Leise wie ein Reh näherte sich Takjin dem Dorf.
Er setzte seine bloßen Füße, die taub waren von der Kälte, vorsichtig zwischen die Äste und Zweige, die überall verstreut lagen. Es regnete, schwer und kalt fielen die Tropfen auf die Blätter über ihm und prasselten sanft auf den Erdboden. Takjin zitterte vor Kälte, eine Gänsehaut überzog seine dürren Arme und wellte die käseweiße Haut. Er spannte den Kiefer an, presste die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten.
Birkengrund lag wie verlassen vor ihm, nur in einer der Hütten brannte noch Licht. Takjin schlich vorsichtig näher und klemmte die Hände unter die Achseln, um sich irgendwie zu wärmen.
Das Regenwasser lief durch seine Haare, über seine Haut, fand jede Ritze, wusch jeden Rest von Wärme fort.
Am Waldrand erstarrte Takjin. Er hörte Rufe, raue Männerstimmen, Gelächter. Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen und ging in die Hocke, die leichenkalten Knie rieben aneinander. Takjin spähte in das Dorf, wo sich nun die Tür der erleuchteten Hütte öffnete. Lärm und Licht drangen in die Nacht hinaus, als ein einzelner Mann aus dem glühenden Rechteck trat.
Der Mann hielt nicht weit von der Tür entfernt an und stellte sich vor die Wand, dem Wald den Rücken zugekehrt. Der plätschernde Regen übertönte jedes Geräusch, das der Mann nun hervorrief, doch seine stumme, schweigende Haltung – den Kopf in den Nacken gelegt und die Hände vor dem Körper, die gespreizten Beine – sprach Bände.
Takjin verzog das Gesicht. Kein Mensch in Birkengrund würde einfach so gegen eine Hauswand pissen wie ein Tier! Dieser Mann war ein Soldat – als der Fremde in das erleuchtete Haus zurückkehrte und wieder raues Gelächter in die Nacht drang, konnte Takjin die Schulterpolster der Uniform erkennen, die grünen Rockschöße und das Schwert an der Seite.
Soldaten waren in dem großen Haus, das dem Bürgermeister Chank gehörte. Sie feierten und lärmten, verbrauchten dem Klang nach alle Biervorräte für den Winter.
Takjin zitterte noch stärker und trat rückwärts in den Schatten des Waldes zurück. Die Soldaten waren noch da!
Sie durften ihn nicht erwischen, allerdings hätte er getötet für einen Kanten Brot und einen Platz vor einem warmen Feuer. Vielleicht konnte er sich ja in seine Hütte schleichen und wenigstens etwas essen. Sich trocknen, bis das Wasser nicht mehr über seine Haut lief, als ob er gebadet hätte, und sich aufwärmen, bis er nicht mehr zitterte.
Mit leisen, kleinen, ungeschickten Schritten stakste er zu der Hütte am Waldrand.
Lautlos öffnete er die Tür und huschte in die Finsternis dahinter, wie ein Schatten, wie ein Geist.
In der Hütte war es dunkel. Durch das vom Regen beschlagene Fenster drang das Sternenlicht nur matt herein. Takjin jedoch fand sich in der Hütte blind zurecht. Er ertastete den kleinen Vorratsschrank und wühlte ungeduldig Brot, Fleisch und Käse heraus. Seine Finger berührten Stoff, doch er schleuderte ihn achtlos in die Hütte. Gierig schlang er das Essen herunter, wild durcheinander, biss da von der Wurst ab und hier vom Käsekanten, würgend und hustend wie ein Verdurstender, der endlich eine Wasserquelle findet. Der Junge hockte auf dem Boden, zitternd und elend, beinahe weinte er vor Freude, etwas essen zu können.
Als er satt war, verstaute er die restlichen Lebensmittel wieder im Schrank. Seine Hände und Füße waren taub vor Kälte, die Hände schienen sogar ein Eigenleben zu entwickeln und bewegten sich ohne Takjins Zutun sanft hin und her, wie Blumen, die sich im Sommerwind gemächlich öffneten und schlossen.
Takjin stolperte zu seinem Bett und zog sich die alte Decke um die Schultern. Er musste niesen, als ihn ein Wassertropfen an der Nase kitzelte, weiteres Wasser tropfte von seinen Haaren.
„Wer ist da?“, fragte eine Männerstimme von draußen.
Takjin erstarrte. Langsam hob er den Blick zum Fenster und konnte einige Schatten draußen auf der Wiese sehen, nur unwesentlich dunkler als der Wald. Die Bewegungen deuteten auf Männer hin, die nah bei seiner Hütte gestanden hatten.
Soldaten.
Sie hatten ihn gehört.
Vor Schreck spürte Takjin gleich ein neuerliches Niesen aufsteigen und presste sich die Hand auf die Nase, drückte zu, um den Niesreiz zu unterbinden. Seine Augen tränten vor Schmerz. Er hörte Schritte im nassen Gras platschen, dann klopfte jemand an seine Hütte.
„Hallo? Junge, bist du da drin? Tak … Takmin?“
Sie kannten seinen Namen – jedenfalls fast. Das machte Takjin am meisten Angst. Die Dorfbewohner mussten über ihn geredet haben. Sie hatten den Soldaten erzählt, wie er hieß, bestimmt hatten sie noch mehr gesagt. Takjin fühlte sich verraten. Hätten sie ihn nicht schützen können vor den Soldaten und dem Krieg, zu dem sie ihn bringen würden?
Auf dem Bett sitzend überlegte Takjin, was er nun tun sollte. Derweil krochen die Schatten immer näher zu seinem Fenster vor. Wenn er sich bewegte, würde er sich auf jeden Fall verraten – doch wenn er erstarrte, könnten die Soldaten ihn dann übersehen? Genügte die Dunkelheit und das angelaufene Fenster, um sich dahinter zu verstecken?
Ihm blieb keine große Wahl. Takjin hielt den Atem an, die Hand noch immer vor den Mund gepresst. Jemand klopfte außen an die Scheibe, eine Hand glitt über das Glas. Takjin konnte verschwommen das Gesicht eines Mannes erkennen, der mit verkniffenem Mund herein starrte.
„Ich kann nichts erkennen“, sagte der Soldat und Takjin ließ den angehaltenen Atem entweichen. Dann traten die Soldaten allerdings zur Tür.
Takjin sprang vor und warf im letzten Moment den Riegel vor. Schon drückte jemand von Außen gegen das Holz, so heftig, dass die Tür im Rahmen klapperte.
„He! Aufmachen!“, brüllte einer der Männer.
Takjin wich nach hinten, öffnete und schloss die Hände unschlüssig, diesmal aus eigenem Willen. Was sollte er tun? Wo konnte er hin, wie fliehen oder sich verstecken?
Ein heftiger Knall ertönte. Offenbar traten die Soldaten jetzt gegen die Tür, in der Absicht, sie aufzubrechen. Takjin wich zurück und wäre beinahe auf sein Bett gefallen. Er schüttelte die durchweichte Decke ab und griff nach seinem Schwert, das neben der Tür lehnte. Um den Griff hatte sich ein Stück Stoff gewickelt, irgendein Kleidungsstück, das Takjin in seiner Hast aus dem Schrank gezerrt und durch die Hütte geworfen hatte. Er zerrte daran, doch es hatte sich in den Zähnen des Schwertes verhakt.
Einen Moment stellte er sich vor, wie er den Soldaten heldenmutig entgegen trat, das Schwert schwang und sie vertrieb – doch er hatte kaum Kampferfahrung, von ein paar Kleinejungenspielen und dem einen Tag, als die Zombies eingefallen waren, einmal abgesehen. Er hatte keine Chance gegen zwei oder gar drei ausgewachsene und kampferprobte Soldaten.
In seiner kleinen Hütte gab es keine Versteckmöglichkeiten, nur unter dem Bett oder im Schrank. Takjins Blick glitt zum Fenster, als der nächste laute Knall ertönte. Die Tür erzitterte. Sie würde nachgeben.
Takjin holte aus und schlug gegen das Fenster. Glas splitterte und stechende Schmerzen fuhren durch seinen Arm. Er riss die dünne Decke an sich und kletterte durch den Fensterrahmen, riss sich die Hände und den Bauch an Splittern auf. Dann fiel er Kopf voran in das hohe, feuchte Gras, rollte über die kalte Erde und kam auf die Beine.
„Junge! Stehenbleiben!“, brüllte jemand.
Takjin rannte los. Die Decke flatterte hinter ihm her wie ein Mantel. Er stürmte um die Ecke der Hütte und in den Wald hinein, sprang über Sträucher und Steine und Totholz. Er hörte die Soldaten hinter sich rufen.
„Bleib stehen, verdammt! Es ist Nacht!“
Doch Takjin hielt nicht an. Er rannte, wie er selten zuvor gerannt war, so schnell, dass sein keuchender Atem sich wie abgehacktes Schluchzen anhörte. Die Soldaten folgten ihm, blieben dann aber zurück.
„Das ist Selbstmord, Junge!“, war das letzte, was Takjin von ihnen hören würde.
Dunkel, kalt und schweigend nahm der Wald ihn auf, umschloss ihn, umarmte ihn.
Takjin stolperte weiter und wickelte sich im Gehen die Decke um die Schulter. Er riss einen Streifen ab, um seine blutende Hand ungeschickt zu verbinden.
Er hielt nicht an, denn nun wusste er, dass er niemals wieder zurückkehren durfte.