Ich war vergangene Nacht einem Wesen begegnet, das so wenig menschlich war, wie mein Traum nur eine Illusion. In all meinen Knochen fühlte ich eine Veränderung, seit ich aufgewacht war. Etwas war anders. Etwas würde niemals mehr wie früher sein. Doch wieso? Wie viel mochte ein Traum schon bedeuten?
Angespannt sah ich der Düsterfee am anderen Ende des Zimmers dabei zu, wie sie eine Rolle aus Pergament vor sich ausbreitete und langsam nach und nach verschiedene Dinge darauf positionierte: den Schädel eines Dachshundes, die Klaue eines Wolfs, einen Stein vom Grund des Meeres, den Zahn eines Haifischs und eine schmalhalsige Karaffe, in der sich ein gräuliches Pulver befand. Ich wusste, es waren zermahlene Knochen, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, von welchem Tier sie stammten. Die Reihenfolge und Ordnung der zu positionierenden Gegenstände war mir geläufig, auch wenn ich sie nicht verstand. Das Pergament symbolisierte verschiedene machtvolle Instrumente der magischen Welt. Den Mond, der für die Reise der Seele stand. Die Sonne verkörperte die Zukunft. Und das Wasser, dargestellt als Wasserfall, mimte eine Wendung. Etwas, das alles überschatten oder mit neuem Licht fluten konnte.
Als ich den Blick hob bemerkte ich, dass die Düsterfee, die vor mir saß, mich ebenfalls musterte. Ihr Name war Selinia. Ich kannte sie, aber wir wussten nicht viel voneinander. In meiner Zeit hier innerhalb der Klostermauern pflegte ich hauptsächlich Kontakt zu den älteren Feen und Mönchen, die mir viel beibringen konnten. Selinia war jung, und schön. Ihr langes, fast weißblondes Haar fiel ihr wie ein Wasserfall auf die Schultern, wo es sich in seichten Wellen hinabschlängelte bis auf die Tischplatte.
Sofort schaute ich weg. Ich wusste, dass sie konzentriert sein musste, um einen Blick in die Zukunft zu werfen, und wollte keinesfalls der Grund dafür sein, dass die Geister ihr Gesuch ablehnten. Dennoch gelang es mir nicht lange. Aus den Augenwinkeln schielte ich zurück zu ihr und als ich bemerkte, dass sie mich noch immer ansah. Meine Verlegenheit und meine Unfähigkeit, fortzusehen, entlockten ihr ein Lächeln. Mit einer kleinen Geste winkte sie mich herbei und bedeutete mir, mich zu ihr zu setzen.
Ich stand auf, ließ den Blick durch die kleine Bibliothek schweifen, in der außer uns beiden nur noch zwei alte Mönche saßen und über einem Brief brüteten, den sie einem der vielen fahrenden Händler mitgeben wollten, die uns Anfang und Mitte des Monats stets einmal belieferten. Sie brachten Lebensmittel, Kleider und unbekannte Kostbarkeiten von den Schiffen mit, in Tajola am Hafen anlegten. Durch sie waren wir ein bisschen weniger vom Rest der Welt abgeschnitten.
Das Kloster lag direkt jenseits einer Bergkette im Südwesten des Landes Buna. Die Natur hier war rau und trist. Nur wenige Blumenarten und noch weniger Bäume und Sträucher schafften es, die trockene Erde aufzubrechen und sich der Sonne entgegenzustrecken. Felsen und Steine, Geröll und winzige Wasserfälle- und Rinnsäle, die sich ins Tal hinabstürzten, prägten die Landschaft rund um das Kloster, bis zu Meer. Obwohl sich die Tage meist warm und sonnig zeigten, waren die Nächte rau und vom Wasser her wehte eine steife Brise kühle Luft ins Landesinnere. Zweimal im Monat ein paar andere Gesichter zu sehen, war uns allen eine willkommene Abwechslung.
Langsam näherte ich mich dem Tisch, an dem die Fee saß, schob den Stuhl ihr gegenüber zurück und ließ mich darauf nieder. Ich blickte sie über die Tischplatte hinweg an und versuchte einzuschätzen, wie alt sie wohl sein mochte. Optisch wirkte sie jung, aber Düsterfeen alterten, genau wie alle anderen Feenarten, sehr viel langsamer als wir Menschen. Sie konnte durchaus schon hundert Jahre alt sein, oder älter.
»Hallo, Erias«, begrüßte sie mich und kleidete ihre Lippen in ein verspieltes kleines Lächeln. »Du hast mir zugesehen. Interessiert dich, was ich mache?«
Ich nickte, und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Ich weiß, was das ist«, entgegnete ich mit einem angedeuteten Nicken auf die Karte und die seltsamen Gegenstände darauf. »Du sprichst mit Geistern.«
»Bist du abergläubisch?«, wisperte sie, doch ihr Lächeln wich keinen Augenblick aus ihrem Gesicht. Im Gegenteil - etwas schien sie zu amüsieren.
»Ich glaube an die Geisterwelt«, gestand ich schließlich. »So, wie ich auch an Feen und Magie glaube, und an Engel und Dämonen. Aber ich glaube nicht daran, dass du in die Zukunft sehen kannst.«
»Das kann ich auch nicht.« Selinias Mundwinkel zuckten. Lässig lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück. Er knarrte, als sie sich gegen die Lehne drückte, die Hände auf dem Tisch faltete und den Kopf leicht zur Seite neigte. »Das kann niemand. Nur echte Magie kann wahre Wunder vollbringen.«
»Beherrschst du echte Magie?«, hakte ich ein wenig verunsichert nach.
Die Mönche lebten seit jeher mit den Düsterfeen gemeinsam auf diesem Anwesen. Sie beschützten einander und gaben ihre Geheimnisse und Weisheiten vereint an die nächsten Generationen weiter. Und dennoch unterschieden sie sich in einem ganz entscheidenden Punkt: Die Mönche gehörten zur Menschenwelt. Sie glaubten an sterbliche Götter, an Schicksal und erdgebundene Dinge. In ihren Gebeten ging es um Ernte, um Gesundheit und Frieden. Die Düsterfeen waren Teil der magischen Welt. Auch wenn sie aussahen wie Menschen, sich wie Menschen bewegten und wie wir sprachen, waren sie dennoch etwas vollkommen anderes. Ihr Glaube richtete sich ganz und gar an die Gebote der Natur. Was eins mit der Natur war, hatte sich den Gesetzen der Natur zu unterwerfen, und sollte durch sie gerichtet werden. Würden Düsterfeen beten, dann nur für den Erhalt dieser wunderschönen Welt. Sie waren zu sehr mit der Zauberei verwurzelt, um jemals einen Wunsch an irgendeine Gottheit richten zu können.
»Du meinst«, griff sie meinen Gedanken auf, »ob ich dich in einen Frosch oder Wasser in Wein verwandeln kann?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich kann deine Gefühle spüren. Ich weiß, dass du voller Fragen steckst, und dir deine Götter keine Antwort darauf geben können. Ich weiß, du hast nicht zufällig zu mir herübergesehen, und du bist auch nicht hergekommen, weil du dich mit mir unterhalten wolltest. Du würdest gerne wissen, ob ich dir deine Frage beantworten kann.« In ihren eisblauen Augen blitzte es herausfordernd auf. »Ja, das kann ich. Aber bist du dir sicher, dass es tatsächlich Antworten sind, die du suchst, und nicht das große Vergessen oder Ablenkung?«
Nein, sicher war ich mir nicht. Nachdem ich aufgewacht und aufgestanden war, hatte ich die Decke meines Bettes zurückgeschlagen und den merkwürdigen Traum schon fast aus meinen Gedanken verbannt, als ich bemerkte, dass das Laken über und über mit schwarzen Federn bedeckt war. War das, was ich nur für einen Traum gehalten hatte, vielleicht viel mehr als das gewesen? Eine Botschaft? Eine Drohung? War ich in Gefahr? Und wer war der Mann, dem ich begegnet war, und der offenbar so vieles über mich wusste, von dem ich keine Ahnung hatte?
»Ich hatte einen verstörenden Traum«, sagte ich leise. »Ich bin einem Wesen begegnet, dem ich nie zuvor begegnet bin, und habe das Gefühl, hinter alledem steckt mehr als ein Traum.«
»Ein Wesen? Welcher Art?«»Er sah aus wie ein Mensch.« Ich seufzte. »Aber er war etwas anderes. Als ich ihn fand, da.. war er ein Rabe an einer Kette. Und nachdem ich sie zerrissen habe, verwandelte er sich in einen Mann. Aber ich habe gespürt, dass er etwas anderes war. Etwas Größeres.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Ein Rabe, der sich in einen Menschen verwandelte?«, hakte sie nach. »Für mich klingt das zu fantastisch um etwas anderes, als ein gewöhnlicher Traum zu sein. Findest du nicht auch?«
Konnte ich es wagen, ihr von den Federn zu erzählen? Oder würde sie mich für verrückt erklären?
Ich schaute sie an und versuchte ihr Wesen zu ergründen. Selinia und ich sprachen zum ersten Mal so lange miteinander heute. Wir waren stets wie Gespenster aneinander vorübergegangen. Interessiert hatte sie mich nie. Und doch war sie für mich heute wie ein gleißendes Licht aus dem Dunkel hervorgestochen. Unter allen Menschen und Feen, die ich heute getroffen hatte, war sie die Einzige, die ein Gesicht besaß.
Durfte ich diesen Schicksalswink einfach missachten?
»Ich weiß nicht, was ich denken soll.« Würde ihr meine Antwort genügen? Nachdenklich schaute ich auf und versuchte, ihren Blick zu deuten. Ich tastete nach ihren Gedanken und fand ein friedliches, freundliches Wesen vor. Keine Spur von Missgunst oder Argwohn. »Ich dachte, du kannst deine Knochen vielleicht fragen, ob sie mir helfen können.«
»Die Knochen tun gar nichts. Sie bereiten dich nur auf eine Reise vor. Natürlich kann ich für dich deuten, aber es wäre möglich, dass dir die Antwort nicht gefällt, die sie dir geben. Wer mit den Mächten der magischen Welt spielt«, drohte sie, »kann ihre Wut zu spüren bekommen. Es sind schon Menschen verrückt geworden, die ihre Zukunft erfahren haben. Ist es dir dieses Risiko wert?«
Seit ich wusste, dass ich das Kloster verlassen musste, glaubte ich ohnehin nicht mehr daran, dass mir eine freundliche Zukunft bevorstand. Dieser Traum mochte nicht viel bedeuten, aber mir war er ein dunkles Omen, und wenn es schlecht um mich stand, dann wollte ich vorbereitet sein, um mich zur Wehr setzen zu können.
Ich nickte langsam und Selinia hob den Marderschädel in die Hand und bettete ihn auf ihre Handfläche. Sie wählte die Linke. In der magischen Welt war es üblich, Zauber mit links zu vollziehen. Ich sah sie die Augen schließen und spürte sogleich, dass ihre Gedanken die irdische Welt verließen. Wie unsichtbare Winde stiegen sie in die Lüfte auf, zerstreuten sich und wirbelten formlos durch das große Nichts der Erde. Sie seufzte. Ihre Schultern sackten herab, ihre Atmung wurde langsamer und fließender und irgendetwas schwirrte in ihrem Inneren wie das Herz eines Schmetterlings.
»Du wirst einen Freund verlieren«, flüsterte sie mit schwerer Stimme. »Und einen Neuen gewinnen. Alles, was du hast und bist, wird dir entrissen. Du wirst sterben und als ein Anderer wiederkehren. Gestärkt durch Rad des Schicksals wirst du eine Aufgabe bewältigen, die nur du erfüllen kannst.« Ihre Augen öffneten sich, aber es waren nicht mehr ihre Augen. Das Eisblau war fort. Schneeweiße Leere herrschte in ihrem Blick. Die Nebel, zu denen ihr Geist geworden war, spiegelten sich darin wieder. Plötzlich zuckten ihre Lider. Sie sog energisch Luft zwischen den Zähnen ein, fuhr nach vorne und berührte mit ihren Fingern meine. »Du«, fuhr sie fort, während mich die eiskalten Blicke ihrer Totenaugen fixierten, »bist einem Geist aus tiefster Vergangenheit begegnet und hast dich an seinem Blut vergiftet. Jetzt und für immer. Sein, bis du endest, oder die Welt ein Ende findet. Hast du mich verstanden?«
Ich nickte. Abrupt riss ich meine Hände fort. Ihre Finger waren eiskalt. »Ja, ich.. ich denke schon.«
Sie blinzelte und die hauchfeinen weißen Nebel verschwanden aus ihrem Blick. Für einen Augenblick lang starrte sie mich fragend an, dann zog sich das Blau zurück in ihre Iris, wie Tinte sich durch ein Pergament fraß, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Nun«, schmunzelte sie. »Mehr ist da nicht. Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr verraten kann, als du bereits gewusst hast.« Sie lehnte sich wieder zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und hob stolz das Kinn in die Luft. »Wenn du also nichts anderes mehr von mir wissen willst, oder die Kunst, Naturgesänge zu hören, erlernen willst, kann ich, fürchte ich, nichts weiter für dich tun.«
Und doch hatte sie längst genug getan. Vielleicht wusste sie nicht einmal, wie eisig die Schauer waren, die meinen Rücken hinunterrannen.
Ich deutete ein Nicken an, stand auf und schob den Stuhl ran. »Danke«, murmelte ich. »Vielleicht sehen wir uns später.«
»Ja«, erwiderte sie. »Das wäre nett.«
Ich drehte auf dem Absatz um und stürmte schnellen Schrittes durch den Raum, über den Gang, die Treppe hinab, bis in den Korridor hinein, von dem rechter Hand mein Zimmer abzweigte. In meiner Brust schlug das Herz wilder als letzte Nacht in dieser Höhle. Das Entsetzen über diese finstere Offenbarung war mir durch Mark und Bein gedrungen. Rasch öffnete ich die Tür, stürzte in mein Schlafgemach und warf mich von innen gegen die schwere Holztür.
Atemzug um Atemzug passierte meine Lippen. Ich schloss die Augen, zählte in Gedanken wieder und wieder bis zehn. Dann erst, begann sich mein Herzschlag langsam zu beruhigen. Ich schlug die Lider hoch und wollte zu meinem Bett hinübergehen, als mir abermals die Kinnlade hinunterklappte.
Das Laken war von dunklen Federn bedeckt.