Es war Kyle, der Sakura am nächsten Tag aus der Box führte. Für einige Herzschläge war sie verwirrt. War sie jetzt zurück auf dem Hof der Qualen? War ihre Begegnung mit Amelie, die Heimkehr nur ein Traum gewesen, ein grausames Gaukelspiel des Schicksals?
Doch sie erkannte den Stall wieder, jede Unebenheit des Steinbodens, die anderen Pferde und die Gerüche.
Kyle führte sie nach draußen und band Sakura an einen Holzbalken, so wie es jedes Mal vor dem Reiten geschehen war.
Nervösität regte sich in Sakuras Eingeweiden wie ein Wurm. Was plante Kyle jetzt?
Doch er verschwand, und als er zurückkehrte, war er in Begleitung von Amelie. Sakura schnaubte erfreut, obwohl sie durchaus die Box in Amelies Händen bemerkte, die Kiste mit Bürsten, die bedeutete, dass das Reiten kurz bevor stand.
„Wir fangen ganz langsam an“, erklärte Kyle mit seiner ruhigen Stimme, leise, aber dennoch gut zu verstehen. „Striegel sie einfach nur.“
Amelie nickte mit fest zusammengepressten Lippen, dann rollte sie ihr quietschendes Metallding entschlossen auf Sakura zu – etwas zu entschlossen. Die ruckartigen Bewegungen des Metalldings ließen Sakura scheuen. Sie wich zurück, und Amelie tat es ihr spiegelbildlich gleich.
Sofort war Kyle zwischen ihnen. „Langsam, meine Damen, langsam!“
Er streichelte Sakura und redete dabei mit Amelie. Sakura bemerkte sofort, wie sich Kyles Aufmerksamkeit teilte, wie er versuchte, sie beide gleichzeitig in seinen seltsamen, beruhigenden Bann zu ziehen.
Das schwächte den Zauber.
Doch Amelie rollte wieder nach vorne, diesmal langsamer. Sakura spürte, wie die kalten Finger ihrer Reiterin ihr Fell berührten und die Haare glätteten. Dann begann Amelie zu striegeln, genau wie am Vortag. Das Metallding umkreiste Sakura langsam, mit Amelie darin.
„Kommst du an den Rücken?“, fragte Kyle.
„Nein“, sagte Amelie mit einem seltsamen Tonfall, fast ein wenig weinerlich und mit einem Unterton, als breche sie einen Teil von sich ab. „Ich werde dafür Hilfe brauchen. Ich kann Sakura nie mehr alleine striegeln.“
„Das werden wir sehen“, sagte Kyle, aber auf eine Weise, die Amelie nicht zu einer Antwort brachte, sondern die deutlich machte, dass er für's Erste akzeptierte, was sie sagte. „Dann versuch es mit den Hufen.“
„Ich bin noch nicht fertig!“, erwiderte Amelie und Sakura zuckte vor ihrem bissigen Tonfall zusammen. War die Bürste mit einem Mal zu Draht geworden? Warum tat das Striegeln plötzlich so weh?
Amelies Striche waren grob und lieblos geworden. Sakura stand stocksteif da und wartete, dass alles vorbei wäre, doch Amelie ließ sich absichtlich Zeit.
„Die Hufe, jetzt“, sagte Kyle nach einer Weile, und Amelie gehorchte. Sie rollte zu der Kiste, tauschte Bürste gegen Hufkratzer und kam zurück.
Sakura zögerte, ihren Huf zu heben. Sie hasste es, nur auf drei Beinen zu stehen. Als Amelie ihren Huf anhob, stellte Sakura außerdem fest, dass ihre Reiterin schwankte. Nein, sie schwankte nicht: Sie rutschte fort, und Sakuras Huf gleich hinterher!
Sakura riss ihr Bein zurück und setzte es ab. Das war ja schlimmer als der eine Tag, wo alle Wege gefroren gewesen waren! Ihr Herz raste jetzt.
„Dummes Tier!“, schimpfte Amelie. Aber Amelie schimpfte doch sonst nicht so schnell! Sakura war vollkommen verwirrt. Was war nur aus ihrer geliebten Reiterin geworden?
„Komm, ich mache das“, bot Kyle an, und Sakura wollte ihm zustimmen. Lass den starken, sanften Kyle das machen, Amelie, bitte!
Doch Amelie war jetzt wütend. Sie rollte wieder nach vorne und zog Sakura den Huf weg. Die Stute geriet ins Stolpern und machte einen unsicheren Hüpfer in Amelies Richtung. Die stieß einen spitzen Schrei aus und ließ Sakuras Huf fahren, während Sakura sich in die andere Richtung warf und gegen Kyle krachte, der ihnen zu Hilfe eilen wollte.
Einen Moment herrschte Verwirrung, dann hatte Amelie sich in Sicherheit gebracht und Kyle hielt Sakura fest, bis sie sich beruhigt hatte.
„Ihr beide braucht noch Zeit, das sagte ich doch!“, erklärte er Amelie mit einer Heftigkeit in der Stimme, die Sakura ihm niemals zugetraut hätte.
Amelie schmiss den Hufkratzer auf den Boden. „Mir doch egal! Ich bin keine Reiterin mehr! Du kannst das Vieh behalten!“
Sie rollte in ihrem quietschenden Ding davon und Sakura sah ihr nach. Sie wollte ihre Reiterin rufen, aber plötzlich traute sie ihrem eigenen Wiehern nicht mehr.
In ihrer Brust saß ein tiefer Schmerz, als ob etwas gerissen wäre. Amelie sah kein einziges Mal zurück.