Langsam normalisierte sich mein Leben wieder. Ich konnte auch wieder lachen und Spaß mit anderen haben. Vor allem aber machte ich nicht mehr einen großen Bogen um jede männliche Person, die in mein Blickfeld geriet. Da ich im Religionsunterricht sowieso neben einem männlichen Individuum namens Leon platziert war, war das ohnehin nicht einfach. Nach der zweiten Stunde in diesem Schuljahr standen wir zufällig nebeneinander und auf einmal kam er mir so riesig vor und wir haben geschaut, wo seine Hüfte bei mir ist. War grad blöderweise auf Brusthöhe. Er hatte gerade seine Hand so da, als dann meine Freundin Hanna kam, mich wegzerrte und meinte, wir sollen aufhören zu fummeln. Aber das hatte er nicht! Er hatte mich ja noch nicht einmal berührt. Oder ich hatte es nicht gemerkt, weil der Cup vom BH zu dick war; das meinte jedenfalls Hanna. Damit wurde ich dann die ganze Zeit aufgezogen. Aber ernsthaft, als ob ich mich von jemandem anfassen ließe, der nicht Luke ist.
Mit meiner Mutter verstand ich mich mal wieder wirklich richtig gut. Eines Abends hatten wir das Gespräch des Jahrhunderts. Alles fing damit an, dass wir darüber redeten, warum meine Tage so komisch waren und sie meinte, dass das normal sei, dass sich das verschiebt, denn ich sei erst superaufgeregt, dann superglücklich und dann supertraurig gewesen; es könne aber auch durchaus mit dem Sex zusammenhängen. Dann sagte sie, dass sie jetzt etwas ganz Gemeines sagen könne, und ich wollte es unbedingt hören. Sie so:
»Ja, man könnte sagen, Luke hat dich zerrammelt.«
Daraufhin prusteten wir erstmal los. Ich bin so dankbar, mit ihr über sowas reden zu können, ohne vor Peinlichkeit im Boden versinken zu wollen. Vor allem weil ich dann ansprach, dass ich wirklich Angst hatte, schwanger zu sein, und mich hätte umbringen können, wenn es so gewesen wäre. Sie meinte dann ganz locker:
»Ach was. Ich mache meinen Laden zu und stattdessen Vollzeit-Oma. Groß werden sie alle irgendwie.«
Total cool. Aber ich war ja noch nicht mal in der Lage, auf fünf Haargummis aufzupassen, wie sollte das dann mit einem Kind werden?
Am sechsten Tag des Monats fingen dann die Probleme an. Ich machte mir Sorgen um Luke, da ich seit einer Woche nichts mehr von ihm gehört hatte. Entweder ihm war was passiert oder er ignorierte mich. Ich war low-key verzweifelt, als ich fragte, ob er noch lebe, aber er meldete sich daraufhin innerhalb weniger Stunden. Das Skypen blieb aus. Hm.
Als Emma und ich endlich mal wieder Zeit füreinander hatten und über alles reden konnten, teilte sie mir mit, dass sie der Meinung ist, Luke hätte zur Zeit einen negativen Einfluss auf mich. Dann hielt sie mir eine Moralpredigt. Aber er hatte mir doch erst signalisiert, dass ihm momentan alles zu viel sei.
»Zu viele Baustellen, zu wenig Fortschritt.«
Was genau er mit Baustellen meint, nein, das behielt Monsieur natürlich für sich! Offensichtlich war ihm entgangen, dass ich nicht in ihn reinschauen konnte. Wenn selbst ich ihm zu viel war, dann hätte er mir das sagen sollen, verdammt. Ich hätte ihn in Ruhe gelassen und Basta Pasta. Ein Problem weniger für ihn. Das Ding war ja, dass er sagte, ich solle ihm sagen, wenn mir etwas nicht passt und dann machte ich das und dann ist es auch wieder falsch! Hallo? Konnte der sich nicht mal entscheiden? Dann griff ich eben doch lieber auf meine Lieblingsmethode, die »Ich sage einfach nichts, dann kann ich auch nichts falsch machen«-Methode, zurück. Jawohl. Und dann seine Antworten! Konnte er nicht einfach mal etwas schreiben, was ich auch verstand? Er hätte doch einfach sagen können, was sein verdammtes Problem war und gut. Aber nein, darauf hatte Monsieur ja so gar keine Lust. Dieses ewige Herumgeeiere ging mir langsam aber sicher auf den Keks. Das war wie mit diesem verdammten Studium. Da wollte er unbedingt Physik studieren und dann ging er nicht zum Vorkurs. Er wusste doch, was auf ihn zukam und wenn er davor Angst hatte oder was weiß ich, dann hätte er es lassen sollen. Er konnte doch irgendwas anderes studieren, oder eben gar nicht studieren oder was auch immer. Verdammt, ich hatte keine Ahnung, was er eigentlich wollte. Luke ignorierte mich wieder. Aber das war nicht mein Problem. Vielleicht hatte Emma ja doch recht.
Den Tag danach gingen wir mit der Klasse zu einer Aufführung von Romeo und Julia in modern. Wir - das heißt Elena, Annie und ich - saßen in der ersten Reihe, ein paar Jungs hinter uns. Ich hatte meine Haare so über die Lehne des Stuhls gehängt und auf einmal sagte Georg hinter mir zu Stan und Leon, wie schöne Haare ich doch hätte. Dann haben alle Jungs erstmal meine Haare angefasst und gemeint, dass die so schön fluffig wären. Da habe ich mich gut gefühlt. Auch als wir aus dem Schauspielhaus raus sind: Es war ziemlich kalt und Max hat versucht, mich zu wärmen. Deswegen hat er mich in den Arm genommen während wir zum Bus liefen. Dann kam Leon dazu und sagte:
»Eyy, meine!«
Max stritt das ab, und ich nur so:
»Ja, genau, jetzt streitet euch noch um mich.«
Max daraufhin:
»Um deine bezaubernde Schönheit kann man sich nur streiten.«
Naw, wie süß. Später fragte mich Leon, was zwischen mir und Max liefe und ich wies das empört zurück. Hallo, es war Max. Da war nie etwas und da wird auch nie etwas sein. Verdammt, ich war mit Luke zusammen und nicht mit Max.
In der Schule war meine Laune oft auf dem Tiefpunkt. Eines Morgens waren Elena und ich auf dem Weg zu unserem Zimmer, als ein paar mir unbekannte Jungs auf mich zeigten und einer sagte:
»Na die hat ja richtig gute Laune.«
Ich dann zu Elena:
»Oh, wie toll, jetzt sehen mir schon Wildfremde meine miese Stimmung an. Also muss ich doch Wohl oder Übel lächeln.«
Es kommt selten vor, dass ich so richtig schlecht drauf bin, aber an diesem Morgen... oh Mann. Luke machte mich echt fertig. Ständig änderte er seine Meinung zu allem und jedem und keine Ahnung. Mal sehen, wann er dann wieder Nerven hatte, normal zu sein. Mann. Manchmal wünschte ich mir, dass er mehr für mich da sein könnte. Mir einfach mal zuhören. Aber naja. War nicht. Unglaublich, dass er mich zu solchen vor Egoismus triefenden Gedanken hinriss. Meine Mutter hatte recht, verdammt. Das durfte sie nicht wissen, und das nervte mich.
Mir ging es zeitweise so schlecht, dass ich nicht mal zur Schule ging. Das will was heißen, denn für gewöhnlich schleppe ich mich da noch halb tot hin, um nichts zu verpassen beziehungsweise nichts nachholen zu müssen. Aber manchmal tat mir die Ablenkung auch ganz gut.
Eines Montages spielten wir in Religion Weltcafé. In der ersten Runde, bei der Melli, Leon und ich an einem Tisch saßen, ging es um Abtreibung, und als Leon unser Platzdeckchen auswertete, sagte er so:
“Ja, also bei uns waren mehr für die Abtreibung und eher weniger dagegen. Okay, also eigentlich war nur Lucy dagegen.“
Toll, danke. In gespielter Empörung musste ich lachen, was nicht mehr so oft vorkam. Hanna und ich verstanden uns beim Thema Luke schon ohne Worte. Sie:
»Und, gibt es was Neues von Luke?«
Ich fasste mir an die Nase und wich ihrem Blick aus.
»Aha, alles klar. Was für ein Penner.«
Daraufhin musste ich allerdings meist lächeln, da etwaige Beleidigungen irgendwie etwas Komisches an sich haben.
Eine Mitschülerin schenkte mir eines Tages ein aus Chemie geklautes Filterpapier mit einem Herz darauf, in dem Lucy und Luke stand. Als ich das Elena zeigte, sah sie mich skeptisch an, klammerte Luke ein und schrieb Elena darunter. Oh Mann. Mir wurde eines klar: Ich hasse es, allein zu sein.
Luke half mir auch nicht weiter, da er noch pessimistischer an alles heranging als ich. Er konnte mir nicht mal eine einzige Sache nennen, die ihn glücklich macht/glücklich gemacht hatte. Na danke auch auch. Ich gab es auf. Ich ließ ihn einfach in Ruhe, fertig. Nichts auf der Welt konnte ihn glücklich machen, nichts. Es ging mir auf die Nerven, dass er mir nicht auf die Nerven ging. Wenn nicht einmal ich ihn glücklich machen konnte, wieso war er dann mit mir zusammen, verdammt? Es stand mir nicht zu, zu urteilen, aber ich hatte das Gefühl, dass ihm das Physikstudium nicht bekam. Erneut. Seit Wochen hatten wir kein gesprochenes Wort mehr gewechselt. Wir schrieben fast gar nicht, und wenn, dann nur darüber, wie schlecht es ihm ging. Zwischen uns war nichts mehr, nada. Die Zeit der Verliebtheit inklusive süßer Nachrichten war vorbei und jetzt stresste es mich schon. Aber was hätte es mir gebracht, Schluss zu machen. Also konnte ich es genauso gut laufen lassen. Ich war jeden Tag auf's Neue gespannt, wann sich Monsieur mal wieder melden würde. Ich habe gewettet, dass er vergäße, dass ich nach meinem Geburtstag erst auf Sprachreise in England und anschließend in Spanien sein würde. Ach, stimmt, meinen Geburtstag, den würde er ja auch vergessen. Traurig. Ich erwartete nichts mehr.
Eines Abends beim Essen fasste Mama Lukes Pullover, den ich trug, an und sagte: »Ah, Lukes Pullover!«
Sie erntete einen verstörten Blick von mir.
»Na, den hast du oft an, den liebst du.«
- »Äh, ja.«
»Na, das ist doch toll!«
- »Aaahaaa.«
Ich schaute wieder auf mein Essen und Mum sagte, dass ich schon die ganze Zeit so komisch wäre und garantiert irgendein Problem hätte oder etwas nicht stimmt. Ich dachte mir nur: Okay, sie darf niemals erfahren, was gerade mit Luke abgeht und dass ich deshalb permanent unglücklich bin. Erführe sie das, würde sie sagen, dass sie es mir doch gesagt hat und das wollte ich nicht. Später kam sie dann nochmal zu mir und meinte, dass ich auch mit ihr reden kann, wenn etwas nicht stimmt. Total lieb von ihr, aber ich konnte es ihr einfach nicht sagen.
Paar Tage später erhielt meine Mum eine ziemlich niederschlagende Diagnose, und wir waren alle fertig deswegen. Ich traute mich sogar, Luke (mit zwei Frage- und einem Ausrufezeichen) zu schreiben, dass es mir einfach nicht gut ging. Ich war sehr stolz auf mich, Emma auch, und ich fühlte mich geliebt. Mein Problem war, dass er mal in Ruhe reden wollte. Ich würde mir ganz genau überlegen müssen, was ich sagen wollte, sonst finge ich vermutlich an, rumzuschreien und unprofessionell zu werden. Eigentlich hatte ich gar keine Lust, ihm irgendwas zu erzählen. Er litt ja schon genug unter seinem Studium, dass er sich – Achja! - selbst ausgesucht hatte. Ich durfte mich nicht über die Schule beschweren, aber er sich über sein verdammtes Studium? Nein, Monsieur. Außerdem machte ich ihn ja sowieso nicht glücklich, also wozu reden? Ihn interessierte das doch nicht mal wirklich. Zumindest kam es so rüber. Noch war Emma optimistisch, was unsere Beziehung anging, und solange sie das war, war alles gut.
An dem Abend, an dem wir in Ruhe reden wollten, habe ich mit Yannik geskyped, da mir klar war, dass das mit dem Monsieur und mir nichts werden würde. Auch am nächsten Tag kein Sterbenswörtchen.
Zwei Tage später fand ich mich in meinem Bett wieder und hoffte, an meinem Schluchzen zu ersticken. Eigentlich habe ich total überreagiert. Aber selbst wenn ich das heute lese, fange ich sinnloserweise an zu weinen. Luke hatte nicht Schluss gemacht. Ich dachte zwar, dass er das getan hätte, hatte er aber nicht. Ich wusste, dass es besser für mich wäre, aber ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich war so verliebt in ihn, es war mir egal. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, nicht mehr zu warten. Mich nie mehr darauf freuen zu können, ihn zu sehen, mit ihm zu schlafen. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie es wäre, wenn ich wüsste, dass nie mehr eine Nachricht von ihm kommt. Ich hatte das Gefühl, diese ganze Misere war Schuld des Studiums. Gott, wie ich Physik verabscheute, wie ich es hasste. Es machte alles kaputt. (Ich verabscheue es heute immer noch.)
Am Tag darauf sagte eine Freundin zu mir, dass sie findet, ich sähe hübscher aus als sonst, eine andere fand, ich sähe anders aus als sonst, ich fand, dass ich scheiße aussah. Eigentlich wollte ich an diesem Tag auch mit meiner Mutter sprechen, aber es hatte sich nicht ergeben, ich war noch nicht bereit dazu.