Von nun an lebte Takjin sich schnell auf Soregrat ein und das anfängliche Gefühl der Einsamkeit verging oder wurde verdrängt. Mehrere Tage vergingen wie im Flug: Er half Junea bald bei allen ihren Pflichten und legte seine Scheu vor den großen Raubkatzen ab. Sie brachten die meisten Strecken nur noch auf dem Rücken von Wellenstürmer hinter sich; so brauchten sie selten länger als den halben Tag, um alle Tiere mit Futter zu versorgen. Doch sie kümmerten sich auch um verletzte Tiere oder um die Aufzucht von Jungtieren und ihre Tage waren angefüllt mit wunderbaren und traurigen kleinen Momenten.
Ihr Verantwortungsbereich umfasste die Raubkatzen und die Wyvern, die Takjin bereits kannte. Dazu kamen Quallen im See und Delfine, die sich manchmal in die Bucht verirrten, einige Katzen und Ziegen und Papageien; dann mussten sie sich auch um die Skorpione kümmern, zu deren Bereich sie durch die langen, gewundenen Tunnel der Höhlenskorpione kamen, die sich unter den Bergen hindurch zum Sand erstreckten. Es gab vier Arten der Skorpione, denn sie konnten im Grasland, in Höhlen, in heißen und in kalten Regionen leben, doch die letzte Art, die Eisskorpione, waren aus Soregrat verschwunden, Opfer des Gifts. Dokarestmus hatte sie, wie auch viele andere Eiskreaturen, nicht retten können.
Allesamt waren die Skorpione größer als ein Mensch und man konnte auf ihnen – wie auf den meisten Kreaturen – reiten.
Auch einige Bären gehörten zu Juneas Bereich und manchmal mussten sie sich um Tiere kümmern, die von den anderen Teilen der Insel ausgebüxt waren. Doch dann brachte ausnahmslos Junea die Tiere mit Wellenstürmer zurück. Takjins wäre eine zu große zusätzliche Last gewesen. So lernte er Mosa und Olar während dieser Zeit nicht kennen.
Er erfuhr jedoch einiges von dem großen Aufruhr, der nach Dokarestmus' Verschwinden über die Insel gekommen war: Ein großer Sturm hatte viele Zäune und Mauern zerstört. Takjin, Junea und auch Mosa und Olar hatten alle Hände voll zu tun, sich um die Tiere zu kümmern und die Schäden zu reparieren.
Nur allmählich wurden die Tage ruhiger und Takjin wurde von Junea jeden Abend früher bei der kleinen Hütte abgesetzt. Eines Tages, die Sonne stand noch hoch am Himmel, stieg Junea mit von Wellenstürmers Rücken.
„Bleibst du?“, fragte Takjin neugierig und erfreut.
Junea nickte. „Ich will dir deinen Stab zurückgeben und auch dein Schwert. Ich hätte dir beides schon eher geben sollen, doch ich habe es schlichtweg vergessen. Also muss heute genügen.“
„Mein Schwert!“, rief Takjin aus. „Ich dachte, es sei verloren!“
„Keineswegs. Aber da ich dich zuerst für einen Spion hielt, konnte ich dir keine Waffe überlassen.“ Junea lächelte.
Sie gingen in Dokarestmus' Hütte und dort überreichte Junea Takjin feierlich sein Holzschwert und den bläulichen Stab, der seine Flucht gesichert hatte. Takjin nahm das Schwert, aber ehe er nach dem Stab griff, zog Junea die Hand zurück.
„Ich gebe dir den Stab nicht gerne“, sagte sie zu Takjins Überraschung. „Er ist wertvoll, aber mehr noch als das ist er gefährlich. Bevor du ihn nimmst, solltest du wissen, was es mit ihm auf sich hat, und mit dem anderen Stab, den du verloren hast. Dies ist der letzte Teil der Geschichte, die ich dir erzählen kann. Danach sollst du entscheiden, ob du die Bürde wirklich akzeptieren kannst.“
Takjin starrte das Mädchen verwirrt an. „Es gibt noch mehr, das ich nicht weiß?“
Junea musste lachen. „Es gibt vieles, das wir beide nicht wissen. Aber ja, eine letzte Wahrheit über Soregrat muss ich dir erzählen. Von den Stäben und dem Drachenmeister.“
„Der Drachenmeister?“
„Der Feind des Spiegelmeisters, sein ebenbürtiger Gegenspieler“, erklärte Junea und sie setzten sich beide auf die helle Holzbank.
„Bevor du allzu viele Fragen stellst: Ich weiß selbst nur wenig über diese Sache, Dokarestmus hat nie viel darüber gesprochen. Ich werde dir alles sagen, was ich weiß.“
Takjin nickte und Junea fuhr fort: „Die Weltenreisenden, Dokarestmus, der Spiegelmeister und eine Frau, haben drei Artefakte hinterlassen. Sie haben sie gemeinsam erschaffen, alle drei Artefakte vereint könnten es ermöglichen, nach Celes Hedian vorzudringen. Du kennst die Artefakte: Das Buch des Wissens, geschrieben vom Spiegelmeister. Er hat alles Wissen über Weltenreisen und die einzelnen Welten in diesem Buch gesammelt und Dokarestmus wurde gefangen, als er versuchte, das Buch zu bekommen. Das war vor einem halben Jahr; der Spiegelmeister hatte ihn gefangen und ihm auch die anderen Artefakte abgenommen: Die beiden Stäbe, die du bereits kennst. Du konntest Dokarestmus zur Flucht verhelfen und er brachte alle drei Artefakte hierher. Das Buch des Wissen, den Enderstab und den Wyvernstab – der Wyvernstab ist Dokarestmus' eigenes Artefakt, doch der Enderstab gehörte der Frau. Ich kenne ihren Namen leider nicht.“
Takjin warf einen nervösen Blick auf den Enderstab, der zwischen ihnen beiden auf dem Tisch lag. Dies war einer der drei Schlüssel, um eine unbekannte Welt zu betreten? Der Stab mit dem Namen des mächtigen Enderdrachen?
„Dokarestmus wollte ein Tor nach Celes Hedian öffnen, doch der Spiegelmeister konnte seiner Spur folgen. Dokarestmus musste fliehen und kämpfen, und schließlich kamst du an, eines der drei Artefakte in Händen. Deiner Geschichte nach glaube ich, dass die anderen Artefakte um ein Haar den grauen Jägern in die Klauen gerieten – doch das konntest du verhindern.“ Junea machte eine kurze Pause. „Du kennst den Enderstab bereits, immerhin hast du ihn benutzt. Du weißt also, dass er teleportieren kann. Außerdem kann er Tore zwischen den Welten öffnen; letzteres können allerdings beide Stäbe. Der Enderstab wurde, den Geschichten zufolge, zu einer Zeit geschaffen, da Celes Hedian und die Enderinsel noch zugänglich waren, und es heißt, dass in diesem Stab ein Teil der Seele des Enderdrachen schlummert. Ich habe dir von ihm erzählt, jedoch nicht viel: Ich weiß, dass es ein großer und mächtiger Drache ist, der auf der Enderinsel lebt. Er hat ein ganzes Volk versklavt, die ehemaligen Bewohner seiner Welt, und bisher alle getötet, die es gewagt haben, sich ihm zu nähern. Es gibt Legenden, nach denen eines Tages jemand kommen wird, der ihn töten oder befrieden kann – das soll der Herr der Welten sein, dem es bestimmt ist, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wer immer es ist, ich hoffe, er kommt bald.“
Junea sah Takjin an und er schluckte. „Das ist alles sehr verwirrend.“
„Ich weiß“, meinte Junea. „Es sind viele Welten mit vielen komplizierten Regeln. Und leider besitze ich nur bruchstückchenhaftes Wissen.“
„Und … in dem Stab da ist die Seele des Enderdrachen?“, fragte Takjin und sah wieder auf den Enderstab.
„So heißt es jedenfalls“, antwortete Junea. „Ich kann es dir wirklich nicht sagen, nur soviel: Wer den Stab benutzt, der wird von ihm verändert. Er ist gefährlich und Dokarestmus hat wieder und wieder betont, dass er nur in höchster Not benutzt werden darf. Nicht nur, dass man in unmittelbarer Nähe einer Drachenseele ist, es ist auch wahrscheinlich, dass der Spiegelmeister davon erfahren wird, denn er sucht nach ihm. Die Magie hinterlässt eine Spur, der die grauen Jäger folgen können.“
Takjin rutschte unruhig hin und her. „Aber ich habe ihn benutzt! Häufig.“
„Das lässt sich nicht mehr ändern.“ Junea zuckte mit den Schultern. „Bisher ist nichts geschehen, also haben wir vielleicht Glück gehabt. Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Wir bräuchten wohl das Buch, denn vielleicht steht darin mehr.“
Beide sahen auf den Enderstab, der ihre Gesichter mit bleichem Licht erleuchtete.
„Es ist gut, dass der Stab hier ist. Denn der Spiegelmeister darf auf keinen Fall alle Artefakte bekommen“, sagte Junea. „Wir werden versuchen müssen, auch den Wyvernstab und das Buch zu finden, doch im Moment können wir beide nicht von hier fort.“
„Was hat es mit dem Wyvernstab auf sich?“, fragte Takjin endlich. „Ich habe ihn bereits gesehen und ich muss sagen, dass mir der Enderstab langsam unheimlich wird. Ich hoffe, der Wyvernstab hat eine freundlichere Geschichte!“
„Ich muss dich enttäuschen.“ Junea lachte. „Der Wyvernstab ist wie ein Spiegelbild oder ein Zwilling des Enderstabs, obwohl er vom Drachenmeister gefertigt wurde – von Dokarestmus.“