Die Nacht wurde kalt und stürmisch, der Wind heulte wie ein Vorbote schlechter Zeiten. Takjin klammerte sich an einen Ast, der heftig unter ihm schwankte. Längst war an Schlaf nicht mehr zu denken. Die Nachtkälte ließ den Jungen zittern. Im Wald heulten die Wölfe mit dem eisigen Wind um die Wette. Außerdem knurrte sein Magen so heftig, dass es ein Wunder war, dass das Geräusch die Wölfe noch nicht auf seine Fährte geführt hatte.
Es sah nicht so aus, als ob Takjins Pechsträhne enden würde. Seine eisigen Finger verloren zusehends den Halt an der rauen Rinde, seine Glieder zitterten und die Nacht würde noch andauern.
Takjin kaute nervös aus seiner Unterlippe – teils auch aus Hunger – während er verzweifelt überlegte, was er tun sollte. Ihm blieben nicht viele Option: Abwarten und hoffen oder auf den Boden springen und kämpfen. Der Gedanke, dabei vielleicht etwas Essbares zu finden, machte ihm die letzte Option immer schmackhafter.
Dann jedoch bemerkte Takjin ein paar gelber Augen im Dunkel unter sich. Er versuchte, genaueres zu erkennen, doch mehrere Äste peitschten durch sein Blickfeld. Als ein drohendes Knurren erklang, wusste Takjin dennoch Bescheid. Es war ein Wolf, dem Klang nach einer der großen Wölfe, mit denen nicht zu Spaßen war. So leise wie möglich kletterte Takjin einen Ast höher, obwohl dieser Zweig noch dünner und unsicherer war. Doch der Wolf hatte ihn zweifellos gewittert und strich um den Stamm der Birke herum. Takjin schluckte und sah sich um. Bestand die Hoffnung, dass der Wolf irgendwann die Lust verlieren und ihn in Frieden lassen würde? Den Geschichten nach, die er gehört hatte, standen die Chancen schlecht.
Mit einem Mal begann der Wolf unter Takjin, laut und klagend zu heulen. Der Gesang klang so trostlos und verzweifelt, dass Takjin um ein Haar von alleine aus dem Geäst gestürzt wäre. Dann lief ihm ein Schauer über den Rücken, denn der Wolf erhielt vielstimmige Antwort. Es knisterte unter ihm im Unterholz, über den Regen kaum hörbar, dann verkündete wildes Knurren und Japsen, dass der Wolf nicht länger alleine war. Ein ganzes Rudel hatte die Jagd auf Takjin eröffnet, die Wölfe sprangen am Stamm empor, heulten und knurrten und geiferten.
Takjin schloss die Augen und wünschte sich inständig, er könne in seinem Bett aufwachen, in seiner Hütte in Birkengrund, und die ganze furchtbare Nacht wäre nur ein langer, schrecklicher Alptraum.
Sein Magen knurrte. Die Wölfe heulten. Takjin wachte nicht auf, sondern saß immer noch in einer Baumkrone fest. Wenn der Morgen käme, würde er sich durch ein Rudel von Wölfen kämpfen müssen. In seinem geschwächten und verängstigten Zustand ein Ding der Unmöglichkeit, das war sicher.
Die Wölfe heulten lauter, ihr Knurren verstärkte sich. Zuerst fürchtete Takjin, dass das Rudel weiter angewachsen war. Dann vernahm er ein neues Geräusch, ein Klappern, das ihm einen neuen Schauer verursachte. Bis eben hatte er noch geglaubt, während der langen Nacht auf seinen Tod in den Morgenstunden zu warten, doch die Ankunft des Skeletts bedeutete auch die Ankunft eines Bogenschützen. Das knochige Monster hatte Takjin bemerkt, vielleicht angelockt von den knurrenden Wölfen, die dem Neuling widerwillig Platz machten.
Takjin schüttelte stumm den Kopf, die Lippen aufeinander gepresst. Er konnte genau hören, wie das Skelett seinen Bogen spannte.
Als er das Sirren des Pfeils hörte, machte Takjin einen blinden Satz zur Seite, wo sich seines Wissens nach ein weiterer Ast befand. Er prallte mit der Brust gegen Holz und klammerte sich fest, seine Beine strampelten über der finsteren Tiefe, wo gelbe Augen aufblitzten, als die Wölfe versuchten, ihn durch Springen zu erreichen. Takjin hörte sie springen und ihre Kiefer schnappen. Der Pfeil sirrte irgendwo in die Dunkelheit davon, Takjin war ihm entkommen. Doch das Skelett spannte den Bogen neu.
Diesmal konnte Takjin nicht ausweichen. Der Pfeil traf ihn in die Seite und der Schwung des Geschosses warf Takjin aus dem Baum. Er landete auf der kalten Erde und rollte durch den Dreck, während die Wölfe in ekstatisches Bellen ausbrachen, wie Jagdhunde kurz bevor die Beute gestellt ist.
Takjin schrie, als er endlich zum Liegen kam. Er bekam Erde in den Mund und rappelte sich mühsam auf Knie und Ellbogen auf. Zu seinen Seiten hörte er das Trappeln schneller Pfoten, als die Wölfe sich auf ihn stürzten. Takjin warf sich zur Seite und hob abwehrend den Arm, um den sich sofort die Kiefer eines Wolfes schlossen. Auf dem Rücken liegend trat Takjin dem Tier in den Bauch und schleuderte den Angreifer von sich. Dann kam er auf die Beine und sprintete los, blindlings vorwärts, obwohl er den Boden kaum sehen konnte. Zähne schnappten nach seinen Beinen. Das Adrenalin verdrängte den Schmerz in seiner Seite und seinem Arm, sein Herz raste in Todesangst. Er hörte einen weiteren Pfeil fliegen, doch dieser traf ihn nicht. Die Wölfe folgten ihm bellend und knurrend, Takjin stolperte vorwärts. Das Gelände fiel vor ihm ab, ein rutschiger Hang, den er in der Finsternis nicht erkennen konnte.
Nur mit viel Glück vermied er es, zu stolpern, bis der Boden endlich flacher wurde. Als dunkle Schatten vor dem Sternenhimmel konnte er vereinzelte Bäume erkennen. Während das Knurren der Wölfe langsam zurückblieb, nahmen neue Geräusche ihren Platz ein: Über seinem keuchenden Atem hörte Takjin giftiges Zischen und das laute Krachen, mit dem Krokodile ihre Kiefer zusammenfallen ließen.
Er hielt inne und sah sich gehetzt um. Die Wölfe hatten ihn in den Sumpf getrieben. Ob sie seiner Spur folgen würden oder sich nicht in das gefährliche Gebiet wagten, spielte schon beinahe keine Rolle. Takjin saß in einer tödlichen Falle, schutzlos mitten in der Nacht.
Er hielt sein Schwert noch in der Hand und fragte sich erneut, warum er es bisher nicht eingesetzt hatte. Doch während der Flucht waren alle Gedanken ausgeschaltet gewesen. Er konnte wohl von Glück sagen, dass er die Waffe nicht bei seinem Sturz fallen gelassen hatte.
Verzweifelt versuchte er, zu Atem zu kommen und einen klaren Kopf zu bewahren.
Gab es noch einen Ausweg? Takjins Magen knurrte wieder, jetzt meldete sich auch der pochende Schmerz in seiner Seite und das Brennen in seinem Arm. Takjin hob sein Schwert und sah sich um, er lauschte. Es schien nicht, als ob irgendwelche Monster in seiner Nähe waren, doch er konnte mehrere Komodos und Krokodile rings um die zahlreichen Wasserlöcher erkennen. Sein Instinkt drängte ihn, auf einen Baum zu klettern, doch möglicherweise wurden die Bäume bewacht. Noch während Takjin sich in vermeintlicher Sicherheit wähnte, kicherte es hinter ihm.
Takjin schloss einen Moment die Augen und schloss insgeheim mit seinem Leben ab. Die Sümpfe waren bekannt dafür, dass hier Hexen lebten. Eine davon musste ihn entdeckt haben, denn ihr wahnsinniges Giggeln wurde lauter. Takjin hob die Waffe und drehte den Kopf hin und her, sein Atem beschleunigte sich wieder. Er merkte selbst, dass er atemlos schluchzte.
„Bitte nicht!“, flehte er flüsternd. „Oh, Notch, bitte nicht auch noch das!“
Dann erhaschte er einen Blick auf den spitzen Hut im Schatten eines krummen Baumes. Wie er gefürchtet hatte, boten im Sumpf auch Bäume keinen Schutz. Takjin machte einen Schritt nach hinten und betete, dass er nicht direkt in eine Gruppe Krokodile stolpern würde.
Die Hexe kicherte hämisch. Takjin hörte sie trinken und schlucken. Dann huschte sie plötzlich mit unglaublicher Geschwindigkeit vorwärts, in der Dunkelheit beinahe zu schnell, um sich noch beobachten zu lassen. Takjin hörte ein Rauschen, plötzlich schlug etwas mit lautem Klirren neben ihm auf den Boden. Er sprang zur Seite, doch mehrere Tropfen einer brennenden Flüssigkeit regneten auf seine Haut.
Er hatte genug, sein Mut war erschöpft. Mit einem wortlosen Schrei drehte Takjin sich um und rannte, was seine müden und erfrorenen Beine hergaben. Die Flüssigkeit brannte auf seiner Haut wie Feuer, seine Lungen schmerzten. Er lief vorwärts, stolperte und rollte durch kaltes Wasser, dann sprang er wieder auf und hetzte weiter. Einmal sprang ihn etwas von der Seite an, doch Takjin schlug blindlings mit dem Schwert zu, traf irgendeinen unbekannten Widerstand und lief weiter, ohne zu sehen, ob sein Streich wirksam gewesen war. Die Hexe folgte ihm, ihre Tränke zischten ihm um die Ohren wie zuvor die Pfeile des Skeletts.
Sein Weg führte ihn vor eine dunkle Felswand. Er lief daran entlang, denn es war unmöglich, an dem glatten Stein hinauf zu klettern. Tränen füllten seine Augen. Er wusste nicht länger, was ihn verfolgte und ob er überhaupt noch verfolgt wurde, doch falls ihm etwas folgte, saß er in der Falle.
Am Ende seiner Kräfte bemerkte er einen blassen, bläulichen Lichtschimmer und wankte darauf zu. Warmes Blut lief über seine Kleidung, in seinen Ohren rauschte es und was er sah, war verschwommen und verzerrt, wie dieses eine Mal, da er einen Kugelfisch gegessen und beinahe gestorben war. Für einen Moment durchzuckte ihn die Erinnerung, wie Matilda, die im Dorf als Schweinereiterin verschrien war, ihn gesund gepflegt hatte.
Das erinnerte Takjin nur daran, dass er diesmal vollkommen allein war. Er folgte dem Lichtschimmer, der aus der Felswand zu dringen schien. Einen Moment glaubte er schon, dass es der Beginn eines Fiebertraums war, als er keine Fackel und auch keinen Eingang erkennen konnte. Dann aber entdeckte er eine Falltür am Fuß der Klippen. Takjin wuchtete das Holz hoch und stürzte eine kurze Leiter herab. Die Falltür fiel über ihm klappernd ins Schloss und Takjin lag auf einem kalten, harten Felsboden. Das Gift der Hexe pochte noch auf seiner Haut, die Pfeilwunde und die Bisswunde bluteten und schmerzten, doch Takjin merkte, wie ihm trotzdem die Augen zufielen.
Er nahm noch wahr, dass er in einem winzigen Räumchen lag, das in einen unnatürlichen, kalten Lichtschimmer getaucht war. Dann wurde alles dunkel und immer dunkler und schließlich schwarz.