mich nicht irgendjemand warnen können, dass es wehtun wird? Nein, ich kann nicht mehr aufhören.
Emilia Adams kniet sich neben mich auf den Boden und legt schweigend den Brief vor mich. Plötzlich sagt sie: „Niko hat mir alles erzählt.“. Ich sehe sie verwundert und ungläubig zugleich an. „Freiwillig?“, erkundige ich mich und muss bei dieser Vorstellung direkt lachen. Sie grinst nur leicht und antwortet nicht. Ich kenne die Antwort... Die kennen wir alle...
„Hast du den Brief gelesen?“, frage ich leise. Sie grinst verspielt und nickt mir zu. Ich sehe, wie sie sich freut und freue mich glatt mit. Ich frage mich, wie sie das immer wieder schafft. Sekundenlang herrscht Stille.
Ich sehe verlegen auf meine Hände hinuter uind flüstere: „Ich vermisse dich....“. Sie lächelt süß. Ich spüre, dass sie nicht weiß, was sie erwidern soll. Was würde ich darauf sagen an ihrer Stelle?
„Ich weiß, Julia.“, meint sie, „Aber jetzt lass uns erstmal deine Wunden verarzten, ja?“,Ich nicke und frage mich gleichzeitig, ob sie ebenfalls die Zweideutigkeit in diesem Satz sieht. Wie immer rennt sie voraus und ich halte nur mit Mühe mit. Diesmal ist es jedoch anders. Ein paar Mal hält sie, lächelt mich an oder hält mir die Tür auf. Ich bemühe mich, meine Freude zu unterdrücken. Wir gehen in eines der Zimmer. Es ist hell und weiß. Nirgends stehen Bilder. Es ist trist. Ich sehe mich um. In der Ecke steht eine Krankenliege. Es sieht aus, wie ein Zimmer im Krankenhaus. Ich erinnere mich, als sie gemeinsam mit mir Jasmin von der Arbeit abholen wollte und vermisse direkt wieder die Zeit mit ihr. Ich schüttle die Gedanken ab. Sie schließt die Tür. Das Schweigen zwischen uns hat einen tödlichen Charakter. Ich bekomme das Bedürfnis, etwas zu sagen. Und was?
Sie holt einen Verbandkasten hervor. Gekonnt und vorsichtig tupft meine Klassenlehrerin über die offenen, blutenden Wunden. Es schmerzt und ich ziehe den Arm weg. Ich sehe sie an. Auf ihren Lippen zeichnet sich ein Lächeln ab, das sich nicht deuten lässt.
„Ist schon okay.“, beruhigt sie mich und tastet erneut darüber. Das gleiche Spiel. Ich weiche aus. „Bitte nicht...“, rufe ich. Meine Stimme ist zittrig und flehend. Sie seufzt.
„Ich will dich nicht quälen, Julia, aber da musst du jetzt mal durch.“, erklärt sie lieb. Ich gebe mich ihr komplett hin und beobachte, wie sie es ganz sanft saubermacht. Ich kann meine Erregung keine Sekunde länger verstecken. Sie verbindet, als ich sie plötzlich unwillkürlich an mich heran ziehe. Meine Finger greifen an ihre schöne, schlanke Taille. Unsere Lippen berühren sich. Wie immer haben ihre Lippen diesen tollen Erdbeergeschmack. Ich habe meine Augen fest geschlossen und spüre die leichte Gegenwehr. Einen kurzen Augenblick lässt sie es noch zu, bis sie mich dann von sich wegstößt.Ich liege vor ihr und sehe sie verwirrt an.
„Verdammt, such dir Hilfe!“, schreit sie und entfernt sich ein paar Schritte von mir.
„Es tut mir leid, okay?; flüstere ich schwach und rühre mich nicht, „Für mich ist das auch schwer!“. Sie verdreht genervt die Augen. Ich möchte wütend werden. Zum ersten Mal ihr gegenüber. Ich erschrecke mich vor mir selbst. Im Raum herrscht Ruhe.
„Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“, bittet sie mich. Ich bin twas verwundert, dass sie wieder so sanft wirkt. Oder ist es nur Fassade? Wir verlassen das Lehrerzimmer. Das Gebäude. Den Schulhof. Direkt vor ihrem Auto bleiben wir schließlich stehen.
„Steig ein!“, befielt sie mir. Ihr Blick ist fordernd, als sie auf die Fahrerseite geht. Fragen kommen auf und krallen sich in mir fest. Bereits im Auto sitzend öffnet sie das Fenster auf meiner Seite und ruft: „Jetzt komm schon! Oder vertraust du mir nicht mehr?“. Ich vertraue ihr. Ich lasse mich in ihrem Auto nieder. Wir fahren los und sie macht die Musik im Radio laut. Sie möchte jetzt nicht reden. Ist sie noch sauer? Ich überwinde mich und mache das Radio leise.
„Möchtest du mich jetzt im Wald aussetzen?“, witzle ich und möchte selbstbewusst klingen. Sie stößt einen Lacher auf. Nicht dieser süße kindliche Lacher, den sie sonst immer hat. Er ist kalt und emotionslos.
„Was ich möchte, spielt hier leider keine Rolle!“, meint sie. Ich schweige und frage mich, ob das auch auf mich bezogen war.
„Na ja..., für mich spielt es eine große Rolle.“, erwidere ich. Sie verdreht die Augen und seufzt genervt. Nur ein weiteres Mal frage ich mich, was mit ihr los ist. Auf das Abschlussfahrt war ales cool und sie hat mich geküsst. Jetzt tut sie so, als sei ich ein Monster nur, weil ich diese spontanen Küsse erwidere. Ich verberge meine Trauer, frage: „Und was hast du jetzt mit mir vor?“.
„Sag mal, was ist denn los mit dir? Hast du plötzlich Angst vor mir?“, grinst sie neckisch, „Wir tun etwas, was wir schon lange hätten tun sollen!“. Ich bin mir nicht garnz sicher, ob ich jetzt weinen oder lachen soll. Die Frage, was sie jetzt tut, brennt sich in mein Gehirn ein und quält mich die ganze Fahrt lang. Wir halten an einem großen, grauen Gebäude. Sie steigt aus, ich folge ihr. Drin laufen viele Menscheb mit Kitteln rum. Was hat sie vor?, frage ich mich innerlich immer wieder. Ein komisches Gefühl macht sich in mir breit. Ich vertraue ihr. Und doch würde ich am liebsten weinend wegrennen. Sie beachtet mich gar nicht wirklich und sieht sich nur uín dem mysteriösen Gebäude um.
Ich greife nach ihrer Hand und flüstere: „Bitte!“, als ich ihre Gegenwehr verspüre. Tatsächlich! Sie lässt es zu. Wir gehen auf den Infoschalter zu. Die Frau dahinter fragt: „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“. Emilia sieht noch ein letztes Mal zu mir, bevor sie sagt: „Wir möchten zu Frau Dr. Blum.“: Ich mustere die Frau unauffällig. Ihre Augenringe macht sie durch kiloweise Wimperntusche weg. Sie ist sehr dünn, beinahe magersüchtig. Ihre rot-braunen Haare sind zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Als ihre hohe, piepsige Stimme ertönt, muss ich grinsen: „Warten Sie bitte noch ein paar Minuten im Wartezimmer.“.Kaum hat sie es ausgesprochen, sitzen wir im Wartezimmer. Anfängerin... Die Frau hat noch nicht einmal nach unserem Namen gefragt! Oder ist sie keine Anfängerin und es ist alles so geplant? Vielleicht werden wir erwartet... In meiner Burst macht sich ein stechender Schmerz breit. Ich bekomme Atemprobleme. Mein Blick gleitet zu Emilia, die im selben Moment meine Hand loslässt, um eine Zeitung zu nehmen.
„Frau Adams?“; sage ich plötzlich und merke schon gar nicht mehr, dass ich sie wieder sieze. Ich warte, bis sie mich ansieht und rede dann weiter: „Bitte.... Ich habe Angst!“.
„Musst du nicht!“, beruhigt sie mich, „Hier wird dir geholfen.“. Eine Frau mit weißem Kittel betritt den Raum. Emilia sieht auf und grinst. Sie legt die Zeitung beiseite und renn tihr förmlich in die Arme. Ich folge ihr und beobachte die Frau. Ihre braunen, langen Haare sind zusammen gebunden. Sie trägt unter dem offenen Kittel ein pinkes Top, das sie jünger wirken lsst. Trotzdem ist sie wesentlich älter, als meine Klassenlehrerin.
„Schön, dich wiederzusehen, Emilia!“, bemerkt die Frau, „Wie geht es dir?“. Sie duzen sich... Was hat das alles zu bedeuten. Meine Angst verstärt sich von Sekunde zu Sekunde. Emilia lacht auf. „Den Umständen entsprechend.“, erzählt sie und wechselt einen schnellen Blick mit mir. Ich frage mich, ob sie mich mit den Umständen anspricht, werde jedoch sofort aus meinem Gedankenchaos rausgeholt.
„Na dann kommt mal mit!“; bittet uns die Frau. Wir folgen ihr und gehen in einen komplett weißen Raum. Dort ist es hell und modern, allerdings irgendwie leer. An einem Holztisch lassen wir uns nieder. Es stehen Bilder darauf, auf dem Bilder stehen. Da ist die Frau mit zwei Kindern abgebildet. Ihre Kinder?
„Schön, dich kennenzulernen, Julia.“, höre ich und bemerke, wie sie mich auffällig mustert, „Mein Name ist Frau Dr. Blum.“. Ich sehe sie verwirrt an. Fragen kommen auf. „Woher kennen Sie meinen Namen?“, erkundige ich mich. Ganz kurz sieht sie zu Emilia, dann wieder zu mir. Sie grinst wissend und antwortet: „Menschenkenntnis. Plötzlich kehrt unangenehme Ruhe in den Raum ein.
„Warum bist du hier?“, fährt sie fort. Ich schweige und kämpfe mit mir selbst.
„Können.... Können Sie den Kittel ausziehen? Bitte....“, frage ich sie verlegen. Ich frage mich, warum sie im selben Moment zu lachen beginnt. Sie entgegnet: „Wow... Frau Adams hatte mich schon gewarnt, dass du in Bezug auf deine Sexualität sehr direkt bist, aber damit hatte ich nicht gerechnet!“. „Das reicht!“, protestiere ich genervt und möchte den Raum verlassen. Die Tür ist verschlossen. Selbstverständlich! Ich fühle mich wehrlos. Was hat es für einen Sinn, einen Kampf ohne Waffen zu kämpfen. Ich kehre zurück.
„Braves Mädchen!“, neckt mich Frau Dr. Blum. Ich seufze.
„Können Sie jetzt wenigstens den Kittel ausziehen?“ wiederhole ich. „Wenn du mir verräts, wieso du das so unbedingt möchtest, dann mache ich das vielleicht.“. Sie lächelt lieb, aber ich spüre, dass sie nicht lieb ist.
„Ich habe einfach ein.... ein bisschen Angst vor Ärzten.“, presse ich zwischen meinen Zähnen hervor. Sie zieht den Kittel aus. Endlich. Auf ihren Lippen zeichnet sich ein teuflisches Grinsen ab. „Also, wieso bist du hier?“, fragt sie mich erneut, während sie etwas in ihr kleines, rotes Notizbuch schreibt. „Was schreiben Sie da??“, überholt mich die Neugierde. Sie sieht von dem Büchlein auf. Ihr Blick ist prüfend. „Dinge.“, entgegnet sie, „Aber zurück zu der Frage.
„Ich weiß doch noch nicht einmal, was das besagte Hier ist!“, fauche ich genervt, als die Hand meiner Klassenlehrerin über meinen Oberschenkel gleitet. „Hey..., ich weiß, da ist gerade ganz viel in dir, das ist okay! Aber versuche, dich ein bisschen zu beruhigen, ja? Wir möchten dir wirklich nur helfen!“, beruhigt sie mich. Sie sieht mir wieder direkt in die Augen.
„Wieso? Das ist doch ein berechtigter Einwand.“; verteidigt mich die Frau, „Das, liebe Julia, ist eine Psychaitrie.“. Ich räuspere mich und suche verzweifelt nach den Clou.
„Okay, das ist albern. Ich brauche das alles hier nicht und das wissen Sie ganz genau, Frau Adams! Dass Sie mich ein bisschen zappeln lassen wollen, ist ja noch ganz süß, aber Sie hatten Ihren Spaß, okay? Lassen Sie mich wieder gehen. Bitte!“, wende ich ein. „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich bin mit dir komplett überfordert. Ich habe keine Ahnung, wie man sich als Lehrerin verhält, wenn sich die Schülerin ritzt, wegen der angeblichen großen Liebe. Ich weiß auch nicht, weshalb man in die Psychaitrie kommt. Ich habe schon sehr oft mit ihr über dich gesprochen und sie hat mir angeboten, dass sie mal mit dir spricht. Ich verzweifle allmählich, okay? Also bitte, verhalte dich nicht so kindisch tue einmal etwas sinnvolles. Bitte!“. Tränen laufen mir über die Wange. Ich schäme mich, dass ich so viel Schwäche zeige vor den beiden Frauen. Der Blick von Frau Dr. Blum wird innig.
„Möchtest du mir vielleicht sagen, was du gerade fühlst, Julia?“, fragt sie mich mit einer sanften Stimme. „Ich habe Angst. In meinem Kopf herrscht Chaos. Ich will doch einfach nur wieder glücklich sein. Mit dir, Emilia! Ich hasse es, dass du mich so quälen kannst und andererseits liebe ich es, mich dir komplett hinzugeben und die Kontrolle zu verlieren. Das alles macht mir unvorstellbar viel Angst. Ich meine, hast du das nicht auch gefühlt? Bei der Klassenfahrt, als ich vor dir lag und du mich geküsst hast? Oder heute, als du die Narben verbunden hast? Fühlst.... Gott... Sieh mich an, Emilia, und sage mir, dass du nie etwas gefühlt hast.“. Sie antwortet nicht. Sie wird auch nicht mehr antworten. Nicht mal ansehen tut sie mich. Hasst sie mich?
„Das ist nicht fair, Emilia!“, schluchze ich.
„Moment, tut mir leid. Ich weiß, dass das unpassend ist, aber du hast von Narben gesprochen. Welche Narben?“, wirft die Ärztin ein.
„Weil sie sich geritzt hat!“, liefert mich Emiliaaus. Sie wirkt erschöpft. Die Ärztin sieht mich an und fragt entsetzt: „Ist das wahr?“. Ich möchte nicht antworten, fühle mich unwohl. Ich möchte gehen, aber ich kann es nicht. Sie spürt, dass ich mich dagegen streube, zu antworten. „Vielleicht ist es besser, wenn du uns beide kurz alleine lässt.“, schlägt die Ärztin vor, „Oder, Julia?“. Ich schweige. „Du kannst es entscheiden.“, fügt sie hinzu. Ich nicke schwach und sehe zu, wie Hannah den Raum verlässt. Wir sind alleine. Ein paar Minuten wehre ich mich noch. Dann beginne ich, zu erzählen. Alles. Von meinem Liebesgeständnis im Laden. Von dem Ex.Der Klassenfahrt. Der Beziehung. Diesen ganzen Problemen, die dazukommen und sich an uns oder viel mehr an mir festklammern. Ich erzähle alles. Es tut gut. Schließlich sagt sie: „Ich bin sofort wieder bei dir.“ und verlässt den Raum. Ich höre sie sprechen: „Ich würde Sie gerne ein paar Nächte hier behalten.“. Alles in meinem Kopf dreht sich. Ich bekomme Angst und zerre an der Tür, bis sie aufgeht. Die beiden Frauen sehen mich an. „Ich habe zugehört und ich kann nicht hier in der Klinik bleiben!“, erkläre ich ruhig.
„Du kannst nicht?!“, fragt Frau Dr. Blum sehr neugierig. Ich schüttle unschinbar den Kopf. Frau Adams mischt sich auf kindische Weise in das Gespräch ein: „Das ist Pech, denn du hast keine Wahl...“. Ihr Blick hat etwas erpresserisches an sich. Ich starre sie einfach nur an. Meine Augen werden glasig.
„Bitte... Emilia, lass mich nicht hier. Das kannst du nicht mit mir machen. Ich.... Gott..., Bitte! Ich flehe dich an! Ich tue alles, was du möchtest. Wirklich alles! Ich kann nicht hier bleiben! DU kennst mich besser, als jeder andere! Bitte! Ich habe so Angst!“, flehe ich sie an. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich. Ich kenne meine kleine Hannah. Sie ist kein Monster. Sie wird mich nicht hier lassen. Sie sagt: „Hör zu, Julia... Ich möchte dich wirklich nicht zum Weinen bringen, aber du solltest hier bleiben. Dir geht es so schlecht wegen allem, was geschehen ist. Es sind auch nur ein paar Tage. Ich werde dich jeden Tag besuchen kommen. Versprochen!“. Ich kann es nicht fassen. Sie möchte das tatsächlich durchziehen. „Cool... Ich informiere dich, wenn sie mich in die Zwangsjacke stecken wollen, weil ich mich verliebt habe! Vielleiht möchtest du sie mir ja anmachen. Das wird ein Spaß...“, ich verdrehe genervt die Augen und wende mich an die Ärztin. „Wo muss ich dann jetzt hin?“.Die beiden Frauen verabschieden sich und Emilia sieht mich hoffnungsvoll an. Es tut weh, sie zu ignorieren. Und doch tue ich es.
Frau Dr. Blum birngt mich in mein Zimmer. Einzelzimmer. Im Schrank hängen ein paar schicke Psychoklamotten. Ich sehe sie jetzt schon verstört an. „Muss ich diese Sachen tragen?“, frage ich. „Es sind ja nur ein paar Tage.“, erwidert sie. „Können Sie mir das versprechen? Bitte....“, lächle ich müde. Sie nickt verschwörerisch. Es herrscht Stille. „Hör mal, Julia... mir ist heute aufgefallen, dass es dir wahnsinnig dchwer viel, dich mir gegenüber zu öffnen. Das ist such ganz normal. Das ist dir hier alles fremd und du hattest Angst. Umso mehr möchte ich dir danken, dass du mir so vieles anvertraut hast. Ich verspreche, dass ich dich nicht allzu sehr quälen werden.“, sie grinst, „Trotzdem muss ich für die Zeit hier dein Handy konfiszieren, damit du nicht auf dumme Ideen kommst und Frau Adams schreibst.“. „Wow... Sie sagen, Sie werden mich nicht quälen, aber alleine das ist Folter!“, ich bin wieder genervt und doch gebe ich das Handy. Was hat es für einen Zweck, sich dagegen zu wehren? Sie lässt mich alleine im Zimmer zurück. Der Abend vergeht schnell. Ich werde müde und schlafe mit meinen Straßenklamotten und einem Buch in der Hand ein. Es gibt sehr früh Essen. Die Frau von der Information gestern bringt es mir und weckt mich ganz sanft. Erst sehe ich sie verschwommen und dann wird es immer schärfer. Ich sehe ihr in die Augen. Sie wirkt ausgeschlafener, als gestern.
„Hi.“; sagt sie.
„Hi.“, sage ich. Plötzlich strahlt sie fröhlich und steckt mich an. Merkwürdig, was so ein Lächeln in Menschen bewirken kann... , denke ich innerlich.
Sie fragt: „Wie geht es dir?“. Ich frage mich, ob das zu dem Morgenprogramm gehört. „Bestens!“, antworte ich voller Ironie und wir beide lachen.
Es ist Nachmittag. Frau Dr. Blum sitzt direkt vor mir und redet eindringend auf mich ein, während ich weinend in mich hineinfalle. Die Tür geht auf. Meine Klassenlehrerin betritt den Raum.Sie hat immer noch diesen Wow-Effekt, der es bewirkt, dass sich mein ganzer Körper mit Gänsehaut und Freude füllt. Es ist magisch. Ich muss lächen. Ich möchte nicht lächeln! Ich möchte wütend und cool wirken. Ich unterdrücke das Lächeln.
„Guten Morgen!“, ruft sie fröhlich in den Raum.
„Hi.“, erwiedert die Ärztin die herzliche Begrüßung. Jetzt sieht sie zu mir. Beide. Ich sage nur: „Schön, dass du so fröhlich bist jetzt, nachdem du mich hier weggesperrt hast! Wenigstens etwas gutes....“ Hannah senkt erschöpft den Kopf.
„Komm erstmal rein.“, klingt sich die Ärztin in das Gespräch ein, „Wir sind in keiner Sitzung. Ich muntere Julia gerade nur ein wenig auf.“. Emilia wirkt besorgt. „Was ist denn passiert?“; fragt sie mich. Ich schüttle verweigernd den Kopf. „Vielleicht kann ich dir ja helfen?!“, fügt sie hinzu. „Ich lasse euch beiden jetzt mal alleine.“, wirft die Ärztin dazwischen und geht. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich das sagen würde. Wenn ich jetzt einfach dieses Gebäude verlassen könnte. Die Ärztin dreht sich noch ein letztes Mal zu uns um, bevor sie den Raum verlässt. „Ach..., Emilia, ich würde dich gleich gerne noch einmal alleine sprechen.“. Emilia nickt. Für eine Sekunde sieht mir die Ärztin direkt in die Augen und grinst teuflich. War das drohend? Emilia und ich sind alleine.
„Schickes Outfit.“, neckt sie mich. Ich spüre, dass etwas anders ist. Sie ist anders! Beinahe befangen. Ich sehe mich an und komme mir erbärmlich vor.
„Wie geht es dir, Julia?“, fragt sie ehrlich gemeint, dass es mir schon wieder leidtut, sie so anzugreifen: „Du sperrst mich hier gegen meinen Willen ein und fragst dann tatsächlich, wie es mir geht? Du bist mir ja eine ganz lustige...“
„Ich mache das, weil du Hilfe brauchst. Hier geht es um etwas viel größeres, als um den Kuss. Ich meine, du liebst mich! Du kannst nicht ohne mich und würdest nicht zögern dich umzubringen.“, entgegnet sie ruhig. „Ich hasse es, wenn du das tust!“, sage ich. „Wenn ich was tue?“, fragt sie mich. „Wenn du so die Tatsachen aufzählst.“, erkläre ich. Ich bin erschöpft und lehne meinen Kopf gegen ihre Schulter. Sie wehrt sich nicht. „Wieso ist das alles so schwierig?“, frage ich sie. Ich sehe ihr nicht ins Gesicht, aber ich spüre, dass sie lächelt. „Ich weiß es nicht.“, antwortet sie. „Kannst du mich nicht hier raus lassen. Ich bitte dich“ Ich meine... Das ist, wie ein Gefängnis! Sie hat mir mein Handy genommen!Ich fühle mich so machtlos, das ist echt scheiße...“. Ohne etwas zu sagen, verlässt sie den Raum und kommt Sekunden später mit der Ärztin wieder. „Julia hat mich gerade regelrecht angefleht, dass sie hier raus möchte. Was hast du denn mit ihr gemacht?“. Die beiden Frauen lachen. Es tut gut,Emilias Lache zu hören.
„Okay, Julia, heute ist Freitag. Ich mache dir einen Vorschlag. Du bleibst bis Montag hier und am Momtag begleite ich dich in die Schule. Dann beobachte ich im Hintergrund ein bisschen, wie du dich ihr gegenüber und so generell verhältst und, wenn alles gut läuft, dann werde ich dich für's erste entlassen. Abgemacht.“, schlägt sie vor.
„Nur, wenn ich vernünftige Anziehsachen anziehen darf für die Schule. Ich liebe nur Emillia und doch möchte ic mich so vor denen nicht blicken lassen.“. Die beiden lachen. „Du darfst auch vernünftige Sachen anziehen.“. Ich kann meine Freude nicht verbergen und renne auf Hannah zu, um sie zu umarmen. In dem Moment kribbelt alles in mir.
Das Wochenende geht schneller um, als ich es erwartet hatte. Ich muss viel reden und es kommt mehr an Licht, als mir lieb ist. Emilia hält ihr Wort und kommt mich jeden Tag besuchen. Ehe ich mich versehe, steht auch schon der Montag vor der Tür, an dem ich so hart auf die Probe genommen werden sollte. Es ist eine Umstellung, wieder so früh aufzustehen und doch sitze ich schon wenig später mit Frau Dr. Blum im Auto. Sie hat darauf bestanden, mich zu fahen, was mir erst ein bisschen unangenehm ist. Dann stelle ich mir vor, wie ich im Auto von Emilia sitze und wir reden. Wie früher! Wärrme umhüllt meinen Körper. Mir kann nichts passieren.
Wir betreten die Klasse. Ich darf zum Glück einige Sekunden vor ihr reingehen, damit niemand auf die Idee kommt, dass wir zusammengehören. Am Lehrerpult steht Emilia Adams. Wir sehen uns ganz kurz an.
Ich sage: „Hi.“
Sie sagt: „Hi.“ und schenkt mir ein herzliches Lächeln.
Ich gehe weiter und steuere auf Lea zu. In meinem Körper steigt ein Nerven raubendes Gefühö auf. Nervosität. Jetzt betritt auch Frau Dr. Blum den Raum. Ich bin wie erstarrt, sehe sie während des Gespräches mit Leonie die ganze Zeit an. Sie stellt sich zu meiner Klassenlehrerin und die beiden reden ein paar Minuten. Worüber?
„So, dann setzt euch mal alle hin!“, befielt Emilia. Ich lasse mich auf meinem Platz nieder und möchte entspannt wirken.
„Du kannst dich ruhig neben sie setzen, dann setze ich Max weg.“, schlägt Hannah der Ärztin vor. So viel zum Thema: Damit niemand auf die Idee kommt, dass wir zusammengehören...
Schon bald wird es jeder wissen! Das habe ich im Gefühl.
Ich senke meinen Kopf, um ihr zu signalisieren, dass ich jetzt nicht mit ihr reden möchte. Ist das richtig? Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, wieder eingesperrt zu sein. Die ersten drei Stunden vergehen wie im Flug. Dann ist Pause. Ich setze mich mit Leonie in die Nische. Die Ärztin folgt. Lea starrt sie ununterbrochen an und fragt dann: „Wer... Wer sind Sie?“. Die Ärztin schweigt und sieht kurz zu mir. Auf ihren Lippen zeichnet sich erneut dieses teuflische Grinsen ab. Sie wird es sagen! Na und? Lea ist nett!
„Ich bin eine Referendarin und sehe mich für einen Tag in der Schule um, speziell in eurer Klasse. Die Ecke hier sieht sehr gemütlich aus, deshalb dachte ich, ich könnte mich zu euch setzen, wenn das okay ist.“, erklärt die Ärztin. Wenn Lea ihr das abkauft, dann ist meine Welt in Ordnung... Aber sie wird ist es nicht tun!
„Echt? Oh mein Gott, cool!“, bemerkt diese und lächelt kindlich. Wie dumm kann man sein. Einen Moment freue ich mich, doch dann bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Das hat alles keinen Zweck. Die Wahrheit würde sowieso irgendwann rauskommen.
„Das ist doch Schwachsinn....“, bringe ich mich in das Gespräch ein, „Sie ist eine Psychaiterin, die einfach darauf achten soll, wie es so mit Emilia läuft....“. Noch im selben Moment schäme ich mich dafür, dass ich es so direkt gesagt habe. Frau Dr. Adams findet es anscheinend gut: „ Toll, Julia! Ich bin stolz auf dich! Das war ein großer Schritt.“.
Plötzliche Wut kommt auf, die ich nicht mehr unter Kontrolle habe. Das habe ich öfter, nur noch nie zuvor zu so einer unpassenden Zeit.
„Bitte... Können Sie nicht einfach zu Emilia gehe oder so und mich wenigstens in der Pause nicht nerven? Ist das so demütigend... Ich brauch keinen Aufpasser!“, fauche ich genervt und lege den Kopf in meine Hände.
„Nicht?“, fragt mich die Ärztin und krempelt meine Ärmel ein Stück hoch. Sie zeigt genau auf die Narben. Lea entweicht ein erschrockener Laut. Sie sieht mich an und frage: „Hast du dir das selber zugefügt?“. Ich schweige. Ich kann nicht mehr. Ich habe das Gefühl, mir schneidet jemand die Luft ab. Ich stehe auf und gehe weg. Ohne noch ein Wort zu sagen. Ich lasse mich in einer Stillen Ecke nieder und kehre erst gegen Ende der Pause wieder. Ist besser, dann komme ich mit niemandem in Konflikt. Ich freue mich, dass Frau Dr. Blum mich hat gehen lassen, denn ich brauche die Ruhe jetzt. Ich gehe zum Klassenraum. Alle Augenpaare richten sich auf mich. Es wird getuschelt. Ich fühle mich verunsichert, gehe zu Lea
„Hey, hast du es irgendwem gesagt?“, frage ich sie mit zittriger Stimme, weil ich Angst vor der Wahrheit habe.
„Nur Max.“, erklärt sie trocken und konzentriert sich gar nicht wirklich auf mich. Diesmal muss ich meine Emotionen etwas mehr zügeln... Ganz ruhig frage ich sie: „Dem Max, der mich hasst, seit ich ihn abserviert habe, weil ich so sehr in meine Klassenlehrerin verknallt bin?“.
Sie grinst schief. „Ist schon irgendwie lustig, wenn du das so sagst. Findest du nicht auch?“. Ich spüre, dass sie die Frage ernst meint und, dass man jetzt nicht mit ihr reden kann. Ich wende mich ab, gehe zu Max.
Er steht bei seinen Jungs und macht mal wieder auf supercool. Jetzt stehe ich direkt hinter ihm. Meine Stimme ist leise und peipsig. Ich denke an die Frau von der Information. Wie sie gelächelt hat.
„Hey, können wir reden?“, frage ich ihn. Sein Blick ist sanft. Er hat es nicht auf Streit abgesehen. Dann muss ich jetzt nur ganz vorsichtig und nett sein. Vielleicht lässt es dann. Er nickt und bewegt sich kein Stück von den anderen. „Unter vier Augen?“; füge ich hinzu. Er grinst und wir gehen in eine Ecke. Ich weiß nicht so richtig, wie ich beginnen soll. Ich hätte mir Karteikärtchen schreiben sollen!
„Ähm....,“, setze ich an, „Lea hat dir angeblich was erzählt und ich wollte dich nur bitten es für dich zu behalten.“. Das war doch gut! Ich zu unterwürfig, aber nett!
„Ja, sie hat mir erzählt, dass sie dir nen Aufpasser zur Seite stellen, damit du unsere Klassenlehrerin nicht mehr vergewaltigst.“, entgegnet er und geht kein bisschen auf die Bitte ein, „Dass du bisschen komisch bist, wusste ich schon, aber das...?“. „Lass es einfach, okay?“, frage ich.
„Klar, du sollst nur wissen, dass mich gar nicht braucht, damit die ganze Klasse merkt, wie schräg du bist!“. Er hat meinen Schwachpunkt gefunden und hört nicht mehr auf. Wut und Scham überkommen mich. Ich schlage auf ihn ein, aber er lacht nur schelmisch. Bin ich so schwach?
Ich spüre einen festen Griff hinter mir. Die Ärztin hält meine Arme zurück. Hannah Ricken steht direkt hinter ihr. Ich schäme mich, dass sie es gesehen hat und weiche ihrem Blick komplett aus. „Hey..., was ist denn los?“, fragt mich die Ärztin und sieht mich an. Ich schweige, reiße mich aus ihrem Griff und gehe weg.
Wir haben Englisch. Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren und sehe die ganze Zeit aus dem Fenster. Emilia Adams nimmt mich ein paar Mal dran, aber ich antworte nicht. Nach der Stunde gehe ich zu den beiden Frauen.
„Können wir kurz reden?“, frage ich schüchtern. Sie nicken. Ich räuspere mich und beginne zu reden: „Was da heute passiert ist, tut mir wirklich sehr leid. Ich merke es ganz oft bei mir, dass ich entweder impulsiv und unüberlegt reagiere oder vor meinen Problemen wegrenne. Ich weiß, das ist nicht okay... Mir ist mittlerweile auch klar, dass du, Emilia es drauf abgesehen hast, mich wegzusperren, weil es mir ja angeblich hilft. Ich muss zugeben, das vergangene Wochenende war auch wahnsinnig aufschlussreich. Trotzdem möchte und werde ich nicht mehr mitkommen. Allerdings, Emilia: Ich schätze, du bist die Einzige im meinem Leben für die ich alles tun würde. Wenn es dein Wunsch ist, dann werde ich zu einer Psychotherapeutin gehen.“.
„Ich hatte nicht vor, dich wieder mitzunehmen. Schon seit Freitag wusste ich, dass du es nicht brauchst. Du bist ein toller Mensch und ein paar Schwächen hat doch jeder, oder, Julia? Aber ich finde es wirklich toll, dass du auf uns zugekommen bist und das gesagt hast. Das zeigt viel Stärke!“.