Der nächste Morgen war friedlicher und schöner, als Takjin jemals einen Tagesbeginn erlebt hatte, als wolle die Welt die unheimlichen Schrecken der letzten Nacht wieder gut machen.
Zarte Sonnenstrahlen glitzerten auf den regennassen Blättern, tausende winzige Regenbögen brachen sich in perlendem Tau. Vögel sangen und der dichte, kalte Nebel war golden eingefärbt von Sonnenstrahlen, während der Himmel rosa und hellblau war. Das Grün der Bäume war gleichzeitig satt und zurückhaltend, verschwommen im Nebel. Als Takjin aus seiner Höhle trat, fühlte er sich in einen Traum versetzt. Er blinzelte gegen den strahlenden Sonnenschein.
Doch Takjin ließ sich nicht täuschen. Die Farben und die Friedlichkeit mochten auf ihn eindringen, so viel sie wollten – in der dunkelsten Stunde der Nacht hatte er seinen Entschluss gefasst und jetzt, im Sonnenschein, würde er nicht schwanken.
Nachdem er sich, so gut es ging, in einem kleinen Teich gewaschen hatte, trocknete er sich und zog seine Krokodilrüstung an. Er band das Schwert auf die eine Seite seiner Hüfte und den Unsichtbarkeitstrank auf die andere, dann schulterte er die magische Kiste.
Und er machte sich auf dem Weg, doch er wandte den Bergen den Rücken zu. Dokarestmus hatte sich nicht gemeldet. Wenn er Takjin nicht im Stich gelassen hatte, so war er vermutlich mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Takjin dagegen wollte nicht länger hilflos in der Wildnis ausharren.
Er schlug den Weg nach Birkengrund ein.
Schon vor seiner Flucht hatte Takjin ab und zu längere Wanderungen durch den Wald um Birkengrund herum gemacht. Wie alle Jungen hatte er dort das Abenteuer gesucht, während die Erwachsenen wussten, dass die Umgebung des Dorfes dank der Jäger absolut sicher war. In dieser Zeit hatte Takjin bereits gelernt, sich an dem Stand der Sonne zu orientieren, um den Weg zu finden, wenn er zu weit gelaufen war. Er hatte gelernt, auf die Form von Baumstämmen zu achten, auf ihre Zeichnung, auf Moose und Büschel von Blumen oder Sträuchern, er hatte gelernt, sich an sie zu erinnern, um immer den Weg zurück zu finden.
Obwohl er weit gelaufen war, fand er den Weg, der ihn zurück führte. Er folgte dem Weg einen ganzen Tag, und immer erkannte er kleine Hügel wieder, Teiche und Seen, Bäche, große Findlinge, selbst Wildwechsel und Lichtungen, wo Hirsche grasten.
Als sich der Abend über das Land senkte, war auch jeder Zauber des Morgens vergessen. Takjin war müde und hungrig, seine Füße und die zahlreichen kleinen Verletzungen der letzten Tage schmerzten immer stärker.
Er setzte die Kiste ab und öffnete sie. Auf den ersten Blick sah er, dass auch diesmal keine neue Botschaft von Dokarestmus angekommen war – doch das hätte Takjin auch hören müssen. Er entnahm der Kiste ein wenig Brot und einen Apfel und setzte sich dann darauf. Während er aß, beobachtete er die Dunkelheit, die langsam über den Baumwipfeln aufzog.
Bald veränderte sich der Wald. Baumstämme und Äste wurden zu düsteren, unheimlichen Gestalten, die ihre Klauen nach Takjin ausstreckten. Überall um ihn herum erklang das Rascheln lauter Schritte, als die Bewohner der Nacht aus ihren Höhlen krochen und auf die Jagd gingen.
Takjin nahm das Schwert in die Hand und stieg auf die Kiste. Sein Herz klopfte laut, aber nicht besonders schnell. Mit Augen, die sich immer besser an die Dunkelheit gewöhnten, betrachtete er seine Umgebung.
Ein Zischen ließ ihn herumwirbeln und er sah rote Punkte, die zwischen zwei Stämmen hervorblickten. Dann erklang ein metallisches Klicken von Chitin. Eine große Spinne mit acht rot glühenden Augen kroch auf Takjin zu. Er konnte ihr Zischen hören und sie sogar riechen, ein Geruch nach Fäulnis und Gift.
Die Spinne kroch behände vorwärts und sprang Takjin an, doch der hieb mit dem Schwert nach ihr.
Die Spinne stieß einen leisen Schrei aus und stürzte auf den Boden, drei ihrer Augen waren erloschen. Sie rappelte sich wieder auf und sprang erneut. Takjin stemmte die Füße fest in die Kiste und warf sich nach vorne in den Hieb.
Die Spinne starb mit einem leisen, hoffnungslosen Keuchen. Takjin blieb auf der Kiste stehen und sah sich wachsam um.
Ob es an dem Gestank der toten Spinne lag oder an einem anderen, unheimlicheren Grund, jedenfalls erlebte Takjin in dieser Nacht keinen Kampf mehr. Die Kreaturen hielten sich fern von ihm, der Wald wirkte wie ausgestorben.
Als die Sonne wieder aufging, stieg er müde von der Kiste und beugte sich über den Spinnenkadaver. Das Chitin konnte er nicht mehr verwenden, doch er konnte einige Spinnfäden sammeln und daraus Seile knüpfen, die er nutzte, um sich die Kiste auf den Rücken zu binden. So hatte er während seiner langen Wanderung endlich die Hände frei.
Dann zog er weiter. Inzwischen fühlte er sich mehr und mehr wie ein kampferprobter Jäger in der Wildnis.
Gegen Mittag traf er jedoch auf die große Waldstraße, die das baldige Ende der Wildnis bedeutete. Takjin überquerte die Straße auch diesmal und schlug sich auf der anderen Seite weiter in das Gebüsch, bis er sich nach einigen Stunden zur Seite wandte. Er hatte die Gefahr durch die Soldaten nicht vergessen, die ihm auf der Straß jederzeit begegnen konnten. Also folgte er den ganzen Tag über dem Lauf der Sonne, als wären ihre Strahlen ein Pfad, über den er laufen konnte.
Bald erkannte er Bäume, auf die er in seiner Kindheit geklettert war. Es wurden mehr und mehr, bis er sich schwindelig fühlte, als ob er durch eine Erinnerung liefe. Wie lange war es her, dass er hier gewesen war? Es konnten nur zwei, drei Wochen vergangen sein, doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Und als es Abend wurde, trug ihm der Wind einen vertrauten Geruch zu: Das war Maia, die in ihrer Hütte ihren berühmten Eintopf kochte, diesen Geruch hatte man im ganzen Dorf riechen können. Der Eintopf war großartig, doch wurde er nur zur besonderen Zeiten gemacht. Takjin rechnete die Tage nach und fragte sich, ob er irgendeinen Feiertag verpasst hatte – doch das konnte nicht sein.
Langsam näherte er sich dem Dorf. Welchen anderen Grund zur Freude konnte es geben? Einen Moment stellte er sich vor, dass das Dorf von seiner Rückkehr wusste und der Eintopf zu seinen Ehren gemacht wurde. Aber das war eine kindische Vorstellung.
Vielleicht war der Krieg endlich gewonnen – unwahrscheinlich. Vielleicht hatte es ein Kind gegeben – obwohl, es war niemand im Dorf schwanger gewesen. Oder eine Hochzeit – doch von wem schon? Womöglich war es auch eine Beerdigung.
Takjin setzte die Kiste in einer Erdhöhle ab und versteckte sie unter lockerem Laub. Dann trat er aus dem Wald nach draußen.
Die Dorfgemeinschaft war in der großen Halle versammelt, überall sonst herrschten wachsende Dunkelheit und wachsendes Schweigen. Gelächter drang nach draußen – also konnte auch keine Beerdigung der Grund für die Versammlung sein.
Takjin näherte sich der Halle langsam, mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Warum kehrte er zurück? Hatte er seine Lektion nicht gelernt?
Doch er kam nicht als Bittsteller. Um sich zu beruhigen, legte er die Hand auf den Schwertgriff. Nie wieder würde er andere über sich bestimmen lassen. Doch was er wissen musste, war das Warum: Warum hatten die Dorfbewohner ihn einfach im Stich gelassen? Takjin konnte nicht gehen, ohne seine Antwort darauf zu haben. Deswegen musste er sie zur Rede stellen.
Er öffnete die Doppeltür zur großen Halle mit beiden Händen und trat ein.
Lärm und Lachen verstummte auf einen Schlag. Ein Windstoß folgte Takjin ins Innere und ließ die Kerzen und Fackeln flackern. Einige Kinder schrien auf.
Takjin ließ die Türen zufallen und bleib verdutzt stehen – mit einer derartigen Reaktion hatte er nicht gerechnet.
Schweigend starrten die Menschen des Dorfes ihn an. Takjin las Angst auf den vertrauten Gesichtern, die sich langsam zu Erkennen und Erleichterung wandelte.
„Takjin! Du bist es!“, rief Maia und kam auf ihn zu. „Mein Junge! Du bist zurückgekehrt!“
„Ich bin nicht dein Junge“, sagte Takjin unwirsch und wehrte ihren Versuch ab, ihn zu umarmen.
Maia wich zurück und ihr Gesicht verzerrte sich. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Es tut mir so leid, Takjin … ich wollte es nicht, niemand wollte dich wirklich in den Krieg schicken. Du kennst uns doch! Aber die Soldaten haben gedroht, das Dorf abzubrennen, wenn wir nicht alle kampffähigen Jungen schicken. Wir haben alle geschickt, also warum nicht auch dich? Immerhin …“
„Immerhin bin ich ja nur ein Niemandskind“, knurrte Takjin. „Ich verstehe.“
„Nein. Du verstehst nicht, wie froh wir waren, dass du entkommen konntest!“, sagte Maia. „Aber du kannst nicht bleiben! Wenn die Soldaten dich hier finden … egal, komm, es gibt Eintopf.“
Takjin ließ sich zu einem Tisch führen. Ein paar Menschen grüßten ihn, andere starrten ihn nur an, mit einer Mischung aus Neugier und Bewunderung. Er fühlte sich fremd, fremder als je zuvor. Als man einen Teller mit Eintopf vor ihn stellte, aß er, um ihren Blicken ausweichen zu können. Und auch, weil er wirklich hungrig war.
Langsam setzten die Gespräche wieder ein. Dara, die Frau des Schmiedes, kam zu ihm und umarmte ihn. „Ich bin froh, dass du lebst“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Takjin sagte nichts.
Schließlich setzte sich Chank, der Bürgermeister, ihm gegenüber. „Wo hast du gesteckt, Junge?“
Takjin sah auf, sagte aber immer noch nichts.
Chank seufzte. „Du hast ja Recht. Es war falsch von uns. Aber was können wir gegen die Soldaten tun? Takjin, lass uns das bitte für den Moment vergessen. Wir haben größere Probleme.“
Takjin horchte auf und legte den Löffel ab. „Ihr habt Angst“, sagte er. Seine Stimme schwankte plötzlich, obwohl Takjin sich nicht fürchtete.
Chank nickte. „Gestern haben wir unzählige Wölfe gesehen, die aus den Wäldern geflohen sind. Aber schon länger gab es jeden Tag weniger Tiere im Wald – und jede Nacht weniger Monster. Es wirkt, als würden sie vor etwas fliehen.“
Takjin sah den dicklichen Bürgermeister an. „Ich habe sie auch gesehen.“
Chank nickte. „Deswegen haben wir solche Angst. Es scheint, dass das Ende der Welt kommt.“
Takjin sah sich in der Halle um. „Und … warum der Eintopf?“
Chank lächelte traurig. „Wenn dies unsere letzten Tage sind, wollen wir sie nutzen.“