(Schwester steht für Krankenschwester und heißt heute Gesundheits- und Krankenpflegerin)
Wie jeden Tag arbeitete ich als Schwesternschülerin in der chirurgischen Station. Leute mit Tumoren, Krebs und anderen Krankheiten wurden hier behandelt. Schwester Alice war eine Krankenschwester mit Herz und Seele. Jeder hatte Respekt vor ihr. Sie brachte mir alles bei, was ich in diesen Beruf wissen musste...
"Stellen Sie sich nicht vor, dass hier ein Patient liegt, sondern dass Sie hier liegen. Behandeln Sie die Leute so, wie Sie auch behandelt werden wollen!"
So war sie... gerecht, aber auch streng. Ich weiß noch, wie sie in das Ärztezimmer gegangen ist und zu den Ärzten sagte: "Heben Sie Ihre Beine vom Tisch oder haben Sie nichts besseres zu tun? Draußen warten Ihre Patienten!" Das war so typisch für sie.
Mir gefiel es auf dieser Station. Ich lernte sehr viel dort - zum Beispiel mit Leben und Tod umzugehen, auch wenn es nicht immer einfach war. Es war ein schwerer Prozess den Menschen wirklich zuzuhören und ihre Leiden zu verstehen. Nie hätte ich gedacht, dass ich irgendeine Krankheit miterleben muss... und nun saß ich diesem Zimmer.
Eines morgens war mir ein Knoten in meiner Brust aufgefallen. Ich hatte Angst, denn ich wusste ja durch meine Ausbildung, was es alles sein könnte. Meine Befürchtungen bewahrheiten sich. "Sie haben wirklich einen Knoten in der Brust. Sie wissen als auszubildende Schwester, dass er gut- oder bösartig sein kann. Ist er gutartig, so ist der Knoten nur eine mit Flüssigkeit gefüllte Zyste. Wenn nicht..." Der Arzt wurde ruhig. Die Stille war furchtbar. Ich hätte schreien können, doch ich bekam kein Ton heraus. Mein Herz klopfte wie wild. Ich hatte nur einen Gedanken. Bitte kein Krebs! Schon sprach der Arzt weiter. "Wenn nicht haben wir die Möglichkeit der Bestrahlung oder einer radikalen Operation." Es kam mir so vor, als fiel ich in ein tiefes schwarzes Loch. "Sie meinen, dass Sie mir eine Brust entfernen würden?" Er senkte seinen Kopf. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wollte nur noch raus aus diesem Zimmer und stand auf. Der Arzt sagte zwar noch etwas, aber ich hörte gar nicht mehr zu. Weinend rannte ich aus dem Raum. Meine Brust fing an zu schmerzen. Ich rannte und rannte. Vorbei an Ärzten und Schwestern, Patienten und Besuchern, bis ich das Schwesternzimmer erreichte. Niemand war da. Ich ging zur Wand und setzte mich auf dem Fußboden. Meine Brust schmerzte immer mehr. Plötzlich ging die Tür auf und jemand kam auf mich zu. Es war Schwester Alice. "Was ist los Kindchen?" Ein Schluchzer entwich mir. "Ich werde sterben." Sie sah mich an. "Wer sagt das?"
"Ich war gerade bei Doktor Meier. Ich habe Brustkrebs. Ich werde sterben!" Tränen liefen über mein Gesicht. "Wie kommen Sie darauf, dass Sie sterben müssen?" Ich war entsetzt. Eine Wut stieg in mir hoch. Wie konnte sie sowas nur fragen? Sie sah mir in meine Augen. "So schnell kommt der Tod nicht."
"Wie können Sie sowas sagen? Ich habe Krebs!"
"Den kann man besiegen."
"Was? Sie können gar nicht mitreden. Sie wissen nicht, wie ich mich fühle!" Ihre Augen funkelten. Sie stand auf und öffnete ihren Kittel. Ich war geschockt. Statt Brüsten sah ich zwei Narben. "Ich weiß, wie man sich fühlt, doch habe nie die Hoffnung aufgegeben!" Ich schwieg. "Es gibt immer Hoffnung...wenn man sich selbst nicht aufgibt!" Mit meinem Handrücken wischte ich mir die Tränen weg und sah sie an. "So ist es richtig. Kommen Sie, stehen Sie auf!"
Seit diesem Tag war sie mein Vorbild. Sie stand mir immer zur Seite, auch als man mir die Brust entfernte und die Chemotherapie begann. Immer, wenn ich ins Zweifeln kam, gab sie mir neuen Mut.
Nun stehe ich vor ihrem Grabstein. Drei Tage nachdem Doktor Meier mir sagte, dass ich den Krebs besiegt habe, verlor Schwester Alice ihren Kampf. Der Krebs war stärker.
Sie starb und ich lebe weiter.
Ende
In Gedenken an Schwester Alice