Takjin aß im Haus des Bürgermeisters und später nahm Dara ihn bei der Hand und zerrte ihn förmlich zur Schmiede. Auf eine herzzerreißend mütterliche Art bestand sie darauf, dass Takjin nicht in seine alte Hütte zurückkehrte, sondern die Nacht auf einer Bank neben dem Ofen verbrachte. Die Steinbank war vielleicht hart, wurde aber während der ganzen Nacht von der noch glühenden Esse warm gehalten.
Als Takjin sich unter einer Decke zusammenrollte, fühlte er sich im ersten Moment in seine Kindheit zurückversetzt, wo er so manche Nacht hier verbracht hatte.
Dann aber holte die Realität ihn ein. Hatte er früher bequem ausgestreckt auf der Bank liegen können, so musste er jetzt die Knie anziehen und seine Arme hingen weit über den Rand der Bank hinaus in die kalte Luft der Hütte. Die Decke, die ihm früher riesig erschienen war, war nun entweder an den Füßen oder an der Schulter zu kurz.
Am nächsten Morgen erwachte Takjin spät, weil es in der Schmiede dunkel blieb, auch nachdem die Sonne aufgegangen war. Dara weckte ihn schließlich und führte ihn ins Haus, wo der Tisch bereits gedeckt war. Takjin aß mit der Schmiedfrau und ihrem Mann Torjen, doch er fühlte sich wie ein Eindringling und wusste weder, was er sagen, noch, wo er hinsehen sollte. Nach dem Essen bedankte er sich höflich und suchte schnurstracks den Bürgermeister auf – denn während der Nacht, als er vor lauter widerstreitenden Gefühlen nicht hatte einschlafen können, war ihm eine Idee gekommen.
Chank wirkte noch verschlafen, als Takjin klopfte, doch beklagte sich der Bürgermeister mit keinem Wort. Er bat Takjin herein und führte ihn in die Bibliothek, ein kleiner, schmaler Raum voller Bücher, wo es einen Tisch und mehrere Stühle gab, um sich in Ruhe zu unterhalten.
„Ich habe nachgedacht“, eröffnete Takjin das Gespräch, nachdem Chank sich einen heißen Tee geholt und Takjin ein entsprechendes Angebot abgelehnt hatte. „Ich muss wissen, wann genau diese seltsame Geschichte anfing – mit dem Wolfsrudel und allem.“
Chank lehnte sich zurück und rieb sich das Kinn. „Das große Wolfsrudel kam gestern in der Frühe. Es waren vielleicht zwei Stunden nach Sonnenaufgang. Vielleicht etwas mehr. Viele haben sie im frühen Morgennebel gesehen und für eine Illusion gehalten. Es war erst einige Stunden später, dass wir begonnen haben, darüber zu reden.“
Takjin rechnete nach. „Ich habe sie in der Nacht vor zwei Tagen gesehen. Das war zwei Tagesreisen von hier entfernt. Wenn es wirklich dasselbe Rudel war, dann müssen sie sehr schnell gelaufen sein. Ohne Pause, als ...“
„Als würden sie fliehen“, sagte Chank. „Das ist es jedenfalls, was ich glaube. Diese Tiere sahen gehetzt aus, erschöpft und verängstigt.“
Takjin schüttelte den Kopf. „Wovor können sie nur fliehen?“
Chank zuckte mit den Schultern, dann lehnte er sich vor. „Das Wolfsrudel war aber nur die bisher schlimmste Geschichte in einer langen Erzählung. Schon vor einem halben Jahr kam Alais zu mir.“
Takjin horchte auf, denn Alais war der Jäger, dem er auch sein Haifischzahnschwert verdankte. Der Jäger war ein Einzelgänger (was einiges zu seiner Legende beitrug), an den Bürgermeister wandte er sich nur, wenn etwas Großes im Gange war – wenn zu viele Fische gefangen wurden oder die Schafe des Dorfes in die Weidegründe anderer Tiere eindrangen – kurzum, wenn das Gleichgewicht des Waldes gefährdet war.
„Was wollte Alais von dir?“, fragte Takjin und seine Stimme war ungewöhnlich heiser.
„Er bat mich um Rat“, sagte Chank und als er Takjins Reaktion sah. „Ich habe es auch nicht glauben wollen. Er berichtete, dass die Tiere im Wald sich seltsam verhielten. Es war Brunftzeit, doch er sagte, es sei, als wären die Tiere nur halb bei der Sache. Wenige Junge sind in diesem Jahr geboren worden. Alais sagte, eine Wachsamkeit habe den Wald befallen, die nicht natürlich schien.“ Chank seufzte. „Ich sagte, dass ich keinen Rat wüsste, Alais sei der Fachmann. Ich sagte ihm auch, dass es vielleicht nur eine Täuschung war. Aber Takjin – es war das erste Zeichen, das etwas nicht stimmte.“
Takjin rutschte nun ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her. Chank sah ihn an. „Damals hat alles begonnen. Inzwischen sind die Wälder förmlich verwaist und den Sorgenfalten in Alais' Gesicht nach zu schließen, wird es immer schlimmer.“
„Ein halbes Jahr ist es her?“, fragte Takjin nun und stand auf.
„Was hast du denn?“
„Ich weiß von noch einer Sache, die ein halbes Jahr her ist“, antwortete Takjin und stürmte aus der Bibliothek. Er lief nach draußen, verfolgt von einem verdatterten Ruf von Chank und schließlich auch Chank selbst, der dem Jungen schwerfällig hinterherhastete.
„Takjin! Warte doch, was ist denn los?“
Takjin lief zum Wald und fand bald die Stelle, wo er die magische Kiste zurückgelassen hatte. Mit wilden Bewegungen schaufelte er das Laub herunter und legte die glatte, dunkelblaue Oberfläche frei.
Chank kam hinter ihm an und stützte sich keuchend auf die Knie. Dann erstarrte der Bürgermeister und betrachtete die Kiste mit großen Augen. „Was … ist das?“
„Eine Truhe.“ Takjin stemmte den Deckel auf. „Lange Geschichte – sie hilft mir, mit einem Freund in Kontakt zu bleiben.“
Falls es wirklich ein Freund war.
Er bekam den Deckel endlich auf und konnte ins Innere sehen. Auf seinen Vorräten und den Tränken lag etwas anderes: Ein fremdes Buch, zwei lange Stöcke und ein neuer Zettel.
Takjin riss die Botschaft an sich und begann mühsam zu lesen. Doch er kam kaum voran. Dokarestmus' Schrift war unordentlich auf das Blatt geworfen, die Buchstaben führten einen wilden Tanz auf, manchmal konnte man nicht einmal sagen, welches Wort in welche Zeile gehörte. Chank beugte sich über seine Schulter und las laut vor, deutlich schneller als Takjin lesen konnte:
Mein lieber Takjin,
Verzeih mir, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich wurde überwacht; verraten, denke ich. Ich hätte dich gerne auf Soregrat willkommen geheißen, doch das geht nun nicht mehr. KOMM NICHT HIERHER! Geh, wohin du willst, nur folge auf keinem Fall dem Fluss aus den Bergen. Soregrat ist nicht mehr sicher.
Nimm die Sachen, die ich dir schicke. Flieh. Ich wünsche dir alles Gute, mein Freund.
Lebewohl!
Dokarestmus.
Takjin ließ den Brief sinken und starrte auf die anderen Gegenstände in der Kiste. Ein schweres, in Leder gebundenes Buch und zwei Stöcke, in denen er nun zwei Stäbe erkannte. Beide waren glatt und aufwendig verziert, der eine in Blau- und Lilatönen gehalten, der andere grün.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Chank. „Wer ist dieser … dieser Dokarestmus? Was ist Soregrat? Takjin … was bedeutet das?“
„Es ist eine Warnung“, murmelte Takjin benommen. Er konnte nicht nach den Sachen greifen, die Dokarestmus ihm geschickt hatte. „Es ist eine Warnung und eine Botschaft.“
Er klappte die Kiste zu. Für einen Moment war ihm schwindelig. Sein Verdacht, dass Dokarestmus' Gefangennahme vor einem halben Jahr etwas mit dem Wolfsrudel zu tun hatte, schien sich nun bestätigt zu haben. Irgendetwas ereignete sich, da war sich Takjin sicher.
Und dann Dokarestmus letzte Worte. Lebewohl.
Takjin stolperte und musste sich an einen Stamm lehnen. Chank, der besorgt fragte, was ihm fehle, hörte er kaum noch.
War Dokarestmus erneut gefangen? Oder womöglich … tot?