Der Schreck, den Kyle ihr absichtlich eingejagt hatte, saß Sakura noch in den Knochen. Dazu kam die traurige Gewissheit – obwohl sie es doch bereits geahnt hatte – das Kyle einem anderem Pferd gehörte: Dem eigensinnigen, selbstbewussten Echo.
Das Erlebnis in der Halle und ihr Treffen mit Echo hatten ihr eine unverrückbare Tatsache vor Augen geführt: Kyle war nicht ihr Reiter. Kyle würde sie heilen, und dann würde er aus ihrem Leben verschwinden. Oh, natürlich bestand die Möglichkeit, dass er sie und Amelie besuchen kommen würde, dass es gemeinsame Ritte geben würde, Treffen, eine lang anhaltende Freundschaft.
Aber Kyle würde zu Echo zurückkehren. Er würde irgendwann aufhören, jeden Tag bei Sakura zu sein.
Das stimmte sie traurig. Und dabei wusste sie, dass Kyle ihr ein viel größeres Geschenk machte: Er gab ihr Amelie zurück, ihre geliebte, wunderbare Reiterin Amelie.
Doch Sakura wollte auch Kyle nicht verlieren.
Deswegen erzitterte ihr Herz mit einer merkwürdigen Mischung als Wehmut und Freude, als es jetzt, nach einer weiteren bestandenen Prüfung, zum nächsten Schritt ging.
Kyle hatte bewiesen, dass Amelie im Notfall reagieren konnte. Und jetzt ging es aus der Halle heraus, hinaus ins Freie.
Kyle ritt voraus, lässig im Sattel des fuchsfalben Echo. Sakura folgte dem Pony mit zögerlichen Huftritten, setzte die Hufe so elegant voreinander auf, als ginge es auf einen Turnierplatz.
Amelie, ihre wundervolle Amelie, bemerkte die Angst ihrer Stute, beugte sich vor und klopfte beruhigend ihren Hals.
„Wir schaffen das, Sakura. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen würden!“
Die Selbstsicherheit war zurück in Amelies Stimme, aber darunter lag noch Nervösität. Sakura spielte mit den Ohren. Sie vertraute Amelie ein Stück mehr, nach deren Reaktion im Stall, aber reichte das für das Draußen, diesen beängstigenden Ort voller Überraschungen? Den Ort, wo der Unfall geschehen war?
Noch bevor sie den Hof verlassen hatten, fiel Echo in einen drängenden Trab – ohne Kyles Anleitung, wie Sakura sah. Wieso überließ dieser gute Reiter seinem Pferd die Führung? Echo hatte einen eigenen Kopf, ja, aber Kyle war doch stärker als sein Pferd!
Aber Kyle beherrschte Echo nicht, wie Sakura bald aufging. Kyle beherrschte sein Pferd nur dort, wo es notwendig wurde, sonst nicht. Und bei Sakura war diese Beherrschung immer notwendig gewesen, sie war nicht fähig gewesen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Genau wie Amelie, so musste auch Sakura das Vertrauen zurückgewinnen, das ihr im Vertrag zwischen Pferd und Reiter zustand.
Sie folgte Echo aus dem Hof und bog mit ihm in einen kleinen Waldweg ein, überschattet von dichten Baumkronen, durch die das Sonnenlicht sanft und weich auf den Boden fiel. Echo verschärfte sein Tempo noch, und er war so schnell, dass Sakura bald dicht am Galopp stand. Sie merkte, wie Wärme in ihr aufstieg, aber Kyles Training hatte sie wieder ausdauernd gemacht. Sie folgte Echo, trabend, die Hufe federnd auf dem Waldboden.
Eine ganze Weile ging der Trab voran, leicht bergauf, immer der Sonne entgegen. Sakuras Muskeln wurden lockerer, und ähnliches ging mit Amelie vor. Die verkrampfte Position ihrer Reiterin sank nach hinten, Amelies Gewicht, zuerst losgelöst von Sakuras Schritten, ein Hindernis, gegen das sie ankämpfen musste, ruhte bald auf dem hinteren Teil des Sattels, ging mit ihrem Schwung, trug sie vorwärts.
Kyle brach aus dem Wald aus, lenkte Echo auf ein weites Feld voller Blumen, das Sakura nur allzu schmerzlich vertraut war. Aber die Sonne schien, und der Wind brachte Kühlung.
Echos Hufschlag veränderte sich. Für wenige Sprünge fiel er in einen schwerfälligen, ungeschickten Galopp. Es reichte, damit Sakura einfiel, vorwärts sprang, den Kopf hoch zum Wind erhoben. Amelie auf ihrem Rücken fasste die Zügel etwas fester, doch sie bremste Sakura nicht. Echo fiel zurück in den Trab, aber im Trab war er schneller als im Galopp – das hatte Sakura noch nie erlebt. Sie sprang über dem Feld dahin, während Echo neben ihr hoppelte, mit schnellen, hastigen Schritten, auf gleicher Höhe wie sie.
Sie hörte, dass Kyle eine Herausforderung rief, verstand aber die Worte nicht. Doch Amelie antwortete: „Das denkst du dir so! Vorwärts, Sakura! Schneller!“
Die Zustimmung ihrer Reiterin war alles, was gefehlt hatte. Sakura warf den Kopf nach vorne, streckte den Hals und die Beine, rannte, als gäbe es keinen Boden mehr, als hätte sie Flügel.
Sie war frei, die Luft war süß in ihrem Nüstern. Weit ausgreifend flog sie über dem Feld dahin. Amelie beugte sich vor, trieb Sakura mit der Stimme, mit dem Schnacken der Zügel weiter. Und mit ihrem Atem, der im Rhythmus zu Sakuras Sprüngen ging, ein wenig schneller sogar, um Sakura anzutreiben.
Schon waren sie über die Steigung der grünen Wiese hinweg und der Hang neigte sich, unwiderruflich, unwiderbringlich dem tiefen Graben im Schatten der Dornenbüsche entgegen, jenem dunkeldurchwehten Schnitt in der Landschaft, dem kräftigen Grün, dem hohen Gras um den Bachlauf.
Die Angst trug Sakura in schwindelerregende Höhe, und im Herzen erstarrte sie, wie auch Amelie auf ihrem Rücken erstarrte. Sie waren ein Stein, ins Rollen geraten, von der Lawine mitgerissen – und dort, dort lauerte der Ort, der Bachlauf, die Neigung mit den steilen Hängen, das flache Wasser, tief ins Bett eingegraben, kalt und kühl.
Sakura spürte ihre eigenen Hufe nicht mehr. Sie kam am Bachlauf an, viel zu früh, sprang zu spät, sprang ungeschickt.
Der Flug: Ein Rauschen, schwerelos, losgelöst, ohne Halt.
Dann die Landung: Wegbrechen, Stolpern, ein Rutschen, das nicht ihr gehörte. Wild mit den Hufen trampeln, Halt suchen am glatten Hang, Rutschen, Stürzen.
Ein Schrei. Ein markerschütternder Schrei und etwas unter ihren Hufen, das nicht Erde war und nicht Wasser, nicht Stock und nicht Stein.
Sondern Amelie.
Wasser spritzte, und Amelie schrie so durchdringend.
Dann kamen Sakuras Hufe auf den Boden auf.
Sie prallte gegen den festen Grund, noch aufrecht, und Amelie saß noch im Sattel.
Es war ein Traum gewesen, ein Alptraum, nicht die Wahrheit. Nur eine Erinnerung.
Amelie saß fest im Sattel, festgebunden, Amelie hatte die Kontrolle. Und Sakura, Sakura flog. Sie flog mit den Flügeln eines Vogels, mit den Schwingen eines Schmetterlings, ließ den Graben hinter sich, ließ die Erinnerung und den Unfall hinter sich und flog weiter, durch den Wald, über den schmalen Pfad, flog, dass ihre Mähne wie ein Banner wehte.
Sie war frei. Sie flog dem Schrecken davon und entkam ihm.
Amelie, nachdem die bedrückende Angst gewichen war, brach in Jubel aus.