Takjin kam zu sich.
Er lag auf hartem und kalten Steinboden. Ein Sonnenstrahl fiel ihm ins Gesicht, doch als er die Augen abschirmen wollte, protestierte jeder Muskel seines Körpers mit den unvorstellbarsten Schmerzen. Takjin stöhnte und senkte die Hand wieder. Dann blieb er ausgestreckt auf dem Rücken liegen. Sein Magen knurrte und kollerte, zog sich vor Hunger zusammen. Aber Takjin konnte sich einfach nicht rühren. Es war so schön, im hellen Sonnenschein zu liegen, während die Kälte langsam in seinen Rücken kroch. Sein Kopf pochte, sein Arm pochte, sein linker Rippenbogen pochte mit jedem Atemzug. Der Pfeil steckte möglicherweise noch in Takjins Fleisch. In der rechten Hand spürte er den vertrauten Schwertgriff, seinen letzten Besitz.
Nach einer Weile versuchte er, sich zu rühren. Jede Bewegung schmerzte, aber der Hunger schmerzte ebenfalls. Takjin verspürte einen latenten Schwindel im Hinterkopf, ein Gefühl, als ob er die ganze Zeit nach hinten fallen würde. Seine Sicht war verschwommen, seine Gedanken drifteten zusammenhangslos durch Vergangenheit und Zukunft. Immer häufiger sah er Essen vor sich: Brot, Äpfel, Kuchen, saftigen Braten. Er verhungerte.
Mit reiner Willenskraft öffnete er die Augen und versuchte, sich zu orientieren.
Er lag auf Steinboden. Gut, das wusste er bereits. Über ihm war in einem Loch der Himmel zu erkennen, die Seitenränder des Lochs bestanden aus steilen Felshängen, auf denen stellenweise Gras wuchs. Takjin befand sich am Boden eines winzigen, tiefen Tales, dessen einziger Eingang die Leiter unter der Falltür war, durch die er in der Nacht herein gekrochen war. Ein sehr kurzer Tunnel führte unter einer der Felswände hindurch zu besagter Leiter.
Stöhnend wälzte er sich auf die Seite. Sofort begann die Welt, sich um ihn zu drehen. Ihm wurde sogar einen Moment schwarz vor Augen. Keuchend bemühte sich Takjin darum, wieder Herr seiner Sinne zu werden. Gleichzeitig griff eisige Verzweiflung nach ihm. In diesem Zustand würde er nicht weit gehen können. Jagen schon gar nicht. Und er würde es auch nicht schaffen, auf einen Baum zu klettern und Äpfel zu ernten. Seine einzige, vergebliche Hoffnung war es, dass in der Nähe ein Zombie verendet war, dessen Fleisch er essen konnte. Ob er die darauffolgende Vergiftung überleben würde, wusste Takjin nicht.
Nachdem der Schwächeanfall langsam verging, sah er sich um und stellte fest, dass das Tal ihm zuvor aus einem guten Grund wie ein Zimmer erschienen war: Die Wände waren mit Bruchstein ausgebaut und sehr regelmäßig. Offenbar hatte jemand den Boden des Tals künstlich erweitert, um einen runden, kleinen Raum zu schaffen.
Das einzige Mobiliar war jedoch nur eine Truhe, eine schwarze Kiste genau gegenüber von der Strickleiter.
Takjin schaute aus blutunterlaufenen Augen zu der Truhe. Vielleicht war es ja nicht nötig, dass er sich nach draußen begab. Vielleicht … nur vielleicht …
Er wollte sich hochdrücken, aber seine Arme knickten unter ihm ein. Die unüberlegte Hast ließ ihn schmerzhaft auf den Boden prallen, die Erschütterung sandte Schmerzblitze in Takjins linke Flanke und durch den zerbissenen Arm. Er schrie heiser, dann wimmerte er, das Gesicht gegen den harten Stein gedrückt. Er konnte sich nicht rühren. Die Schmerzen spülten über ihn hinweg wie Wellen am Strand, kein Muskeln wollte Takjin gehorchen. Er atmete gegen den Boden, schmeckte Steinstaub im Mund. Ein Narr war er gewesen, zu glauben, dass er diesen Raum verlassen könnte, geschweige denn Jagen oder Plündern. Es wäre ein Wunder, wenn er die schwarze Kiste erreichte.
Irgendwann zwang Takjin sich, den Kopf wieder zu heben. Die Kiste war nicht näher gekommen, im Gegenteil erschien sie ihm nun noch weiter entfernt. Doch er konnte nicht auf dem Boden liegen bleiben. Mit einem gedämpften Knurren streckte er den gesunden, linken Arm aus und suchte auf dem glatten Boden nach Halt, den er nicht fand. Dann spreizte er die Finger, um sie an den Stein zu heften und zog links, während er gleichzeitig rechts drückte.
Seine linke Seite schien aufzureißen, sein rechter Arm in Millionen von Splittern zu zerbersten. Takjin schrie und weinte und keuchte, weil ihm keine Luft für weiteres Schreien blieb. Seine linke Hand rutschte über den Boden, die rechte wollte nachgeben, in seinem Kopf pochte es.
Dann fiel er nach vorne und kam auf dem Boden zum Liegen, ein Stückchen näher an der Kiste. Sein Atem ging schwer. In seinen Ohren rauschte es wie bei einem Starkregen.
Langsam, voller Angst vor dem, was er zu sehen bekommen würde, hob er den Kopf und stierte zwischen den tanzenden Punkten hindurch zur Kiste. Hatte er sich überhaupt vorwärts bewegt? Sein Magen knurrte, seine Arme zitterten vor Anstrengung. Tränen sammelten sich in Takjins Augen, doch sie liefen nicht über, als ob sein Körper instinktiv alle Flüssigkeit bei sich behalten wollte.
Takjin wimmerte. Die Schmerzen rissen ihn entzwei. Er fühlte sich, als wäre er längst tot, würde nur noch das Unvermeidliche hinauszögern.
Dann streckte er die rechte Hand aus, registrierte nur am Rande das ganze Blut und die tiefen Wunden im Fleisch. Er spreizte die Finger, presste sie gegen den Steinboden, zog und drückte sich dabei links vorwärts …
Einmal wurde er vor lauter Erschöpfung kurz ohnmächtig, doch schließlich gelangte Takjin bei der Kiste an. Er kämpfte sich in eine sitzende Position hoch, den Rücken an die Wand gelehnt, dann griff er endlich nach dem Deckel der Truhe, in die er all seine Hoffnungen setzen musste. Die Kiste war kalt und glatt, aus einem Material, das er nicht kannte. Holz war es auf alle Fälle nicht. Der Deckel war so schwer, dass Takjin sieben Anläufe brauchte, bis endlich, endlich der Deckel gegen die Wand schlug und offen blieb.
Am Ende seiner Kräfte klammerte sich Takjin an den Kistenrand und spähte in das düstere Innere der Truhe. Die Kiste war leer – beinahe. Am Boden sah Takjin einige Bücher und Schriftrollen, dazwischen schließlich fand er einen Beutel. Er griff danach und zog das Bündel weißen Stoffs in seinen Schoß. Für einen Moment saß er einfach da, die Augen geschlossen. Blut rauschte in seinen Ohren. Inzwischen wurde es düster in der kleinen Höhle.
Mit steifen und ungeschickten Fingern öffnete Takjin den Beutel. Sein Blick fiel auf Glasflaschen. Gefüllte Glasflaschen. Mit Etiketten.
Hort, der Bibliothekar von Birkengrund, hatte Takjin einmal das Lesen beigebracht. Wie auch die anderen im Dorf hatte er seine Ausbildung abgebrochen, nachdem Takjin keine besondere Begabung gezeigt hatte. Trotzdem, die Buchstaben kannte der Junge noch, und so konnte er die Aufschriften auf den Flaschen entziffern, selbst im Dämmerlicht, selbst mit seinen juckenden, tränenden Augen.
Nachtsicht, stand da, oder Feuerimmunität. Doch dann traf Takjin auf einen Trank, der mit Heilung beschriftet war.
Mit schwachen Fingern entkorke er das Fläschchen und roch einmal an der rosafarbenen Flüssigkeit darin. Sein Magen knurrte vor Hunger so heftig, dass Takjin das Fläschchen um ein Haar fallen gelassen hatte. Er zuckte mit den Schultern, schloss die Augen und kippte das Gebräu herunter, ohne noch einen Gedanken zu verschwenden. Es gab nichts zu verlieren.
Die Wirkung kam sofort. Ein warmes Gefühl breitete sich in Takjins Körper aus und floss kribbelnd bis in die Finger- und Zehenspitzen. Er keuchte überrascht, denn es fühlte sich an, als ob man sein Innerstes mit warmem Honig durchspülte. Fast sofort begann er zu schwitzen und zu zittern. Das kleine Zimmer versank in einer Art Nebel, der Takjin völlig umhüllte. Der Junge merkte, dass er in sich zusammensank.
War es eine Falle gewesen? Falls der angebliche Heiltrank Gift enthielt, so war dieser Tod allemal besser als das Verhungern. Takjin fühlte sich müde, geborgen und absolut sicher. Er schloss die Augen und sank auf den Boden. Sogar ein Lächeln brachte er zustande, während er in einen Traum hinüberglitt, fort aus dem kleinen Tal und zurück in glücklichere Zeiten.
Der Traum war wortlos, alle Gestalten darin ohne Gesicht. Takjin schwebte durch einen Reigen bunter Farben und wusste irgendwie, dass er in Birkengrund war. Schatten und Luftzüge kamen vorbei: Andere Kinder, mit denen er spielte, wohl auch die ein oder andere frühkindliche Liebe. Er sprang durch Weizenfelder, durch den Wald, badete im Sonnenschein im warmen Wasser des Sees, ging in jenes Haus, um etwas zu essen, bekam dort eine Hose geschenkt oder ein Stöckchen, um gemeinsam mit den anderen Jäger und Monster zu spielen.
Takjin durchträumte seine Kindheit, doch als schließlich das Erwachen dämmerte, mischten sich dunklere Farben in das Lichtspiel. Er erinnerte sich wieder an seine Flucht, an den Verrat, und endlich wunderte er sich auch, dass die Traumwelt so ganz ohne Stimmen und Formen auskam.
Er wachte auf und fühlte sich immer noch müde, doch die giftige Schwäche und die Schmerzen waren fort.