Takjin las die Botschaft und stürzte dann zur Kiste. Wie der Fremde versprochen hatte, fand er darin einige Möhren und Fleisch. Hungrig schlang er beides herunter und leckte sich dann die Finger ab. Es fühlte sich gut an, seinen hungrigen Magen endlich beruhigt zu haben.
Danach erst wandte Takjin sich Dokarestmus' Bitte zu, für ihn Hasenpfoten zu jagen. Takjin wühlte in dem Trankbeutel, bis er zwei Fläschchen mit der Aufschrift „Unsichtbarkeit“ gefunden hatte.
Neugierig inspizierte er die durchscheinende Flüssigkeit im Inneren. Ein wenig mulmig war ihm schon bei dem Gedanken, dem unbekannten Dokarestmus einfach so zu vertrauen. Wenn nun der Mann wirklich ein böser Magier war und Takjin ihm zur Flucht aus einem Gefängnis verhalf? Oder schlimmer noch, zur Herrschaft über die Welt?
Andererseits – was sollten einige Hasenpfoten und etwas Zucker schon Böses bewirken können? Takjin nahm die erste Flasche in die Hand und trat so bewaffnet, mit dem Schwert in der anderen Hand, zum Ausgang.
Er entkorkte die Flasche und trank sie mit zwei Schlucken leer. Die Flüssigkeit rann kalt durch Takjins Kehle, er spürte, wie die Kälte sich in jede Faser seines Körpers ausbreitete. Sein gesamter Körper fing an zu kribbeln.
Takjin bekam Angst. Wenn er nun Gift getrunken hatte? War Dokarestmus' Freundlichkeit nur eine Falle gewesen?
Er hob eine Hand vor die Augen und starrte darauf, denn unter seinem Blick wurde seine Haut immer heller und heller. Takjin konnte plötzlich seine Adern, dann sogar blass und grau die Knochen in seinem Arm erkennen.
Dann sah er überhaupt nichts mehr von seinem Arm, nur die Steinwand dahinter.
Als er an sich herab sah, konnte er nur das Schwert sehen, das scheinbar in der Luft schwebte. Takjin konnte seine Finger am Griff fühlen, doch er konnte sie nicht sehen. Seine Hose und sein Hemd waren verschwunden, die neuen Beinschienen aus Krokodilsleder waren jedoch gut zu sehen, also legte Takjin sie ab.
„Es funktioniert!“, flüsterte er leise.
Vollkommen unsichtbar kletterte er die Leiter hinauf, kroch durch die Falltür und richtete sich dann auf. Er stand in einem kleinen Dickicht und hatte die weite Ebene des Moores vor sich. Langsam ging Takjin hinaus. Eine Ente lief vorbei, ohne ihn zu beachten. Takjin wusste, dass das noch nicht viel bedeutete. Um die Wirksamkeit des Trankes auszutesten, musste er schon auf Kaninchenjagd gehen oder sich sogar einem Krokodil nähern. Der letzte Gedanke gefiel ihm nicht, und er beschloss, sich nur auf die Suche nach Hasen zu machen. So leise wie möglich huschte er über den Sumpfboden und näherte sich dann dem Birkenwald.
Während er suchte und suchte, fragte er sich im Stillen, wo Birkengrund wohl lag. Das Dorf befand sich irgendwo im Wald, doch Takjin erinnerte sich nicht mehr, welchen Weg er während seiner langen Flucht gelaufen war. Ob er das Dorf jemals wiederfinden würde?
Und wollte er das?
Plötzlich bemerkte er eine Bewegung vor sich. Takjin ging hinter einem Baum in Deckung und spähte nach vorne. Ein braunes Kaninchen hoppelte vor ihm über die Lichtung, blieb stehen, sah sich schnuppernd um und hoppelte weiter.
Takjin folgte der gesichteten Beute mit angehaltenem Atem. Der Hase drehte sich wieder um und Takjin erstarrte, denn er stand ohne jeden Schutz im hellen Sonnenlicht. Die schwarzen Knopfaugen des Kaninchens glitten jedoch nur über sein Holzschwert, neugierig und verwirrt.
Takjin atmete leise aus und setzte langsam einen Fuß vor. Er versuchte, nicht in das weiche Gesicht des Hasen zu sehen. Langsam hob er das Schwert über den Kopf. Der Hase rührte sich immer noch nicht.
Takjin schloss die Augen und wandte den Kopf ab.
Dann schlug er zu.
Etwa eine halbe Stunde später befanden sich vier Hasenpfoten in seinem Besitz, dazu ein Stückchen rohen Fleisches und etwas Hasenfell. Takjin hatte die Beute fachgerecht zerlegt und war dann vor Reue in Tränen ausgebrochen. Er hatte nie zuvor etwas getötet, das nicht zuerst ihn angegriffen hatte.
Dann hatte er sich aufgerafft, die Beute eingepackt und war zurück in den Sumpf gelaufen, wo er sich bessere Chancen auf Zuckerrohr erhoffte. Das Gewicht des selbst erlegten Fleisches im Gepäck, so traurig dessen Ursprung auch war, erfüllte ihn mit neuer Zuversicht und einem gänzlich unbekannten Selbstbewusstsein. Er hatte sein Abendessen selbst erlegt. Damit war er doch schon fast ein richtiger Jäger, fähig, in der Wildnis zu überleben und sich gegen jedes Übel zu wehren.
Er pfiff fröhlich, während er nun durch den Sumpf lief und nach Zuckerrohr Ausschau hielt. Schließlich entdeckte er mehrere Rohre und lief vorwärts, um sie zu pflücken.
Unvermittelt hörte er ein Zischen und hielt mitten in der Arbeit inne.
Langsam wandte Takjin den Kopf und fand sich Auge in Auge mit einer großen, hellbraunen Echse. Der Komododrache zischelte, eine lange, dünne und hellrote Zunge glitt witternd aus seinem Maul. Die schwarzen Augen blinzelten in Takjins Richtung.
Das Herz schlug dem Jungen bis zum Hals. Die Komodos waren recht langsam und ihre Bisse nicht stark, aber er wusste, dass ihr Gift sie zu tödlichen Jägern machte. Eine Bisswunde würde sich unweigerlich entzünden. Wenn Takjin nicht viel Glück hatte, würde er irgendwo im Sumpf vom Fieber gebeutelt zusammenbrechen, einen Gestank ausströmend, der den Komodowaran zu seinem geschwächten, hilflosem Körper führen würde. Es hieß, die riesigen Echsen begännen mit dem Fressen, während das Opfer noch lebte.
Unangenehm deutlich stellte sich Takjin die Frage, wie lange die Unsichtbarkeit anhielt. Das Monster konnte ihn riechen, aber konnte es ihn auch sehen? Takjin sah auf das Zuckerrohr in seinen Händen, das dem Gegner seine Position verriet, und ließ es fallen. Der Komodo fauchte und kam watschelnd näher, sein Kopf pendelte suchend hin und her.
Takjin war noch unsichtbar. Geschützt gegen giftige Bisse war er trotzdem nicht. Langsam griff er nach dem Kaninchenfell und zerknüllte es in seiner Hand. Der Blick des Komodos richtete sich auf die kleine Kugel hellen Fells.
Takjin stand starr am Ufer eines kleinen Sees und atmete flach. Mit einer hastigen Bewegung schleuderte er das Kaninchenfell von sich.
Wie gehofft schoss der Waran los, dem Fell hinterher. Er wirbelte Dreck in die Höhe, der Takjin an der Brust und ihm Gesicht traf. Der Junge rührte sich eine weitere Sekunde lang nicht. Dann raffte er das Zuckerrohr zusammen und sprintete in die entgegengesetzte Richtung, wo die Höhle lag.
Bevor er diese erreichen konnte, fand er sich unvermittelt einer Gruppe von Krokodilen gegenüber, die direkt vor dem Wäldchen in der Sonne badeten. Takjin keuchte. Er wagte sich nicht zwischen den fünf großen Echsen hindurch – wenn sie ihn witterten oder spürten oder wenn der Trank nachließ, wäre er verloren!
Verzweifelt bemühte er sich, einen Rest des Selbstbewusstseins nach der erfolgreichen Jagd herauf zu beschwören. Er konnte nicht ewig warten. Es würde dunkel werden, irgendwann würde die Wirkung des Tranks nachlassen und dann säße er hier draußen fest, sichtbar für alle Monster.
Takjin packte das Schwert und trat auf die Reptilien zu, die ihm den Weg versperrten.
Er schlug dem ersten auf den Kopf, zertrümmerte dessen Schädel und ging direkt zum nächsten, während die anderen vier sich noch über den unvermittelten Tod des Kollegen wunderten. Takjin stach mit aller Kraft zu und versenkte sein Schwert bis zum Heft im Kopf des zweiten Reptils.
Er zerrte an der Waffe. Die drei übrigen Krokodile traten kriechend, jedoch in erstaunlichem Tempo, die Flucht an.
„Und lasst euch hier nie wieder blicken!“, rief Takjin ihnen nach und wedelte mit dem blutbesudelten Schwert. Er fühlte sich wieder mutiger und betrachtete die beiden toten Krokodile. Seiner Meinung nach konnte er stolz auf sich sein.
Er schleppte auch diese Beute unter einigen Mühen in die kleine Höhle. Während er die Krokodile häutete, tauchten seine Hände schließlich wieder im Spektrum des Sichtbaren auf. Takjin hängte die Häute zum Trocknen auf, um sich später vielleicht ein Hemd daraus zu machen, das ihn besser schützte als sein jetziges, und schaffte Knochen und Fleisch nach draußen. Dann zerstampfte er das Zuckerrohr mit einem Stein zu Zucker, während draußen die Nacht aufzog. Am Ende hockte er sich in den blassen Schein der Kiste und schrieb mühsam eine Nachricht an Dokarestmus.
Hallo Dokarestmus. Der Name war das Schwierigste, was Takjin je hatte schreiben müssen.
Hier sind die Hahsenpfoten und der Zucker. Mehr konnte ich nicht kriegen. Da ist auch ein Stück Fleisch. Ich hab keinen Ofen und keinen Feuerstein. Kannst du es für mich brahten? Bitte.
Ich hab einen Trank getrunken. Den anderen hab ich noch.
Takjin.