Ich bin tot.
Eine normale Aussage eines jeden Teenagers, wenn er ausdrücken will, dass er K. O. ist, müde oder ihm eine Menge Ärger bevorsteht. Niemand meint es wirklich so. Ich schon. Im wörtlichen Sinne, versteht ihr?
Ich bin tot. Ermordet. Ich kann nicht mehr zurück. Mein Körper ist Würmerfutter. Mir ist das passiert, wovor alle in den Medien immer warnen:
Sei auf der Hut! Vertraue keinem Fremden! Geh nicht mit Unbekannten mit!
Daran habe ich mich immer gehalten, denn so hab‘ ich es gelernt. Doch warum warnen alle nur vor den Menschen, die einem fremd sind? Warum sagt keiner »Hüte dich vor denen, die du kennst«? Denn genau so war es bei mir.
Mein Mörder, ich kannte ihn. Ich vertraute ihm, fühlte mich sicher bei ihm.
Welch fataler Irrtum.
Aber fangen wir am Anfang an, bevor ich euch alle mit der Aussage geschockt habe, einen Bericht aus meinem Grab heraus zu schreiben.
Bevor aus mir etwas wurde, was jetzt irgendwo verschimmelt, war ich ein normaler Typ.
Mein Name ist – war – Andrew, doch alle riefen mich Drew, ich war fünfzehn und liebte kaum etwas mehr als Bücher und Literatur. Ich hatte den hoffnungsvoll-naiven Wunsch, nach der Schule ein berühmter Schriftsteller zu werden und Weltbestseller zu schreiben. Während andere Fahrrad fuhren, bewältigte ich meinen Schulweg auf meinem Board, denn ich war ein begeisterter Skater und hatte dabei immer möglichst laute Metal-Musik in den Ohren.
Ich war keiner dieser Überflieger, die jeder mochte, aber ... ja, normal eben. Weder einer der Ultrahippen noch ein Außenseiter. Eigentlich war mein Leben ok.
Meine Eltern, Dharma und Seth, waren Spießer, aber denkt das nicht jedes Kind von seinen Erzeugern? Ich würde alles geben, um ihnen ein letztes Mal sagen zu können, dass ich sie liebe. Doch das geht nicht. Und auch wenn ich stets ein Auge auf sie habe, verständlich machen kann ich mich nicht.
Denn ich bin ja schließlich tot!
Ihr wollt sicher wissen, wie das geschah, oder? Mein Mörder ist der – nach wie vor – beste Freund meines Vaters!
Er heißt Joshua und war in allem ungefähr zehnmal so cool wie mein Dad. Zumindest dachte ich das damals. Denn während mein Vater Tag für Tag im Büro saß und Akten wälzte, arbeitete Josh als Fitnesstrainer und ehrenamtlicher Betreuer im örtlichen Jugendzentrum, er fotografierte in seiner Freizeit, ging zum Tauchen und stand auf Extreme wie Fallschirmspringen und Bungee Jumping. Er war eine coole Sau, mal ganz abgesehen davon, dass er auch dreimal besser aussah als mein Dad, der mit seinen Mitte dreißig allmählich etwas schütter wurde. Doch trotz dieser Gegensätze verstanden die beiden sich.
Ich habe mir damals gewünscht, dass er, also Josh, mein Vater wäre, weil ich in der naiven Überzeugung gewesen war, dass mein Leben dann cooler wäre.
Ich war dumm.
Aber ich fand es toll, dass er mich mochte, das machte mich stolz. Wann immer er meinen Dad und uns besuchte, brachte er mir Sachen mit. Entweder eine gute Geschichtensammlung von Poe oder etwas von Oscar Wilde oder auch mal eine gebrannte CD mit Metal-Tracks, die ich noch nicht kannte.
Ich konnte mich stundenlang mit ihm streiten, warum Twilight niemals auch nur annähernd so gut sein würde wie Harry Potter und hatte in jeder Sekunde das Gefühl, dass er mich ernst nahm.
Ich habe ihm ehrlich vertraut. Es fühlte sich für mich immer so an, als hätte ich einen großen Bruder. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass er fähig sein würde, so etwas zu tun ...
Dass er eventuell anders tickte, bemerkte ich das erste Mal, als meine Eltern auf einer Geschäftsreise waren und Josh in der Zeit auf mich und unser Haus achtgab.
Damals war ich vierzehn und fand es ungeheuer cool, dass er da war. Ich freute mich, die ganze Nacht mit ihm zu zocken, was wir dann auch taten. Ich versuchte zu ignorieren, dass er mich dabei immer wieder wie zufällig berührte.
Es ging mich nichts an, wenn er schwul gewesen wäre und so tat ich es ab, denn er kam mir ja nicht zu nahe. Heute weiß ich, dass dies der Anfang vom Ende meines Lebens gewesen war. Denn dass ich ihn, seine Annäherungen, nicht beachtet hatte, wurde zu der fixen Idee in seinem Kopf, die alles in Gang gebracht hatte.
Solche Vorfälle wiederholten sich danach sehr lange nicht mehr. Er vermied meine Nähe, mied das Gespräch mit mir und nahm immer Reißaus, sobald er und ich mal allein im Zimmer gewesen waren. Ich verstand das damals nicht, aber heute schon.
Es waren die letzten zaghaften Versuche, sich unter Kontrolle zu halten, Abstand zu wahren, wie es sich gehörte für einen erwachsenen Mann im Bezug auf einen minderjährigen Jungen, der zu allem Überfluss auch noch der Sohn seines besten Freundes war.
Damals hatten mein Dad und ich eine schwierige Phase. Er bestand darauf, dass ich nach der High School sofort auf ein College ging, während ich eine Auszeit wollte, um zu reisen und etwas von der Welt zu sehen. Mein Vater fuhr die Spießer-Schiene, ich wollte mit dem Kopf durch die Wand.
Josh bemerkte unseren Zwist. Sicher tat er das. Und während er Dad Tipps im Umgang mit störrischen Jugendlichen gab, bot er mir seine Unterstützung ebenso an.
»Wenn du jemals eine Auszeit brauchst von deinen Eltern ... du weißt, wo ich wohne. Komm einfach vorbei, das geht schon in Ordnung.« Dabei hatte er gelächelt, ganz normal. Das sonderbare Funkeln in seinen Augen war mir damals nicht aufgefallen.
Wie sehr wünschte ich, ich hätte niemals auf dieses Angebot zurückgegriffen.
Denn es dauerte nicht lange, dass das Pulverfass Vater-Sohn-Beziehung bei uns eskalierte. Jedes Wort hat sich unweigerlich in mein Gedächtnis gebrannt und ich kann es einfach nicht vergessen.
»Keine Widerrede, Andrew! Ich bezahle dir keinen Trip quer durch die USA von dem Geld, das ich für dein Studium angespart habe! Entweder du gehst nach der High School aufs College oder du fliegst raus und kannst sehen, wie du zurecht kommst. Wie stellst du dir das vor? Dass ich einen Geldscheißer besitze, der die Dollars einfach so ausspuckt? Deine Mutter und ich haben uns jeden Cent abgespart, damit du studieren kannst.« Dad hatte vor Wut gezittert.
Aber ich war nicht weniger wütend gewesen damals. Ich fühlte mich missverstanden und genervt, dass mein Vater mich zwingen wollte, meine besten Jahre gefangen irgendwo an einem Ort zu verbringen, anstatt mir die Möglichkeit zu geben, meine Flügel auszustrecken, Erfahrungen zu sammeln und erwachsen zu werden auf die Art, die mir vorschwebte.
Heute würde ich seine Variante mit Kusshand nehmen, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte. Aber damals dachte ich einfach nicht nach.
»Ich habe keinen Bock darauf, hier in diesem Kaff zu versauern und ein spießiger alter Langweiler wie du zu werden, der keine Inspiration und keine Perspektive mehr besitzt. Du lebst dein Leben wie ein Uhrwerk, jeden Tag nach den gleichen stumpfsinnigen Ritualen. Genauso gut könntest du auch tot sein, so aufregend ist das Ganze hier!«
Das waren meine Worte und es waren die letzten, die ich zu ihm sprach, bevor ich ermordet wurde. Ich kann niemals wieder zurücknehmen, dass ich ihn so sehr beleidigt habe. Ich kann ihm niemals sagen, dass er trotz allem der einzige Mann war, zu dem ich jemals wirklich aufgesehen hatte, der mein Vorbild war, seit ich ein kleiner Junge war. All das würde er niemals aus meinem Mund hören und das war das Schlimmste an meinem Tod.
Ohne noch etwas mehr zu sagen, riss ich die Haustür auf, stürmte hinaus und lief einfach weg. Ich wusste nicht wohin. Zu Josh, war mein erster Gedanke, bis mir einfiel, wie komisch er manchmal war, wenn wir alleine waren. Ich wollte ihm keine Schwierigkeiten machen, weil ich wirklich das Gefühl hatte, er hätte sich vielleicht in mich verknallt. Ich wusste nichts von seinen Vorlieben, doch ich hatte ihn gleichzeitig auch nie mit einer Frau gesehen.
So lief ich einfach durch die Stadt, bis es anfing zu regnen und Joshua schließlich mich fand.
»Hey, Drew. Was machst du hier draußen im Regen? Komm, steig ein, ich fahr dich nach Hause.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich will nicht heim.«
»Hast dich mit deinem Dad gestritten, hm?« Ich nickte.
»Steig ein, du musst was anderes anziehen, sonst holst du dir den Tod.«
Pure Ironie, dass es nicht der Regen war, der mich tötete, sondern die Entscheidung, in das Auto dieses Mannes zu steigen.
Er fuhr uns zu sich, gab mir trockene Sachen, ein Handtuch und schickte mich ins Bad zum Duschen, während er uns eine Pizza bestellen wollte. Ohne Argwohn ließ ich das geschehen.
Warum hätte ich ihm auch misstrauen sollen? Josh kannte mich, da trug ich noch Windeln. Ich betrachtete ihn immer als einen verdammt guten Kumpel, trotz der Tatsache, dass er zwanzig Jahre älter war als ich.
Während wir aßen, sahen wir uns einen alten Spielfilm im Fernsehen an und ich bemerkte immer öfter, dass Joshua mich anstarrte. Ein Gefühl, das sehr unangenehm war, kroch über mein Genick in meinen ganzen Körper, als stünde ich unter Strom und der kleinste Funke würde ausreichen, um mich zum Schreien zu bringen. Ich war angespannt bis in die Haarspitzen und verkrampfte mich, als Josh seine Hand auf mein Knie legte, mich ansah und sagte: »Du bist ein guter Junge, Drew. Warst schon immer mein Liebling.«
Ich wusste nicht, was er mir damit sagen wollte, aber ich erhob mich schlagartig, als ich merkte, dass sich sein Gesicht dem meinen näherte. War er denn jetzt verrückt geworden?
»Äh, ich bin müde. Ich gehe lieber ins Bett, wenn du nichts dagegen hast. Bis morgen, Mann.« Ich spürte, wie ich förmlich Reißaus vor ihm nahm und ich erinnere mich, dass ich zu diesem Zeitpunkt auch den Gedanken hatte, einfach meine Sachen zu nehmen und zu verschwinden. Es war mir nicht geheuer, aber ich hatte zu dem Zeitpunkt auch noch geglaubt, dass Josh nur ein bisschen verknallt und nicht durchgeknallt war. Er hatte mir sein zweites Schlafzimmer zurecht gemacht, das ich abschließen konnte. Eine Tatsache, über die ich mehr als froh war.
Ich schloss die Tür, legte mich ins Bett und zwang mich, nicht mehr daran zu denken. Hoffentlich dachte er nicht, dass er und ich vielleicht ... nein!
Ich erwachte mitten in der Nacht durch ein Geräusch und einen komischen Geruch, der sich in mein Bewusstsein schlich, und öffnete langsam die Augen. Es war dunkel und doch konnte ich sehen, dass die Zimmertür offen stand, obwohl ich sie abgeschlossen hatte. Kalter Schreck ließ mich zusammenfahren, als ich wieder etwas hörte, was nach raschelndem Stoff klang. Es kam von Josh, der vor dem Bett stand und auf mich niederstarrte. Ich konnte selbst im fahlen Mondlicht erkennen, dass er getrunken hatte, denn er wankte bedenklich.
»Drew ... ich hab ... ich hab es auf die nette Art versucht ... doch immer weist du mich ab. Das macht mich langsam ziemlich wütend, weißt du? Mich weist man nicht einfach ab!«, nuschelte er.
»Josh, du hast getrunken. Geh schlafen«, versuchte ich ihn zu beruhigen, obwohl die Angst mir die Kehle zuzuschnüren drohte.
»Schlafen, schlafen, ja ... das ist ... Drew! Du weist mich ab. Das macht niemand mit mir. Nicht mal du, verstanden?«
Mir war eiskalt vor Angst. Ich hatte Joshua noch niemals zuvor betrunken erlebt. Mein Vater hatte mir erzählt, dass er früher alkoholabhängig gewesen war und seitdem trocken. Er galt als schwer berechenbar, wenn er zu viel intus hatte. Und was hatte ich ihm schon entgegenzusetzen?
»Ich werde schlafen, ja. Aber ... aber erst habe ich noch ... ein Hühnchen zu rupfen...« Er kam um das Bett herum und kniete sich auf die Matratze.
»Josh ... lass mich bitte allein, ja?«, wisperte ich und hatte in der nächsten Sekunde eine deftige Ohrfeige kassiert, dass mir die Ohren bimmelten.
»Niemand weist mich ab, du eingebildeter kleiner Bengel, hast du mich verstanden? Es wird Zeit, dass dir mal jemand klarmacht, dass es nicht immer nach deinem hübschen Köpfchen geht. Du hast eine Lektion mehr als verdient...!«, raunte er dunkel und begann, sich meiner zu bemächtigen.
Panik, Hitze und Eiseskälte wechselten sich in meinem Kopf und meinem Körper ab und ich versuchte, mich mit aller Kraft zu wehren, nur um festzustellen, dass ich nicht den Hauch einer Chance hatte gegen einen durchtrainierten Fitnesscoach.
Als er sein Ziel erreicht hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als den unerträglichen Schmerz in mein Kissen zu schreien, welches ich im gleichen Moment mit meinen Tränen benetzte und in das ich meine Nägel hineinbohrte. Es kam mir vor, als wären Stunden vergangen, als er endlich von mir abließ und mich ausgebrannt, besudelt und verstümmelt liegen ließ.
»Verdammter ... du wirst mich verraten ... du wirst ...«, redete er anschließend mit sich selbst und wirkte kein Stück nüchterner. Grob, als wäre ich ein Stück Fleisch, zerrte er mich von dem beschmutzten Bett, warf mich über seine Schulter und trug mich aus dem Zimmer.
Warum ich mich nicht gewehrt habe, fragt ihr euch? In diesem Moment spürte oder fühlte ich gar nichts.
Bis auf den Nachhall dessen, was der Mann, dem ich vertraut hatte, mir angetan hatte. Ich war einfach zu schwach, um zu denken. Und doch bemerkte ich, dass er mich in seinen Keller trug. Eines dieser altmodischen Gewölbe, die noch einen festgetretenen Lehmfußboden hatten anstatt eines ordentlichen aus Stein.
Dort warf er mich auf eine schmutzige Armeeliege, beäugte mich einen Augenblick und verging sich erneut an mir.
Dabei sagte er Dinge wie: »Davon träume ich seit drei Jahren.« oder »Warum musstest du dich mir auch verweigern. Das hätte alles ganz anders für dich sein können. Du verstehst doch, dass ich dich bestrafen muss, ja?«
Ich sagte nichts, reagierte kaum, starrte nur an die Wand, die ich nicht erkennen konnte, da meine Augen voller Tränen waren.
Er hatte mein volles Vertrauen gehabt, behauptete, dass er mich lieben würde und tat dennoch solche schrecklichen Dinge mit mir … verursachte unmenschlichen Schmerz, körperlich wie seelisch.
Irgendwann endete dieser »Akt seiner Liebe zu mir« und er ließ mich allein zurück, nicht ohne mir vorher die Hände zu fesseln.
Er würde mich töten. Irgendwie war ich mir dessen bewusst. Allein schon aus Angst, dass ich ihn verraten könnte. Und weil es in 90 % der Fälle doch immer so war, egal, ob ein Junge oder ein Mädchen vermisst wurde.
Bei mir hatte man vermutlich noch nicht einmal bemerkt, dass ich nicht zuhause war. Wie viele Stunden konnten vergangen sein, seit weggelaufen war? Vielleicht zehn?
Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl in meiner Brust. Ein Gefühl der Rastlosigkeit, weil man irgendwo noch hunderte unerledigte Dinge zu liegen hatte und einem nun die Zeit ausging. Langsam und unter höllischen Schmerzen versuchte ich, mich auf der alten Liege aufzusetzen und sah mich um.
Der Keller war dunkel, hatte kein Fenster und meine Hände waren verschnürt wie mit einem Seemannsknoten.
Ich konnte doch nicht in einem solchen Loch sterben! Nicht gehen, ohne meinen Eltern zu sagen, dass ich sie liebe. Ich konnte nicht ... einfach so. Als die Türe wieder aufging, überkam mich Todesangst.
Der Mann, den ich am vorigen Tage noch attraktiv, nett und cool fand, verursachte in mir nur noch Furcht, als hätte sich sein ansehnliches Gesicht in eine fiese Teufelsfratze verwandelt, die mich nun mit ihrem glühenden Blick zu versengen drohte.
»Bitte, Josh ... lass mich gehen ... bitte ...« Meine Stimme versagte fast, weil mein Hals so trocken war vom Schreien.
»Aber das kann ich nicht, mein süßer, süßer Drew. Du wirst allen von uns erzählen. Das kann ich nicht zulassen. Ich möchte, dass unsere Liebe ein Geheimnis bleibt, das verstehst du doch, oder?« Seine Augen funkelten irre und ob es vom Alkohol kam oder von wirklichem Wahnsinn, kann ich heute nicht mehr sagen.
Tränen ließen mich halb erblinden und ich bettelte im wahrsten Sinne des Wortes um mein Leben. Doch alles, was Josh tat, war lachen und von unserer unsterblichen Liebe faseln, als hätte ich jede einzelne Sekunde, in der er mich vergewaltigte, genossen.
»Bitte ...«
»Ich kann nicht. Wenn ich dich gehen lasse, werde ich dich verlieren und das ... das geht nicht. Du gehörst mir! Ich wusste das schon immer. Schon als du noch klein warst, hast du alles getan, um mich scharf zu machen. Aber ich mag keine kleinen Jungs, ich musste warten. Die Jahre waren eine Qual für mich. Ich lasse dich nie wieder irgendwo hingehen!«
Dieses »Spiel« zog sich über ein paar Tage. Am zweiten schaffte er mich weg, in eine kleine Hütte in den Wäldern, die nur er kannte. Er wollte nicht, dass die Polizei auch nur die geringste Spur von mir in seinem Haus fand, sollte sie im Rahmen der Ermittlungsarbeiten auch bei ihm auftauchen. Inzwischen galt ich offiziell als vermisst.
Die kranke Vorstellung, dass wir nun ein heimliches Liebespaar wären, erfüllte ihn vollkommen und ich spürte es irgendwann fast nicht mehr, wenn er sich an mir verging. Ich resignierte, wurde stumpf und das störte ihn.
Und so begann er, Gefühle aus mir herauszukitzeln, indem er anfing, mich mit seinem Messer zu verletzen. Irgendwann versagte meine Stimme vom Betteln, Flehen und Schreien.
Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass mir so etwas jemals passieren würde. Jede Nacht träumte ich mich weg, zurück zu meinen Eltern und wünschte mir, ich könnte ihnen sagen, wo ich war und wer mir das antat.
Doch dies geschah natürlich nicht. Stattdessen wurde Josh von Tag zu Tag ungehaltener. Die Polizei hatte ihn genauestens überprüft, sein bester Freund – mein Dad – rannte nur noch mit Leichenbittermiene herum und das Thema »Vermisster Junge« versetzte noch immer die Stadt in Aufruhr.
»Lass‘ mich doch gehen. Ich werde nichts sagen. Lass‘ mich frei, verlass die Stadt und alles ist gut. Bitte ... Josh ... bitte ...«
»Halt deinen Mund, habe ich gesagt!! Du gehst nirgendwo hin. Du gehörst mir, solange du lebst!«
Ich merkte irgendwann, dass es gar nichts brachte, an sein Gewissen zu appellieren. Er war besessen von mir, ein verrückter Stalker, der keine Ruhe geben würde, bis nicht das eintrat, was er sich wünschte.
Und in seiner krankhaften Liebe tat er alles, um mich gut am Leben zu halten, damit ich nicht an Erschöpfung oder vergleichbarem starb, er wusch mich, gab mir zu essen …
Mein letzter Tag begann mit einer Schrecksekunde. Er ließ mich zeitweilig allein, in der Hütte angeleint wie ein Hund, aber so, dass ich umhergehen konnte. Ich hatte keinerlei Zeug da, womit ich die Kette hätte durchtrennen können, alles Reißen und Zerren brachte nichts, Rufe verhallten ungehört, und so verbrachte ich meine Zeit mit Warten auf das Unvermeidliche. Dass ich entweder verhungerte oder mein Peiniger zurückkam, um »Liebespaar« zu spielen.
An diesem Tag rissen mich quietschende Bremsen aus dem Schlaf und ich schreckte zusammen, als die Tür aufgeschlagen wurde, so hart, dass sie an die Wand krachte.
»Drew!«, keifte Josh schon beinahe und er sah ziemlich derangiert aus, als hätte er erneut getrunken. Ich zuckte unter seinem Gebrüll zusammen und wagte kaum, ihn anzusehen.
»W-was...?«
»Wie wäre es mit einem kleinen Spielchen? Wenn du gewinnst, kannst du gehen.« Seine verschlagenen Augen straften ihn Lügen, doch ein winziger Keim der Hoffnung war noch immer in mir. Ich strich mir mit den Händen über die verkrusteten Narben, die die Schnitte des Messers auf meiner Haut hinterlassen hatten und nickte, obwohl ich ahnte, dass es nichts Gutes bedeuten konnte. Er hockte sich vor mich und der üble Schwall von Whiskey schlug mir ins Gesicht.
»Sag mir, dass du mich liebst. So, dass ich es glauben kann.«
Perplex starrte ich ihn an. Glaubte er allen Ernstes, dass ich ihn würde lieben können? Mal abgesehen davon, dass Jungs und Männer nicht auf meiner Interessenliste standen ... wie konnte er das von mir erwarten?
Doch mein Lebenswille war stärker als meine Zweifel.
»I-ich lie-liebe dich, Joshua«, stammelte ich mit dem Blick in seine Augen. Er runzelte die Stirn und stand wieder auf.
»Ich glaube dir nicht.« Als ich etwas blitzen sah, schoss wieder die Panik in mir hoch.
»Wirklich, ich tue es. Bitte ... höre mich an, Josh. Ich ... ich hab es nur nicht bemerkt ... aber ... wirklich, ich liebe D-dich...«
»Du bist ein mieser Lügner, Drew. Das warst du schon immer.«
Das letzte, woran ich mich dann erinnere, war das Blitzen seiner blauen Augen und ein rasender, heißer, unerträglicher Schmerz in meiner Brust. Als ich meinen Blick nach unten wandte, konnte ich den Schaft eines Messers deutlich hervorstehen sehen. Ich schrie auf, als Josh die Waffe wieder aus meinem Fleisch zog und ein Schwall heißen Blutes mein Hemd, meine Hose und den Boden besudelte.
»Weißt du, Drew. Ich werde deine Worte im Gedächtnis behalten. Ebenso wie dich. Denn nun kannst du niemals jemand anderem gehören als mir. Mein ewiger Prinz. Ruhe sanft.«
Mit diesen Worten rammte er mir das Messer noch insgesamt siebzehn Mal in den Körper. Ich schätze, die letzten fünfzehn Stiche spürte ich schon nicht mehr, da ich heftig blutete und das Bewusstsein verlor.
Profiler sagen, dass eine solch hohe Anzahl von Messerstichen ein Anzeichen für Wut ist, ein Overkill, der ausdrückt, dass es etwas persönliches für den Täter ist, doch ich sehe das anders. Zumindest im Bezug auf Joshua, den ich mehr hasse, als ich jemals in meinem kurzen Leben jemanden habe hassen können. Ich glaube eher, diese Stecherei war ein letzter Akt für ihn, denn als er schließlich aufhörte, hatte ich deutlich das Gefühl, dass ihm einer abgegangen war.
Perverses Schwein.
Zu sterben war ein komisches Gefühl gewesen. Der Übertritt war nahtlos. Mit dem nächsten Messerstich war ich fort, als hätte ich nur eine Tür durchquert, an dessen Ende ein Licht ist. Und doch war ich in der Lage, alles mitanzusehen, was er mir antat. Das Blutbad, was er anrichtete. Wie er meinen Körper systematisch mit seinem Messer zerstörte. Und mich schlussendlich irgendwo in einer Grube einfach entsorgte.
Man hat mich bis heute nicht gefunden.
Meine Eltern haben bis heute keine Ahnung, wie ich gestorben bin, obwohl man die Hütte und auch das viele Blut entdeckt hatte.
Und sie wissen noch immer nicht, dass der Mann, der nach wie vor jeden Sonntag zum Essen kam und an jedem Tag, an dem die Mets spielten, mit meinem Dad zusammenhockte und Wetten abschloss, derselbe war, der ihnen das Kind genommen hatte. Josh war ein Psychopath, er verstellte sich meisterhaft.
Und ich habe hier, in meinem neuen Universum, keine Gelegenheit, es ihnen zu sagen.
Doch der Tag wird kommen, an dem er auch hier sein wird. Und dann ist meine Stunde gekommen, ihm sein Verbrechen heimzuzahlen. Denn Seelen kennen keine Zeit und sie kennen keine Vergebung!