Das Meer glitzerte weit unter ihnen und der Fahrtwind fuhr ihnen beiden in die Haare. Takjin hielt sich an Juneas Panzer fest und spähte über ihre stachelige Schulter nach vorne. Zur linken Seite erhoben sich steile, graue Klippen, mit Sand gekrönt, zur Rechten war nur das Meer zu sehen.
„Ich bin noch nie auf einem Drachen geflogen!“
„Es ist toll, nicht wahr?“ Junea musste über die Schulter brüllen, denn der Wind riss ihr die Worte aus dem Mund. „Aber du solltest sie nicht Drachen nennen. Ich weiß, das tue ich selbst manchmal, aber im Grunde sind Wyvern und Drachen zwei völlig verschiedene Tierarten. Beide sind so intelligent wie Menschen, aber während die Wyvern zähmbar sind – oder eher: man ihre Freundschaft erlangen kann – sind Drachen gefährlich. Wenn du jemals einem Wyvern begegnest, den du nicht kennst, begehe nicht den Fehler, ihn einen Drachen zu nennen!“
„Ich werd's mir merken“, antwortete Takjin etwas ernüchtert. Er bohrte vorsichtig mit einem Finger in seinem Ohr, denn die hatten sich als Folge des rasanten Sturzflugs geschlossen. Langsam entschleunigte sich Wellenstürmers Tempo und der Wyvern sank tiefer. Die Klippen wurden niedriger und gingen schließlich in grüne Hügel über, die das Meer vor ihnen verdrängten. Wellenstürmer schlug zum ersten Mal mit den Schwingen und Takjin spürte das Spiel der Muskeln unter der Schuppenhaut.
„Da unten kommt der flache Teil von Soregrat“, erklärte Junea. Takjin beugte sich vor, um über ihre Schulter und die Schwingen des Wyvern hinweg nach unten zu sehen. Die grünen Hügel wurden bald von einer riesigen Sandfläche abgelöst, doch im Sand verteilt standen unzählige Gebäude, manche flach, manche hoch und viele mit künstlichen Grünflächen ausgestattet. Ein Gebäude fiel besonders ins Auge, als Wellenstürmer darüber eine Schleife zog, und zwar ein doppelgeschossiger Stall mit Weideflächen auf beiden Seiten. Die Stallgasse verlief hier offenbar nicht der Länge nach, stattdessen gab es drei Stallgassen, die das Gebäude querten. Der Bau hatte zwei Stockwerke und war einfach unfassbar groß. Als hätte man sechs gewöhnliche Ställe zusammengeklebt.
„Die Pferdeställe“, erklärte Junea. „Und drüben gibt es noch eine Insel mit weiteren Ställen, wo einige äußerst bemerkenswerte Pferde sind. Das hier ist Mosas Reich, doch heute werden wir es nur von oben sehen.“
Und auf diese Worte hin drehte Wellenstürmer ab und flog wieder geradeaus weiter. Der Stall verschwand hinter ihnen im Nebel und der Sandstrand versank im Meer. Dann folgte lange Zeit nichts außer tiefem, blauem Wasser wie eine endlose, wogende Wüste.
Wellenstürmer flog jetzt langsamer und schlug in gemächlichem Tempo mit den Flügeln. Der brausende Fahrtwind verging und Junea und Takjin saßen bald schweigend in einiger Höhe über dem Meer.
Zuerst genoss Takjin die frische, salzige Luft und den Sonnenschein und die endlose Freiheit. Schließlich aber wurde ihm kalt und er rückte ein wenig hin und her, um eine bequemere Position auf dem Drachen zu finden – anders als Junea saß er nicht auf einem Ledersattel, sondern direkt auf den harten Schuppen.
„Ja, das Meer ist weit“, sagte Junea leise. Ihre Stimme klang zugleich verträumt und traurig und Takjin saß wieder still. Junea sprach weiter: „Die See ist alles, was Soregrat schützt; unsere einzige Barriere.“
„Barriere? Wogegen?“ Takjins Stimme war heiser.
Junea antwortete nicht direkt. „Ich habe dir doch erzählt, dass der Spiegelmeister einmal versucht hat, in diese Welt einzudringen. Dabei hat er das Gleichgewicht zerstört.“
Takjin verspürte eine unbestimmte Bedrohung. Ein kalter Wind blies und die Sonne ging langsam unter. Er beugte sich vor und sah etwas Dunkles im Wasser, wie der Schatten einer riesigen, schwebenden Insel, doch der Himmel war leer.
Wellenstürmer stieg tiefer, doch eine Art Schauder schien durch den Leib des Wyvern zu laufen.
„Der Spiegelmeister hat an den Grundfesten der Welt gerüttelt“, sagte Junea. „Schlimme Dinge geschehen, wenn man das tut.“
Der Schatten, eben noch eine Ahnung am Horizont, lag nun unter ihnen. Wellenstürmer ging bis zu den Wassern nieder und ein eigenartiger Gestank stieg Takjin in die Nase. Er würgte.
„Fäulnis“, sagte Junea. „Es ist eine Art Gift im Boden. Wir wissen nicht, was es ist. Wir kennen kein Heilmittel. Es hat alle Lande außer der Insel verdorben und dringt nun durch das Wasser auch nach Soregrat vor. Noch ist es weit entfernt, doch eines Tages wird es die Insel erreichen.“
Wellenstürmer schwenkte ab. Auch er wollte wohl nicht länger als unbedingt nötig über dem giftigen Wasser verweilen. Er stieg in die Höhe und dem Mond entgegen ging es wieder zurück.
„Das ist furchtbar!“, entfuhr es Takjin, als er wieder sprechen konnte.
„Ja. Und es lässt sich nicht aufhalten. Wir haben noch einige Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte, aber dann wird die ganze Welt unbewohnbar sein“, fuhr Junea fort. „Bist dahin ist Soregrat ein Rückzugsort, ein sicherer Hafen. Nirgendwo sonst in dieser Welt gibt es noch Leben. Das Gift hat alle Wesen getötet. Auf der Insel bewahren wir jene Tiere auf, die wir retten konnten, und versuchen, ihre Rassen zu bewahren.“
Sie schwiegen eine Weile.
„Und Dokarestmus?“, fragte Takjin nach einer Weile. „Was hat er damit zu tun?“
„Er hat den Spiegelmeister damals abgewehrt“, erklärte Junea. „Und er hat es sogar geschafft, das Vorrücken des Gifts zu verlangsamen. Man merkt es nicht, doch die Wasser sind verzaubert, damit sie die Fäulnis abweisen. Nur deshalb existiert Soregrat noch. Aber jeder Regenfall kann Gift enthalten, wenn die Wolken nur weit genug gezogen sind. Dokarestmus hat auch dafür gesorgt, dass so viele Tiere wie möglich gerettet wurden und er hat das erschaffen, was du heute auf der Insel siehst.“
„Ein beeindruckender Mann“, murmelte Takjin.
„Ja. Ich weiß nicht, ob Soregrat lange ohne ihn durchhält.“
„Wie … war er so?“
Junea schwieg. Erst, als Takjin sich bereits darauf eingestellt hatte, keine Antwort mehr zu erhalten, redete sie plötzlich. „Er war … wie ein Vater für mich. Er hat mich hierhergeholt, als ich keine Zukunft mehr gesehen habe. Dokarestmus konnte furchteinflößend sein, wenn er wütend war, und geheimnisvoll und verschlossen, aber zu mir war er gütiger, als ich es damals verdient hatte. Er gab mir eine Zukunft.“
„Das scheint er mit vielen zu tun.“
Junea lachte leise. „In der Tat. Mosa und Olar sind ebenfalls solche Findelkinder wie wir beide. Olar hat in dieser Welt gelebt, ehe das Gift kam. Mosas Geschichte kenne ich nicht wirklich. Ich selbst war alleine, nachdem meine Eltern im Krieg gestorben sind. Ich habe von Diebstahl und einigen anderen, unrühmlichen Dingen gelebt.“
Takjin kaute auf seiner Unterlippe. „Deine Eltern sind im Krieg gestorben? Ist es … der gleiche Krieg wie meiner?“
„Die niederen Welten haben keine eigenen Namen“, antwortete Junea zögerlich. „Deswegen kann ich dir das nicht sagen. Wir haben die Welten immer nach den größeren Städten benannt, die dort stehen, doch Städte ändern sich, insbesondere im Krieg. Ich weiß nicht, ob wir aus der gleichen Welt stammen, Takjin.“
Eine schwere Traurigkeit kam über Takjin, so unvermittelt wie ein plötzlich aufziehender Sturm. Ihm wurde erst jetzt bewusst, dass er nicht mehr Zuhause war, sondern in einer fremden, dem Tode geweihten Welt. Dokarestmus war verschwunden und die einzigen anderen Menschen waren ihm fremd. Er war ebenso verloren wie damals im Sumpf. Vielleicht war es diesmal sogar schlimmer. Zwar musste er sich nicht um Essen und Unterschlupf sorgen, doch er war weit, weit weg von allem, was er kannte.
Als ob sie seine düsteren Gedanken spürte, schwieg Junea für den Rest des Rückweges.