Das Vermissen ist so verdammt feige. Es lauert, gut versteckt, abwartend, hinterlistig und wenn dann der Moment da ist, in dem wir endlich zum Loslassen bereit sind, stürzt es sich auf uns und lässt uns ohnmächtig zurück; allein mit den alten Erinnerungen, den Zweifeln am Leben und all den wiederaufgerissenen Wunden.
Wir können ohne sie leben, aber das lässt sich nur ertragen, wenn wir nicht daran zurückdenken, dass sie einst ein so wichtiger Teil des Lebens war. Damals, als die Dunkelheit noch Licht war, bevor die Freude der Traurigkeit wich. Damals, als wir noch hoffen konnten, als Alpträume nicht mehr waren, als Geister der Nacht, vollkommen machtlos im Tageslicht. Ja, damals in der guten alten Zeit, als wir noch erwartungsvoll nach vorne in die Zukunft blicken konnten. Damals, als wir uns nicht an die schwindende Vergangenheit klammerten, wohl wissend, dass sie zusammen mit unseren Erinnerungen verblassen würde, während wir nichts weiter tun konnten, als dabei zuzusehen.
Mit ihrem Tod ist die Zeit stehen geblieben und es fühlt sich an, als würde sie nicht mehr richtig weiterlaufen. Manchmal, in den helleren Momenten, scheint alles normal zu sein, aber selbst nach über einem Jahr kommt die Zeit noch immer ins Stocken, wenn das Vermissen uns heimlich von hinten anfällt.
Da ist also nicht einmal mehr die Zeit, auf die wir uns verlassen können. Wie soll man denn da irgendwie weiterleben, wenn alles, sogar die elementaren Gesetzmäßigkeiten, nicht mehr zu gelten scheinen? Wie soll ich mich in einem Leben zurechtfinden, in dem der bloße Anblick alltäglicher Gegenstände die ganze Welt für einen Augenblich stillstehen und mich die Vergangenheit nochmal erleben lässt?
Da ist das Rezept der Schokotorte, die ich nie wieder so perfekt schmecken werde. Aufgeschrieben in ihrer zittrigen Handschrift bringt es die Erinnerungen an all die vergangenen Geburtstage zurück. Nie hatte sie Geschenke haben wollen, nie hatten wir uns daran gehalten und immer war da beim Auspacken dieses wunderbare Strahlen in ihrem Gesicht gewesen.
Und dort, bei ihren Rosen tauche ich weiter in die Vergangenheit und längst verlebte Kindertage ein. So gerne wollten wir ihr einen Freude machen und ihr einen Strauß voller Blumen schenken, der schöner strahlen sollte als die Sonne und besser duften, als der vertraute, wohlige Geruch ihres Parfüms. Eine ihrer geliebten Rosen sollte unser, wie wir dachten, Kunstwerk krönen, doch in meiner kindlichen Unwissenheit vergaß ich deren Dornen und stach mich daran. Sofort war sie bei mir und nachdem sie mich getröstet hatte, half sie uns beim Blumenpflücken. Am Abend dieses Sommertages thronte auf dem Tisch in ihrem Wohnzimmer der schönste und am besten duftendste Strauß aus Gänseblümchen, den die ganze Stadt jemals gesehen hatte.
Da, ihre alte Jacke und all die Diskussionen, die mit ihr verbunden gewesen waren. Immer hatte sie uns davon überzeugen wollen, dass dieses oder jenes Kleidungsstück schöner sei als "das, was man heute so trägt", dass es uns so unglaublich gut stehe, viel moderner und angesagter sei, als wir glaubten und zum weggeben ja sowieso noch viel zu schade sei. Damals habe ich nie auch nur eine Klamotte von ihr angenommen, aber nach ihrem Tod hat das eine oder andere Stück doch noch den Weg in meinen Kleiderschrank gefunden. So auch diese eine, viel diskutierte Jacke und ich glaube, dass sie das freuen würde.
Ach, wenn es doch immer nur die schönen Erinnerungen wären, die das Vermissen bringt. Leider sind es jedoch oft, viel zu oft, auch die dunklen Stunden, die ich in meinem Kopf durchlebe. Damals, an dem Tag des Schicksalsschlages, las ich, dass nur ein gewisser Prozentsatz der Patienten nach einem Jahr noch am Leben ist. Ich hoffte, wünschte, betete, ja, ich flehte Gott an, dass sie einer von ihnen sein möge; dass wir in 365 Tagen zurückblicken und erleichtert sein würden, dass die schwerste Zeit überstanden war. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch naiv genug, um zu hoffen, dass alles irgendwie gut enden würde. Ich wusste nicht, dass ich nur einen Monat später an ihrem Grab stehen sollte.
Kurz nach der Beerdigung hat mir jemand etwas gesagt und ich glaube, dass er Recht damit hat: Das Vermissen kommt in Wellen. Heute zieht es mich unbarmherzig hinaus auf ein endloses, weites Meer, weg von der sicheren Küste. Es wirft mich hin und her und ich fürchte zu ertrinken, weil mir der Atem fehlt.