Sakuras drängende Frage nach dem Wann ihres Endes wurde schon am nächsten Abend beantwortet: Jetzt.
Sie hörte die Menschen reden. Viele der Worte kannte sie nicht, aber es war dennoch überdeutlich, dass ihr Schicksal entschieden war. Sie sollte abgeholt werden, der Wagen wäre bald da.
Jetzt, wo das Unvermeidliche so nah gerückt war, empfand Sakura eine seltsame Mischung aus Angst und Erleichterung, von der ihre Beine ganz schwach wurden. Es war vorbei! Nur noch ein paar Stunden, und Sakura, die Stute, wäre nicht mehr. Der Abdecker würde sie von den Alpträumen befreien.
Es dauerte nicht lange, bis Sakura fernes Motorengeräusch hörte, dann das unverkennbare Knirschen von Kies unter Reifen. Die Pferde im Stall schnaubten unruhig, wichen zurück oder legten die Ohren an. Der schwarze Wagen war da.
Ein Mensch kam den Gang entlang und legte Sakura ein Halfter um. Sie rührte sich nicht, nur ihre Ohren zuckten nervös. Würde es weh tun? Ihre Angst wuchs. Als der Mann heftig an ihrem Strick ruckte, warf Sakura den Kopf hoch. Ihr Herz schlug wild vor Angst. Vielleicht wollte sie doch lieber leben und um dieses Leben kämpfen!
Der Strick wurde dem Mann aus der Hand gerissen, der fluchend die Stalltür zuschlug. Ein paar andere Pferde erschraken. Sakura stand schnaubend da und versuchte, sich von dem Halfter zu befreien. Keine Halfter mehr, nie wieder! Sie hörte Schreie, die niemand sonst hören konnte – Schreie aus der Vergangenheit.
Dann spürte sie eine Hand auf ihrem Nüstern. Eine warme, sanfte Hand. Als sie die Augen aufschlug, war der seltsame Mann zurückgekehrt, der vom gestrigen Abend.
Sie konnte endlich sein Gesicht sehen, mit der dunklen Kopfmähne und einem Ausdruck, der für Menschen Ernst bedeutete. Aber Sakura erkannte ihn insbesondere an seiner Art, daran, wie er gleichzeitig sanft und stark war, schüchtern und mutig, leise und doch alle Aufmerksamkeit auf sich ziehend.
Er sprach leise auf sie ein.
„Ich bin Kyle“, sagte der junge Mann. „Hab keine Angst.“
Sakura schnaubte ergeben. Nein, sie fürchtete sich nicht mehr. Sie ließ es zu, dass Kyle ihren Strick ergriff, dann zog er sie hinter sich her.
Folgsam trottete sie ihm nach, aus dem Stall heraus und nach draußen.
Die Sonne ging gerade unter, und ihre Strahlen färbten den Himmel in ein sanftes Rosa, wie die Kirschblüten, denen Sakura ihren Namen verdankte. Gegen den sanften Himmel waren die schwarzen Schatten von Stall und dem Wagen mit Anhänger harte, unangenehme Kontraste. Kyle, der direkt neben Sakura ging, war wieder ein dunkler Schatten geworden, nicht zu erkennen im schwachen Licht.
Er ging neben ihr. Nicht vor ihr, wie es sonst war, wenn jemand sie am Strick führte. Nein, er spazierte direkt an ihrer Seite, passte seine Schritte ihren Hufen an.
Sakura sah auf den schwarzen Wagen mit Anhänger, der genau im Ausgang stand, dort, wo der Zaun, der den Platz umgab, sich öffnete zu Wiesen und Feldern.
Der Wind trug ihr den stechenden Geruch nach Angst und Tod entgegen. Mit plötzlichem Entsetzen scheute die Stute und warf den Kopf hoch. Nein! Nein, sie wollte doch nicht sterben! Sie wollte die Freiheit, Sie wollte Freiheit und Vergessen – doch leider ging nur eines von Beidem.
Kyle ging unerschütterlich weiter. Der eben so sanfte Mensch zeigte mit einem Mal eine Kraft, der sich Sakura nicht erwehren konnte. Er zerrte sie weiter, und hätte es vielleicht sogar gekonnt, wenn sich Sakura auf den Boden geworfen hätte. Ihr blieb nichts übrig, als Kyle zu folgen, auf den offenen Anhänger zu. Das Herz bebte ihr in der Brust.
Vorbei. Es war alles vorbei.
Dann ging Kyle neben dem Wagen weiter, ohne anzuhalten oder sein Tempo auch nur zu verändern. Er ging immer noch so, wie er eben gegangen war, an Sakuras Seite, sein Schritt im Schritt mit ihrem.
Sie folgte ihm, setzte fast mechanisch Huf vor Huf.
Was geschah hier? Warum ging es an dem Wagen vorbei?
Kyle ging immer weiter, und plötzlich lagen die Wiesen vor Sakura. Weideflächen, Wege aus Erde, ein kleines Wäldchen am Horizont. Sie folgte Kyle, und mit einem Mal schien es ihr, als würde die Sonne wieder aufgehen, als würde die Welt heller werden.
Der Wind roch nach Freiheit.