60 Jahre ist es nun her, dass die beiden geheiratet haben. 60 Jahre, fast 22 000 Tage, über 500 000 gemeinsame Stunden. Und es war eine ereignisreiche Zeit. Es passiert vieles, wenn zwei verwobene Leben ihren Lauf nehmen; glückliche und traurige Momente werden geteilt, manche von ihnen geraten schnell in Vergessenheit, andere werden für immer im Herzen getragen.
Damals, am Beginn ihrer gemeinsamen Zeit waren die beiden einfach nur zwei Jugendliche, die einander mochten und besonders er versuchte ihr zu imponieren. Stets zuvorkommend führte er sie zum Tanzen aus und spendierte ihr alle Getränke, die sie wollte, während er immer wieder ängstlich auf der Toilette nachzählte, wie viel Geld von seinem mageren Lehrlingsgehalt noch übrig war. Sie sollte sehen, dass er gut für sie sorgen würde und doch seine Bemühungen sollten zunächst erfolglos bleiben. Obwohl die beiden sich zwar gut leiden konnten und sich auch näher standen, als gewöhnliche Freunde es wohl getan hätten, fehlte doch etwas, eine Kleinigkeit nur, die niemand zu benennen wusste. Irgendetwas passte nicht, die beiden gingen ihrer Wege, doch einander vergessen haben nie, obwohl sie den Kontakt zueinander verloren. So zogen die Jahre unbemerkt vorbei, bis zu jenem bedeutsamen Tag.
Noch lange haben sie sich gefragt, ob es damals das Schicksal oder der Zufall war, der dafür gesorgt hat, dass sie einander bei einem befreundeten Pärchen wieder trafen. Er war stets davon überzeugt, dass ihre Freunde die Beiden zusammen bringen wollten, während sie diese Idee immer mit einem Lachen quittierte. Wie es nun tatsächlich dazu kam, dass ihre gemeinsame Geschichte diese Wendung nahm, haben sie nie erfahren. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo da draußen, doch sie ist unbedeutend. Was zählt ist nur, dass sie sich wieder gefunden haben und einander nie wieder losließen.
Die beiden waren zwar nie reich, aber sie hatten einander und konnten sich immer darauf verlassen, ohne Wenn und Aber geliebt zu werden. Ihre Hochzeit fand an einem warmen Sommertag statt und noch heute denkt er gerne daran zurück, wie sie damals mit einem Lachen im Gesicht und einem leuchtend weißen Kleid in einem Meer aus Blumen stand. Für eine Hochzeitsreise fehlte damals das Geld, doch sie hatten ohnehin keine Zeit, hierrüber nachzudenken. Mit harter Arbeit schufen die beiden sich mit ihren eigenen Händen ein Heim und schon bald bekamen sie ihr erstes Kind. Sie sahen ihn aufwachsen und formten einen klugen und ordentlichen jungen Mann aus ihm, der ihnen stets Quelle der Freude war. Sie waren so unglaublich glücklich darüber, dass ihre Liebe nun auch Mensch geworden war und durch ihn selbst über ihren Tod hinaus fortbestehen würde.
Auch als die Jahre vergingen, ihr Sohn schließlich auszog, um eine eigene Familie zu gründen und die beiden immer älter und gebrechlicher wurden, ließ ihre Liebe zueinander niemals auch nur ein kleines bisschen nach. Es waren all die kleinen Dinge, mit denen sie sich jeden Tag ihre innige Verbindung aufs Neue zeigten - Morgens durch einen zärtlichen Kuss geweckt werden, ein liebevoll gekochtes Mittagessen genießen, abends einen Strauß roter Rosen vorfinden und jede Nacht vor dem Einschlafen die Worte "Ich liebe dich so sehr" hören. Jeden gemeinsamen Moment haben die beiden sich versüßt und auch nicht damit aufgehört, als die Zeit sie zu Großeltern machte. Sie waren so unglaublich glücklich und stolz, dass nun auch ihr Sohn das gleiche Glück erfahren durfte, dass er ihnen vor vielen Jahren bereitet hatte und standen ihm voller Freude mit Rat und Tat zur Seite. Als damals ihr Enkelein zum ersten Mal "Oma" und "Opa" zu ihnen sagte, lagen sie sich weinend vor inniger Freude in den Armen, denn sie wussten, dass sie alles richtig gemacht hatten.
Leider brachte das Älterwerden den beiden nicht nur diese vom Glück durchströmten Momente. Ihre Körper wurden älter und schwächer und sie mussten lernen sich damit abzufinden, dass auch ihre Liebe sie nicht unsterblich machte; dass auch ihnen das Unausweichliche irgendwann bevorstehen würde. So verbrachte sie zahllose Mittage betend und flehend an seinem Krankenbett, während er Jahre später das gleiche für sie tat. Der Gedanke, dass ihre Einheit irgendwann zerrissen werden würde, dass sie den weiteren Weg ihres Sohnes und ihrer Enkel nicht ewig begleiten und so vieles zurücklassen würden, ließ die beiden manchmal fast verzweifeln, doch immer gelang es ihnen einander von diesen dunklen Gedanken abzubringen. Das Ende würde irgendwann kommen, doch nicht heute und wahrscheinlich auch nicht morgen und so war noch Zeit da, die sie Seite an Seite verbringen konnten.
Es war eine schöne Zeit und auch wenn sie nicht immer einfach gewesen war, waren so viele schöne Erinnerungen geblieben, seit dem Tag ihrer Hochzeit vor 60 Jahren. "Wie schade", dachte er, "dass sie nicht mehr hier ist, um diesen Tag zu erleben" und während er einen Strauß roter Rosen auf ihrem Grab legte, floss eine stumme Träne über seine Wange und tropfte auf die feuchte Erde.