Reise nach Shergolah
Alturin wollte dem Rat der alten weisen Frau folgen und schlug zuerst den Weg in Richtung Kristallstadt ein. Er musste mit Hatora sprechen und wollte hören, was sie über die Schattenwelt wusste. Gab es Möglichkeiten für ein Zurück von dort? Wusste Hatora tatsächlich, wo sich der Eingang dorthin befand? Und wenn sie ihn kannte, wie sollte man es anstellen, Mikkels Eltern von dort zu befreien? Lebten sie überhaupt noch? Fragen über Fragen, die ihn beschäftigten. Er hatte das Gefühl, dass die Zeit immer knapper würde. Er trieb sein Pferd zur Eile an. Zuerst zu Hatora und dann musste er Mikkel finden. Er war bestimmt noch in seinem Heimatdorf oder in dessen Nähe. Alles Weitere würde sich finden.
Alturin flog förmlich über das Land und nach einem harten Ritt erreichte er endlich die Kristallstadt. Auf dem kürzesten Weg begab er sich zu Hatora, die gerade zu Tisch sass.
"Merkwürdig dass Du immer gerade dann auftauchst, wenn es etwas zu Essen gibt, mein lieber Alturin." Sie sass mit dem Rücken zu ihm und Alturin war etwas überrascht, dass sie wusste, wer den Raum betrat.
"Auch Du verwunderst mich immer wieder auf's Neue, Hatora!", gab Alturin zurück und trat vor sie hin um sich leicht zu verbeugen. "Herrin."
Hatora lächelte ihn an. "Nimm Platz und leiste mir ein wenig Gesellschaft beim Essen, Alturin. Du bringst Neuigkeiten, nicht wahr?"
"Ja. Ich war bei der weisen Alten in den Schneebergen."
Während sie gemeinsam speisten, erzählte ihr Alturin, was er erlebt und von der weisen alten Frau gehört hatte. "Hatora, hälst Du es für möglich, dass Mikkels Eltern in Shergolah sind und noch leben?", fragte Alturin.
"Ja, ich halte es für möglich und um Deine nächste Frage vorweg zu nehmen, ja ich kenne den Eingang und das Ritual zum Eintritt. Und auch auf Deine nächste Frage gebe ich Dir ein "Ja". Wir müssen dort hin, ja. Es wäre sehr wichtig, die zwölf Lichter nun wieder zu vereinen. Unruhige Zeiten ziehen herauf. Lass uns hoffen, dass wir sie dort finden und dass sie leben. Aber zunächst musst Du Mikkel finden. Er ist unverzichtbar für unser Vorhaben und muss uns begleiten. Es wird nicht einfach sein und gefährlich werden. Aber nun ruhe Dich zuerst ein wenig aus. Du hattest einen langen Ritt."
Nach dem Essen begab sich Alturin in sein Gemach, dass ihm stets zugewiesen wurde, wenn er in der Kristallstadt weilte. Schnell erreichte ihn ein tiefer und erholsamer Schlaf. Gleich mit der Morgendämmerung wachte er erfrischt auf und machte sich sogleich auf den Weg in Mikkels Dorf. Ein wohlbekanntes leichtes Rauschen drang an sein Ohr, als er aus der Stadt hinaus ritt. Undra überflog ihn und erkundete einen sicheren Weg. Sie war von ihrem Ausflug zu den Albaren wieder genesen und begleitete ihn wie stets. Alturin war froh darüber und es beruhigte ihn. Seine alte Weggefährtin hatte ihm schon so manchen guten Dienst erwiesen und zwei wachsame Augen über sich zu haben war von unschätzbarem Wert in diesen Zeiten.
Bevor Alturin den Waldweg zum Dorf einschlug, wollte er noch einen kleinen Abstecher zur Lichtung machen, um sich die alte Knorreiche anzusehen. Undra schien es geahnt zu haben und kam gerade aus der Richtung zurückgeflogen, in der sich die Lichtung befand. Ihre Zeichen waren eindeutig. Der Weg war sicher. Kurz darauf stieg Alturin von seinem Pferd ab und betrat die Lichtung. Die alte Knorreiche stand wie eh und je und als er seine Hand auf ihre Borke legte, war ein leises wohliges Brummen zu hören. Die Sonne in der Mitte des Zeichens auf dem Stamm schimmerte und zehn Lichter leuchteten ringsherum. Alturin war beruhigt. Er sah sich noch ein wenig auf der Lichtung um und stieg dann auf sein Pferd, um ins Dorf zu reiten. Undra hatte sich schon aufgemacht und sich vom Ast der Knorreiche in die Luft erhoben, um den Rest des Weges zu erkunden.
Kurz darauf passierte Alturin den Eingang zu Mikkels Dorf. Alles schien hier friedlich zu sein und die Menschen hier gingen wie gewohnt ihrem Tagewerk nach. Alturin erblickte Mikkels Pferd vor einem Haus angebunden und steuerte darauf zu. Er sprang ab, band sein Pferd an und und stieg die eine Treppenstufe hinauf, die über den kleinen Vorbau zur Eingangstür führte. Er zögerte einen Moment und lauschte, aber es war von drinnen nichts zu hören. Dann hob er seine Hand und klopfte an. Ein junge hübsche Frau öffnete ihm kurz darauf und fragte freundlich nach seinem Anliegen.
"Sei gegrüsst Mahala. Ich bin Alturin und müsste dringend Mikkel sprechen. Ist er hier?"
Mahala wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als hinter ihr schnelle Schritte zu hören waren. Als sie sich umdrehte, stürmte Mikkel an ihr vorbei und flog Alturin förmlich in die Arme.
"Meister Alturin, wie ich mich freue!"
"He he, antwortete Alturin lachend, Du willst einen alten Mann doch nicht gleich umbringen oder?" Er war ein paar Schritte zurück getaumelt.
Mikkel schnappte Alturin in den Hüften und hob ihn ein Stück hoch, als wäre er ein Körbchen mit Kräuterpflanzen. "Es tut so gut Dich zu sehen, Alturin!"
"Ja, die Freude ist ganz auf meiner Seite, mein Lieber. Aber nun gib' mir wieder festen Boden unter meine Füsse." Als Alturin wieder auf dem Holzboden stand, bemerkte er, dass Mikkel noch grösser geworden war. Er überragte ihn um mehr als eine Kopfeslänge und als sie ins Haus hinein gingen, musste Mikkel leicht sein Haupt neigen, um nicht anzustossen. Sein blondes Haar war noch länger geworden und fiel über seine breiten Schultern herab. Alturin fiel der kleine Bartansatz auf, der sein Gesicht zierte. Dann blickte er sich ein wenig von seinem Platz aus im Haus aus um und sah, dass Mikkel nach den langen Jahren alles wieder wunderbar hergerichtet hatte. Mikkel erzählte ihm, dass sie gemeinsam zuerst Mahalas Haus instand gesetzt hätten und dann das Haus seiner Eltern.
"Mahala und ich gehören zusammen, weisst Du? Nach vielen Jahren haben wir uns nun wiedergefunden und wir haben uns versprochen, dass wir von nun an zusammen bleiben. Für immer. Du weisst, was ich meine?"
"Du meinst, ihr habt Euch die Ehe versprochen?", fragte Alturin.
"So ist es!, sagte Mikkel. Wir gehören zusammen und nichts kann uns trennen und wenn die Zeit gekommen ist, werden wir es öffentlich machen. Noch wissen es nur wir beide.... und nun auch Du."
Mahala kam mit frisch zubereitetem Tee an den Tisch zurück. Alturin lächelte sie an. "Ich freue mich für euch beide", sagte er und Mahala lächelte ihn ein wenig verlegen an.
Nachdem alle darüber berichtet hatten was sie in der letzten Zeit alles erlebt hatten, legte Mikkel seine Hand auf die von Alturin. Er sah ihn an und sagte: "Was ist der Grund Deines Kommens, Alturin? Du hast noch nicht alles erzählt."
Alturin wunderte sich über die Intuition des jungen Mikkel und sagte: "Du hast Dich verändert Mikkel und bist zu Deinem Vorteil noch spüriger geworden."
"Ich habe in der letzten Zeit sehr viel gelernt von Mahala," antwortete Mikkel.
Alturin begann damit Mikkel zu berichten, was er bei der weisen alten Frau erfahren hatte und erzählte ihm von Hatoras Plan, nach Shergola zu reisen. Er eröffnete ihm, dass eventuell die Möglichkeit bestünde, seine Eltern dort zu finden, wobei er nicht versprechn könnte, ob sie tatsächlich noch lebten. Er unterbreitete ihm Hatoras Plan und dass er unbedingt Teil dieses Planes sein musste. Wenn seine Eltern noch lebten und sie beide befreien konnten, hätten sie eine gute Chance, die drohenden Gefahren abzuwenden. Alturin bemerkte sofort die Aufgewühltheit von Mikkel, als er von seinen Eltern berichtete.
Er willigte sogleich ein mitzukommen, räumte aber ein: "Mahala wird mitkommen! Sie wird uns begleiten!"
"Wir werden zuerst zur Kristallstadt zurückkehren, Mikkel. Was danach geschieht und wer von uns den Weg nach Shergola antreten wird, wirst Du Hatora überlassen müssen. Sie ist es, die am besten weiss, was zu tun ist."
Keine halbe Stunde später war alles gepackt und die Drei sassen auf ihren Pferden und machten sich auf den Weg in die Kristallstadt. Sie spornten ihre Pferde an und Alturin wunderte sich darüber, wie gut Mahala mit ihrem Pferd umging. Mikkel erzählte ihm dann, dass er ihr dabei geholfen hatte, dass Reiten zu erlernen. Kurz bevor es dämmerte, schlugen sie am Waldrand ihr Lager für die Nacht auf. Mahala begann etwas zu kochen und Alturin ging zu einem Bach, der in der Nähe floss und stieg mit hochgekrämpeltem Beinkleid und freiem Oberkörper ans Ufer, um sich zu waschen und ein wenig zu erfrischen. Als er fertig war und sich umdrehte, stand Mikkel hinter ihm. Er hatte ihn nicht kommen hören. Mikkel sah Alturin an und starrte auf seine Brust.
Das Zeichen!
Du...Du bist auch ein Lichtkrieger, Alturin? Ich wusste nicht....
Alturin ging auf Mikkel zu und legte seine Hand auf seine Schulter. "Jaaaa, auch ich bin ein Lichtkrieger, Mikkel. Doch zu der Zeit, als ich noch jung war, erhielten die Lichtkrieger ihr Zeichen auch schon einmal an anderer Stelle, als dies heute der Fall ist. Meines habe ich direkt auf meinem Solarplexus erhalten, wie Du siehst. Doch der oberste der Lichtkrieger trägt es genau auf seinem Herzen. Daran ist er zu erkennen."
"Du weisst, wer es ist?", fragte Mikkel.
"Nun ich will es einmal so ausdrücken, antwortete Alturin, ich habe eine Vermutung. So, und nun lass uns etwas essen gehen und dann sollten wir uns ausruhen. Es ist noch ein ganzes Stück des Weges, bis wir morgen am Ziel sein werden." Kurz darauf waren sie mit dem essen fertig und legten sich zur Nacht. Undra hatte es sich derweil auf einem Buchenast bequem gemacht. Sie liebte Buchen....
Mit der Morgendämmerung brachen sie auf und am späten Nachmittag sah Mahala zum ersten Mal in ihrem Leben den Zauber der Kristallstadt. Von der kleinen Anhöhe aus hatte sie einen wunderbaren Blick auf die Stadt, von der sie bisher nur aus Erzählungen wusste.
"Es ist wunderschön, nicht wahr?", sagte Alturin zu ihr.
"Ich finde keine Worte," antwortete Mahala staunend.
Sie ritten die Anhöhe hinab, passierten das Tor und kurz darauf standen sie vor dem Eingang in den Bereich, in dem Hatora, die Herrin der Kristallstadt lebte. Mahala hatte von ihr gehört, sie aber noch nie gesehen. Als sie den grossen Saal betraten, staunte Mahala über den Glanz, der sich überall verbreitete und sah sich nach allen Seiten um.
"Welche Freude, ihr seid da!", erklang ein Stimme hinter ihnen. Sie wandten sich um und Hatora kam lächelnd auf sie zu. In ihren langen Gewand schien sie über den Boden zu schweben und Mahala staunte sehr über die glanzvolle und erhabene Erscheinung der Herrin der Kristallstadt. Alturin und Mikkel verneigten sich leicht vor ihr und Mahala tat es ihnen gleich. Hatora ging auf Mikkel zu und belegte ihn mit einem scharfen Blick. Etwas verunsichert sah Mikkel sie an. Von oben herab, da er sie inzwischen an Körpergrösse deutlich überragte.
"Wie kannst Du es nur wagen?", herrschte sie ihn an.
Alle blickten sie erschrocken an. Was war geschehen?
"Mich an Körpergrösse noch zu übertreffen?", fuhr sie fort und lachte ihn an. Dann nahm sie ihn in den Arm und zuerst noch etwas zögerlich ob der scheinbaren Schelte, erwiderte Mikkel lachend ihre Umarmung.
"Was ist nur aus Dir geworden, sah sie ihn an, kaum lässt man Dich mal kurz allein, schiesst Du gleich übers Ziel hinaus." Alle lachten.
"Und wer bist Du, hübsche junge Dame?", wandte sie sich an Mahala.
"Man nennt mich Mahala.....Herrin, antwortete sie etwas zaghaft und Mikkel und ich wir sind, naja... also sozusagen. Fragend zog Hatora die Augenbrauen hoch.
"Wir haben uns gegenseitig versprochen Herrin. Mahala und ich gehören zusammen und werden gemeinsam die Ehe eingehen, wenn die Zeit reif ist."
Mahala erötete leicht und Hatora sah sie lächelnd an. Sie nahm die Hände von Mahala und blickte sie lange an. "Nun, ich denke schon.......dass ihr beide eine gute Wahl getroffen habt und ich beglückwünsche euch zu eurem Entschluss."
Erleichtert entspannte sich Mahala. Dann setzten sie sich um den Tisch und kurz darauf erklärte Hatora ihnen ihren Plan zum Eintritt nach Shergola. Hatora sprach darüber, dass es ein gefährliches Abenteuer wäre und dass sie ganz genau nach ihren Anweisungen vorgehen müssten. Als sie geendet hatte, fragte Mahala, ob sie sie morgen begleiten dürfte.
"Sie würde uns sicherlich......", Mikkel wurde von Hatora unterbrochen.
"Du wirst uns leider nicht begleiten können Mahala. Mikkel muss sich sehr auf die Sache konzentrieren und Du würdest ihn vielleicht ablenken. Das können wir nicht riskieren, dafür ist die Unternehmung zu gefährlich. Du wirst hier in der Kristallstadt bleiben. Ich habe für morgen bereits jemanden angewiesen, der Dir die Geheimnisse der Kristallkammer näher bringen wird."
"Aber sie könnte doch"......wollte Mikkel einwerfen. Doch Hatora unterbrach ihn abermals und hob ihre Hand.
"Dies ist mein letztes Wort in dieser Sache Mikkel. Es ist zu gefährlich! Mahala ist hier gut versorgt und in guten Händen und das was sie morgen erfahren wird, wird ihr auf ihrem weiteren Weg von grossem Nutzen sein, also wollen wir es nun dabei belassen."
Hatora duldete keinen weiteren Widerspruch und so fügten sich Mikkel und Mahala ihren Worten.
"Nun lasst uns gemeinsam Speisen und morgen früh treten wir mit den ersten Sonnenstrahlen unsere Reise an. Alle nötigen Vorkehrungen sind bereits getroffen" Mit diesen Worten ging Hatora voraus an den reich mit Speisen gedeckten Tisch. Danach gingen alle früh zu Bett, um ausgeruht für das Abenteuer des nächsten Tages zu sein.
Früh brachen sie am Morgen auf und nach einigen Stunden teils beschwerlichen Rittes gelangten sie an ein Bergmassiv, das durch seine ungewöhnliche Form auffiel. Zwölf Zacken "krönten" das Bergmassiv. Und Zwölf waren auch sie. Hatora, Alturin und Mikkel und neun ihrer besten Lichtkrieger. Sie hatten zwei weitere Pferde mit sich geführt - für den Fall, dass sie Erfolg hatten. Einige hundert Meter vor dem Berg stiegen sie von ihren Pferden ab und liessen sie zurück. Sechs der Lichtkrieger bewachten sie. Die anderen drei Lichtkrieger begleiteten sie zum Eingang. Hatora führte sie an und blieb dann mitten vor der Felswand stehen.
"Hier soll ein Eingang sein?", fragte Mikkel verwundert.
"Nicht so ungeduldig, junger Mikkel! Manche Dinge sieht unser Auge nicht sogleich. Mit diesen Worten holte Hatora einige Kristalle aus einem Beutel hervor. Wie tags zuvor besprochen, erhielt jeder von ihnen einen davon. Einen jedoch hielt Hatora nun gegen die Felswand und nach kurzer Zeit erschien eine leuchtende Umrandung, die wie eine Tür einen Eingang bedeutete. Hatora führte den Kristall in eine sich öffnende Vertiefung und kurz darauf schwang ein Teil der Felswand nach innen und gab den Weg frei....
Den Weg nach Shergola.....
Hatora ging voraus.
"Nun handelt, wie ich euch geheissen habe und spart mit eueren Worten. Wir werden bereits erwartet.....", sagte Hatora und kurz darauf hatte wabender Nebel sie verschluckt.