Von Dokarestmus' Nachricht beunruhigt, beeilte Takjin sich, eine Nachricht mit einer genauen Beschreibung seiner Umgebung zu verfassen. Nachdem er die Botschaft abgeschickt hatte, wartete er ungeduldig auf eine Antwort. Schatten krochen die Höhlenwände entlang und Sterne erschienen in der großen Öffnung über Takjin, während er sich vorzustellen versuchte, wie Soregrat war. Eine Insel sollte es sein, doch war es ein zerklüftetes Eiland? Ein sonniger Streifen hellen Sandes? Oder vielleicht eine überwucherte Insel der mächtigen Bäume und uralten Geheimnisse? Wie groß war Soregrat, und mochte es wohl Häuser haben oder Burgen, Viehställe, Heuschober, Wachtürme, wie Takjin sie aus Birkengrund und den Wäldern kannte?
Ihm wurde klar, dass er nur wenig über die Insel wusste, doch wie immer sie aussehen würde, sie würde sicherlich ein Paradies sein: Seine neue Heimat.
Schließlich, mitten in der Nacht, meldete sich die Kiste. Takjin, noch erholt von dem langen Schlaf der Heilung, hatte nicht geruht und öffnete die Kiste sofort. Dokarestmus' Antwort allerdings war kürzer und düsterer als erwartet.
Takjin, mein Freund. Es gibt hier einige Entwicklungen, die meiner Aufmerksamkeit bedürfen, deswegen werde ich dir nur selten antworten können. Du musst allerdings die Höhle verlassen, am besten gleich, wenn du diese Nachricht liest. Nimm die Kiste mit, denn sie ist unsere einzige Verbindung. Stelle sie jeden Abend auf, auf festem, trockenem Grund, und ich werde versuchen, dich zu erreichen. Nun aber nimm, was du tragen kannst, und wende dich nach Osten, bis du große Berge erblickst. Wenn du dort bist und noch keine Antwort von mir hast, so musst du unbedingt warten, bis ich dir wieder schreibe!
Es fehlte auch die vertraute, schnörkelige Unterschrift des Mannes und Takjin fand die Schatten in der Höhle mit einem Mal undurchdringlich. Welche Entwicklungen waren es, von denen Dokarestmus schrieb? Sorge machte sich in Takjin breit, während er eilig seine Sachen zusammensuchte. Rüstung und Kleidung legte er an, das Schwert gürtete er um seine Hüfte. Alles weitere verstaute er in der Kiste, dann legte er seine Arme um das viereckige Holzding und hob sie hoch. Die Kiste war leichter, als er angenommen hatte, doch trotzdem sperrig. Und obwohl sie nicht schwer zu tragen war, was es doch schwierig. Takjin schaffte es, sie aus dem Höhleneingang zu kriegen, dann lud er sie auf seinen Rücken und straffte sich mit einem tiefen Atemzug. Der Sumpf lag vor ihm, dahinter die Wälder, und damit eine unabsehbar lange und gefahrvolle Reise, wie Dokarestmus gewarnt hatte. Mit schnellen Schritten ging Takjin los, doch die Angst blieb bei ihm wie ein Schatten und bei jedem Geräusch fuhr er zusammen.
Die letzten Tage hatten ihn wachsamer und mutiger gemacht, außerdem erhob sich gerade die Sonne am Himmel, zauberte rote und goldene Linien in die Wolken. Im Wald ging Takjin leise, wie er es unter dem Einfluss des unsichtbar machenden Tranks gelernt hatte, und auf diese Weise entging er den ganzen Tag hindurch jedem Monster. Dann aber brach die Nacht herein. Takjin hatte keinen Unterschlupf. Getreu nach Dokarestmus' Anweisung stellte er die Kiste auf ein trockenes, flaches Erdstück, dann setzte er sich mit dem Rücken an einen Baum und legte das Schwert quer über die Knie. Er schloss die Augen, doch sein Geist blieb wach und er lauschte die ganze Nacht hindurch auf jedes Geräusch.
Zweimal näherten sich Schritte dem Lager, doch Takjin verbarg sich vor den Monstern im Gebüsch und sie kamen nicht so nah, dass sie ihn hätten wittern können. Doch auch die Kiste schwieg. Am nächsten Morgen, als das Licht der Sonne die Wege sicherer machte, war Takjin müde und ratlos, wusste er doch, dass er das Licht nutzen sollte, um zu wandern, doch auch, dass der Tag die einzige Gelegenheit war, ein wenig Schlaf zu finden. Schließlich entschied er sich, auf einer unbequemen Wurzel zu rasten. Er träumte wenige Stunden, bis ihn das harte Holz im Rücken weckte, und fühlte sich zerschlagener als zuvor. Während er weiter ging, die Kiste auf dem Rücken, fragte er sich, wie er die nächste Nacht überstehen sollte, und dann die Nacht darauf. Unmöglich und grausam erschien ihm sein Weg jetzt und sein Mut sank, doch er ging immer weiter, getrieben von der Hoffnung auf Soregrat, die geheimnisvolle Insel, wo er endlich eine Heimat finden könnte.
Er wanderte, bis die Sterne erneut über den Himmel zogen. Dann hielt er an, stellte die Kiste ab und wartete, wie auch die Nacht zuvor. Doch diesmal war ihm das Glück weniger hold.
Mitten in der Finsternis hörte Takjin plötzlich ein Schnüffeln, dann ein gedämpftes Knurren. Als der Junge lautlos auf die Beine zu kommen versuchte, leuchteten zwei Punkte im Dunkeln auf, die gelben Augen eines großen Wolfes.
Takjin schloss die Finger fest um den Griff des Schwertes und richtete die hölzerne Spitze auf den Angreifer, vor Angst zitternd. Er hörte, wie der Wolf näher kam und unheilvoll knurrte, ein Grollen wie der Donner. Takjin biss die Zähne zusammen und schloss beide Hände um den Schwertgriff. Er rief sich in Erinnerung, wie er Krokodile und Warane, Hexen und andere Monster gejagt hatte, während er unsichtbar war. So groß war der Unterschied doch nicht, oder?
Der Wolf sprang und Takjin hieb mit einem verzweifelten, ängstlichen Schrei in die Luft, denn er konnte in dem schwachen Licht kaum sehen. Doch sein Schwert traf auf Widerstand und schleuderte den Wolf fort, der auf den Boden aufprallte und knurrend auf die Pfoten kam.
Takjin drehte blind den Kopf hin und her. Er hörte die schnellen Schritte, mit denen der Wolf auf ihn zugerannt kam. Diesmal waren die Rollen von Sichtbarem und Unsichtbarem vertauscht, doch Takjin, der selbst als Unsichtbarer umgegangen war, wusste genau, wodurch man sich verraten konnte. Und so schwang er sein Schwert in einem wilden Kreis, als das Geräusch der Pfoten stoppte, und wieder traf er den Wolf, der jaulte und dann die Flucht ergriff.
Takjin sackte keuchend zusammen. Schmerzen fuhren durch seine Arme. Denn er hatte sie ganz durchgestreckt, als er den Wolf seitlich getroffen hatte, und der Schlag hatte ihm den Ellbogen gezerrt. Vorsichtig bewegte Takjin den Arm. Zwar schien nichts gebrochen, doch die Schmerzen sagten ihm, dass er schleunigst lernen musste, richtig zu kämpfen. Das Leben in den Wäldern war kein Spiel unter Dorfjungen mehr.
In dieser Nacht überwältigte ihn schließlich die Müdigkeit. Der erste Tau des Morgens weckte ihn unversehrt, nur war der Schmerz in seinem Ellbogen stärker geworden.
Takjin stand auf und aß etwas von seinen Vorräten, wobei er feststellte, dass Dokarestmus noch keine neue Nachricht geschickt hatte. Also lud Takjin die Kiste auf seinen Rücken und ging weiter, quer durch den Wald und immer nach Osten, wie der Alte es ihm gesagt hatte. Irgendwann traf er auf einen Weg, in dem er die große Waldstraße erkannte. Takjin überquerte die Straße, denn sie verlief in der falschen Richtung, dennoch war es ein seltsames Gefühl, an die Zivilisation und seine Vergangenheit erinnert zu werden.
Gegen Mittag sah Takjin die Berge. Majestätisch und blau erhoben ihre schneegekrönten Spitzen sich weit über dem Wald, der sich wie grünes Moos über ihre Hänge und in die Täler ergoss. Die Sonne glitzerte auf dem Schnee, hier und da herrschten aber tiefe Schatten vor, die sich nicht aus den Schluchten vertreiben lassen wollten.
Wenn dies wirklich der Weg war, den Dokarestmus vorgesehen hatte, so würden die Berge für Takjin umso gefährlicher werden. Er war also froh, dass er die Kiste abstellen und warten konnte. Die Sonne wanderte gemächlich über den Himmel und die magische Kiste schwieg. Takjin aß etwas und begann dann aus Langeweile, mit seinem Schwert gegen die Bäume zu schlagen, bis er schließlich anfing, sich Gegner und Kämpfe auszudenken und bis zur Erschöpfung durch den Wald tollte, im Kampf mit nie endenden Horden unsichtbarer Feinde.
Als die Dämmerung kam, war Takjin immerhin klug genug gewesen, sich einen Unterschlupf aus Zweigen und Blättern zu bauen, der ihn vor Regen und auch vor manchem Angriff schützen würde. Danach lehnte er sich mit dem Rücken gegen Dokarestmus' Kiste und hielt verbissen an der Hoffnung fest, dass sich der Fremde noch melden würde. Doch Zweifel krochen nun herauf, im gleichen Maße, wie sich die Dämmerung über das Land senkte. Hatte Dokarestmus ihn im Stich gelassen? Wie konnte Takjin jemandem vertrauen, den er nicht kannte, nicht einmal gesehen hatte?
Und – viel wichtiger – was sollte er tun, falls Dokarestmus nicht mehr von sich hören ließe?