Als Junea gesagt hatte, dass sie hoch klettern mussten, hatte sie nicht übertrieben. Ihr Weg führte sie durch das ganze Gewirr gespannter Brücken und schmaler Stege, hinauf zu den Berggipfeln und dann auf ein Plateau, von dem aus man auch das Gehege der Raubkatzen überblicken könnte, und dann begann erst der wahre Aufstieg zu einem Gipfel, der vom Boden nicht zu sehen gewesen war. Eine Wendeltreppe führte sie mal durch Gestein, mal durch finstere Höhlen unter gewaltigen Felsvorsprüngen, mal an der Seite des Berges durch den zerrenden Wind.
Die Straße war gut ausgebaut und hatte an allen notwendigen Stellen ein Geländer, trotzdem musste Takjin sehr mit seiner Höhenangst kämpfen.
„Normalerweise würde ich fliegen“, erklärte Junea irgendwann. „Aber jetzt habe ich die Nächte im Leuchtturmhäuschen verbracht und nicht bei Wellenstürmer im Stall, also ist er noch oben und ich muss irgendwie zu ihm kommen.“
„Wie … sind Drachen so?“, fragte Takjin, denn inzwischen wurde er neugierig.
„Du wirst es gleich sehen! Nur noch wenige Stufen. Aber eines – es sind eigentlich keine richtigen Drachen, bloß Wyvern. Stell sie dir als die giftspuckenden kleinen Cousins des Enderdrachen vor.“
„Ich weiß auch nicht, was der Enderdrache ist!“, schimpfte Takjin halbherzig. Doch wie Junea gesagt hatte, näherten sie sich nun dem Ende ihres Aufstiegs. Die Treppe führte auf einen grünen Hügel auf der Spitze einer großen, gewaltigen Felsnadel, worauf ein zweistöckiger Stall aus Stein und rotem Zaun und fremdartigem, bläulichem Holz erbaut war. Es gab auch einen Außenhof, von einer Steinmauer umrahmt, aber mit Lücken, durch die ein Mensch mühelos hindurchschlüpfen könnte. Takjin hatte hinter den roten Gitterwänden des Gebäudes bereits die ersten Drachen erblickt.
Die Wyvern erinnerten an große Echsen. Sie hatten zwei Beine und große Flügel mit schimmernden Häuten. Ihre spitzen Köpfe hatten zu beiden Seiten Hautsegel, die sich blähten und anlegten, und ihre Augen glitzerten intelligent. Der unterste Stall bestand aus zwei Reihen von Gehegen – die eine Seite war deutlich kürzer, denn dort fiel der Boden jäh steil ab, doch war die Kluft vom oberen Stockwerk überdacht – und von beiden Seiten reckten sich schuppige Köpfe neugierig nach vorne, Köpfe in den unterschiedlichsten Farben: Rot und Blau, Grün und Gelb, Braun und Lila und Schwarz. Die Wyvern zischten, wirkten aber nicht feindselig.
Ein dunkelblauer Wyvern stieß einen keckernden Ruf aus und Junea trat zu ihm, um ihn sanft unter dem Kinn zu kraulen.
„Das ist Wellenstürmer“, stellte sie das Tier vor. „Mein bester Freund. Ihr kennt euch schon, habt euch aber noch nicht vorstellen können, also: Takjin – Wellenstürmer. Wellenstürmer – Takjin!“
Takjin erkannte die Schuppen wieder, die er bei seiner Rettung aus dem Meer fälschlicherweise für eine Insel gehalten hatte. Vorsichtig streckte er eine Hand aus und Wellenstürmer stieß die spitze Schnauze sanft gegen Takjins Handfläche und prustete ihm warmen Atem gegen die Haut. Takjin lächelte und staunte – der Wyvern waren doppelt so groß wie er.
Junea ließ ihn stehen und begann, die Tröge aufzufüllen, die sich im hinteren Teil jedes Stalls befanden. Die Wyvern machten sich hungrig über das Fressen her.
„Bleiben sie immer im Stall?“, fragte Takjin, dem es in der Seele wehtat, dass diese großen, wunderbaren Geschöpfe immer hier eingesperrt bleiben sollten.
„Nein, sie dürfen auch nach draußen“, sagte Junea. „Du würdest sie niemals lange im Stall halten können. Allerdings bleiben sie für heute hier, sie sind hungrig. Wyvern essen selten und schlafen selten; sie altern langsamer als alle anderen Wesen. Trotzdem brauchen auch sie ihre Ruhe.“
Sie winkte Takjin und lief die Stallgasse hinunter. „Komm! Es gibt noch vier andere, die ich dir vorstellen muss!“
Takjin folgte ihr verwirrt.
Der Stall an sich war offen, es gab keine Tür, weder vorne noch hinten. Und so traten sie über eine schmale Brücke in den kalten Wind hinaus und zu einem abgesonderten Steingebäude, etwa so groß wie ein Einzelstall, jedoch mit massiven Wänden ohne Fenster.
„Das ist die Brutstätte“, erklärte Junea. „Ich habe noch einige Wyverneier von jeder Art, aber sie sind sehr selten. Wenn wir einen Stall frei kriegen – was sehr selten geschieht – dann kann ich die Eier hier ausbrüten. Bis dahin sind die Eier versteinert, ohne dass es dem Jungtier darin schadet.“ Sie lächelte Takjin an. „Wyvern sind faszinierend.“
Jetzt entdeckte Takjin eine Strickleiter, die nach oben in den zweiten Stock führte – den hatte er beinahe vergessen. Junea kletterte hinauf und begab sich in einen weiteren Gang zwischen Ställen. Takjin folgte eilig.
Im unteren Stock gab es sieben Ställe auf der einen und drei auf der anderen Seite – hier waren es vier, zwischen denen kreuzförmig ein breiter Weg verlief. In jedem Stall befand sich ein riesiger Wyvern, mindestens doppelt so groß wie die Tiere unter ihnen.
„Königswyvern!“ Junea strahlte und breitete die Arme aus, während sie sich auf dem Gang drehte. „Flammenseele, Feivel, Nachtwind und Ivory!“
Bei jedem Namen wies sie auf ein Tier. Flammenseele war rot und schwarz, Feivel hatte eine ungesunde grüne Färbung wie von verrottetem Fleisch, Nachtwind war so schwarz wie eine mondlose Nacht und Ivory perlmuttfarben mit einem goldenen Schimmer.
Takjin starrte die gigantischen Wesen an. Ihm stand der Mund offen und Junea konnte nur darüber lachen. Die großen Wyvern musterten den Fremdling abschätzig. Aus ihrem Blick sprach eine Intelligenz, die dem der Menschen ebenbürtig, aber in keiner Weise ähnlich war.
Junea, noch immer amüsiert, gab auch diesen Tieren ihr Futter. Dann trat sie an Takjins Seite.
„Und jetzt habe ich eine Überraschung für dich. Du bist doch nicht ängstlich, oder?“
Takjin starrte sie an. „Nicht ängstlich?“
„Im Ernst jetzt. Diese Überraschung könnte richtig furchteinflößend sein und das möchte ich dir nicht antun. Überleg dir genau, was du antwortest: Kriegst du schnell Angst?“
Takjin nahm sich ihre Worte zu Herzen und überlegte. Er war kein Held, bei Weitem nicht, aber wenn er eines in den letzten Tagen gelernt hatte, dann, dass er mutiger war, als er je geglaubt hatte. Er hatte sich zu einem recht guten Kämpfer entwickelt und er vertraute Junea, dass sie ihn nicht in Gefahr bringen würde.
„Nein“, antwortete er also. „Ich kriege keine Angst.“
Junea kletterte die Leiter wieder nach unten und Takjin folgte ihr nach einem letzten Blick auf die großen Wyvern.
„Was für eine Überraschung ist das?“
„Das kann ich dir doch nicht verraten! Dann wäre es keine Überraschung mehr. Nein, nein, du musst dich gedulden und mitkommen.“
Takjin war aufgeregt. Er hatte bereits eine Vermutung, doch an die wagte er noch kaum zu denken. Junea betrat den Stall und lief die düstere Stallgasse entlang. Takjin stolperte hinterher bis zu Wellenstürmers Stall, dem zweiten von vorne auf der linken, langen Seite. Junea hob etwas Metallenes an, das am Zaun gehangen hatte, und streifte Wellenstürmer dann große Metallringe um die Füße, setzte ihm einen Sattel auf und zäumte ihn mit einem Zaumzeug aus Leder und Metall. Dann stieß sie das große Gatter auf.
Takjin stand schweigend daneben. „Was … wird das?“
„Komm schon!“ Junea kletterte auf den Rücken des Wyverns und streckte Takjin eine Hand hin. Der zögerte, doch dann ergriff er ihre Hand und ließ sich auf den Rücken des Drachen ziehen. Er saß hinter Junea und legte unbeholfen die Arme um ihre Taille.
„Auf, mein Freund!“, sagte Junea zärtlich zu dem Drachen, der den Stall verließ und nach vorne an den Felsrand trat.
Junea richtete sich auf, während der Wyvern nach unten in die Tiefe sah. „Ich hoffe, du hast keine Höhenangst, Takjin!“
„Doch“, antwortete er, grinsend. „Aber das ist mir egal.“
Junea grinste breit zurück und gab ein Zeichen. Im nächsten Moment stürzte der dunkelblaue Wyvern wie ein Stein in die Tiefe. Der Wind brauste an Takjin vorbei und nahm ihm fast den Atem. Sein Magen machte einen Satz nach oben und sein Herz schlug schneller. Dann faltete Wellenstürmer seine Schwingen auf und ging in einen Gleitflug über. Sie durchbrachen eine Wolkendecke, in Takjins Ohren knackte es. Unter sich sah er das Meer an einer steilen, mit Sand bedeckten Küste von Soregrat, an der sich die Wellen tosend brachen.
Takjin stieß einen übermütigen Jubelschrei aus. Junea fiel mit ein und reckte eine Faust in den Himmel. Wellenstürmer schoss vorwärts, schnell wie ein Pfeil.