Nachdem Conny das Krankenhauszimmer verlassen hatte, stand Tom müde aus dem Rollstuhl auf und trat näher an das Bett seiner Mutter. Seine Knie waren weich wie Pudding, und er drohte fast zu fallen. Nur mit Mühe fing er sich an der Bettkante und ließ sich schwach auf einen unbequemen Stuhl neben dem Bett sinken. Es kostete ihn Überwindung seine Mutter anzusehen. Mit geschlossenen Augen lag sie auf dem Rücken. Fast so bleich wie die Krankenhausbettwäsche weiß war. Ihr fahles blondes Haar rahmte das schmale Gesicht mit den eingefallenen Wangen ein und die dünnen Arme lagen rechts und links von ihrem Körper auf der Decke.
Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre und zog sie beinahe sofort erschrocken wieder zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt. Die Haut der Schlafenden fühlte sich trocken und knittrig wie Pergament an, ganz und gar nicht wie sich die Haut einer nicht mal fünfzigjährigen Frau anfühlen sollte. Er unterdrückte ein jähes Schluchzen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Unfähig neben seiner bewusstlosen Mutter auszuharren und sich zu fragen, wie ihr und sein Leben nur so verdammt schieflaufen konnte, wandte er sich ab. Sein schemenhaftes Spiegelbild in der Fensterscheibe erwiderte mutlos und geschlagen seinen Blick. Regentropfen klatschten leise gegen das Glas und rannen wie die dicken Tränen, die er sich nicht erlaubte, daran hinab.
Behutsam erhob er sich aus dem Stuhl, beugte sich über seine Mutter und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie verriet mit keiner Regung, ob sie ihren Sohn an ihrer Seite wusste und die zarte Liebkosung spüren konnte. Tom schluckte schwer. Mit brennenden Augen ließ er seinen Blick über ihre zarte Gestalt schweifen und wünschte sie würde durch seinen Blick aufwachen, wie damals, als er klein war und nachts vor ihrem Bett stand und wartete, bis sie, geweckt durch sein Starren, die Bettdecke hob und er darunter kroch und sich in ihre Arme kuschelte. In diesem Augenblick fragte er sich, ob sie jemals wieder erwachen würde, oder ob der gefürchtete Moment bereits gekommen war, in dem es nichts mehr für ihn zu tun gab, als sich zu verabschieden.
Leise Stimmen drangen in den Raum und er sah sich irritiert um. Doch es war niemand in das Krankenzimmer gekommen und er fragte sich, ob er sich die Stimmen nur einbildete, als er Aris und die Stimme ihrer Mutter identifizierte.
„Als sie damals die Diagnose bekam, hatte sie schon klargestellt, dass sie keine Chemo will", hörte er Cornelia traurig sagen. Er trat leise um das Bett und in Richtung Tür. Sie war nur angelehnt, stellte er etwas empört fest und fühlte sich in seiner Privatsphäre verletzte. Er fragte sich, ob Conny oder die andere Schwester die Tür absichtlich nicht richtig geschlossen hatten, falls etwas passierte und hoffte, sie hatten sein Schluchzen nicht gehört.
„Aber wieso?", fragte Ari, die die Motive seiner Mutter genauso wenig wie er selbst zu verstehen schien. Conny ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort. Vielleicht hatte sie zur Antwort nur mit den Schultern gezuckt, doch dann sprach sie doch, so leise, dass Tom die Worte kaum verstehen konnte.
„Sie wusste, dass es nichts gab, dass sie würde retten können. Und auch eine Chemotherapie, bei einem so aggressiven und destruktiven Krebs, ihre Zeit hier nur marginal verlängern konnte, dafür gleichzeitig aber auch ihre Lebensqualität extrem verschlechtern würde. Sie wollte die Monate, die ihr bleiben so normal wie möglich mit ihrem Sohn verbringen, ohne wahnsinnig viel Geld und Kraft in eine Therapie zu investieren, die ihr maximal Wochen verschaffen konnten. Die Chemo hätte sie geschwächt und sie hätte schlimme Schmerzen erlitten."
Ari antwortete nicht und auch Toms Hals war wie zugeschnürt. Er hatte seine Mutter ständig angefleht zur Chemo zu gehen und ihr nicht zugehört. Diese Worte aus Connys Mund zu hören taten weh. Insbesondere wegen der verlorenen Zeit, die er selbst seiner Mutter mit ihm vorenthalten hatte. Wie oft war er aus ihrer Wohnung geflohen, hatte sich für ein paar traurige Piepen verdreschen lassen und sich ständig nur in seinem eigenen Leid gesuhlt, ohne richtig für seine Mutter da zu sein. Stattdessen hatte er zugelassen, dass sie sich um ihn kümmerte, wenn er verletzte nach Hause kroch. Und nun lag sie in einem Krankenhausbett, aus dem sie vielleicht nieder herauskommen würde. Zitternd vor Wut auf sich selbst, ballte er die Fäuste und wünschte sich schon wieder irgendetwas oder irgendjemanden auf den er einschlagen konnte, bis ihn die Kraft verließ. Er warf einen erneut langen Blick auf seine still daliegende Mutter, die aussah, als weilte sie bereits nicht mehr unter den Lebenden.
Das Brennen in seinen Augen und seiner Brust drohte übermächtig zu werden und bevor es ihn überwältigen konnte, riss er die Tür auf und sah sich den beiden anderen Frauen gegenüber, die sein Leben bestimmten. Erschrocken und voller Mitleid starrten sie ihn an, doch er empfand in diesem Moment jegliche Anteilnahme als unerträglich, wusste er doch, dass sie keine Ahnung hatten, wie er sich fühlte und womit er rang. So stürmte er nur an ihnen vorbei. Raus. Scheiß auf den Regen, er musste hier raus.
„Tom", rief Ari ihm nach und er meinte Angst und Sorge zu hören, wie so oft, wenn sie seinen Namen sagte. Ein tiefe Dunkelheit loderte in ihm auf und färbte seine Gedanken Rot und Schwarz, Blut und Tod. Abrupt drehte er sich auf dem Absatz zu ihr um und funkelte sie an.
„Lass mich endlich in Ruhe!", fuhr er sie barsch an. Ihre Augen weiteten sich und jedes weitere Wort schien ihr im Halse stecken zu bleiben. Er sah deutlich die Pein, die seine Worte verursachten. Etwas schien in ihr zu zerspringen, doch es war zu spät. Hastig drehte er sich wieder um, und floh durch den Flur, der ihm immer dunkler, länger und enger zu werden schien, einem blassen Licht entgegen, von dem er sich keine lindernde Wirkung erwartete.
Die Qual in ihrem Gesicht und die Wut über sich selbst und die Ungerechtigkeit der Welt und des Lebens drohten ihn zu ersticken. Luft. Er verzehrte sich nach frischer Luft, frei von dem allgegenwärtigen Krankenhausgeruch. Er musste das Gefühl der kraftlosen, kalten Hand seiner sterbenden Mutter verdrängen und ballte die Faust, mit der er ihre Hand gehalten hatte so fest, dass es weh tat. Blind stürmte Thomas durch die Gänge, am Fahrstuhl vorbei, um bloß keinem anderen Menschen zu begegnen, durch die Tür zum Treppenhaus. Er wollte die Treppen immer mehrere Stufen auf einmal nehmend hinunterrennen, doch der Schmerz in seinem Brustkorb riss ihn unsanft aus der rot verschleierten Sphäre des Zorns in die Wirklichkeit dieses Abends zurück und erinnerte ihn an seine Niederlage und die Verletzungen, die er sich im Kampf zugezogen hatte, wenige Stunden zuvor. Keuchend hielt er sich die Seite und ließ sich auf die kalten Betonstufen sinken. Er schloss die Augen und versuchte ruhiger zu atmen. Sie ist noch nicht tot. Du hast noch eine Chance es wieder gut zu machen.
Als seine Knie nicht mehr zitterten, stand er langsam wieder auf und ging den Treppenabsatz behutsamer hinab. Auf der nächsten Etage angekommen, trat er durch die Tür ins Krankenhausinnere, um doch den Fahrstuhl ins Erdgeschoss zu nehmen. Er musste nicht lange warten und die Türen den Lift schoben sich vor ihm auseinander und offenbarten eine leere Kabine. Er wählte die Taste für das EG und lautlos schlossen sich die Türen hinter ihm und der Lift setzte sich mit einem leichten Ruck in Bewegung. Tom nahm nur kurz seine Gestalt im Spiegel an der rückwärtigen Seite wahr und wandte sich hastig ab. Er konnte sein Gesicht nicht ertragen und wollte gar nicht wissen wie er gerade aussah. Wie war es Ari nur möglich ihn ohne Abscheu und Mitleid anzusehen?
Als sich die Türen wieder öffneten, lief er direkt zum Nebenausgang, Richtung Parkanlage, an der westlichen Seite des weitläufigen Eingangsbereichs des Hauptgebäudes, zwischen einem kleinen Café und einem Geschäft mit lauter Genesungskarten und Plüschtieren, die längst geschlossen waren. Die Dunkelheit umfing ihn kühl und feucht und Tom hatte das Gefühl endlich frei atmen zu können. Er trat unter dem Vordach hervor und in den leichten Regen. Er hob den Kopf und die Hände zum Himmel und genoss die kalten Regentropfen, und stellte sich vor, sie würden die Wut und den Geruch von Tod und Krankheit von ihm abwaschen, wenn er es nur lange genug zuließ.
Sein Atem normalisierte sich langsam, der Schmerz ebbte ab und die Kälte der Septembernacht kroch ihm langsam in die Knochen. Sie störte ihn nicht. Er hieß sie sogar als angenehme Abwechslung zur Hitze seines üblichen Schmerzes, verursacht durch Prellungen, Blessuren und Hämatome, willkommen. Thomas blinzelte durch den Regen in die rötlich schimmernden Wolken. Kein Mond, keine Sterne. Wehmütig geisterte eine Erinnerung an eine verregnete Nacht aus einer längst vergangenen, unbeschwerten Zeit durch seine Gedanken; die Uni, das Teleskop, seine Photographien, das Dach des Wohnheims, Septemberregen, ein bildhübsches rothaariges Mädchen in einem schrecklichen weißen Kleid.
Er wünschte so sehr endlich aus diesem Alptraum zu erwachen. Die Augen in seinem schmalen Bett im Wohnheim aufzuschlagen und die Arme fester um Ari zu schlingen, die nackt und friedlich neben ihm schläft. Damals, bevor sein Leben aus den Fugen geraten war, nachdem der verschlingende Krebs seiner Mutter diagnostiziert worden war, der sie schon beinahe mit Haut und Haar gefressen hat. Bevor er die Uni geschmissen hatte, um sie zu pflegen. Bevor er sich naiv und ohne richtig trainiert worden zu sein, auf Cage Fights außerhalb gewerteter Wettkämpfe einließ, um an etwas Geld zu kommen und die stets knappe Haushaltskasse während der medizinischen Betreuung seiner Mutter zu unterstützen.
Am Ende kam kaum Kohle dabei rum, doch Tom war außerstande aufzuhören. Spätestens nach dem dritten Kampf, den er gegen jede Erwartung gewonnen hatte, hatte er auf eine Weise Blut geleckt, die er sich kaum selbst eingestehen konnte. Er genoss zunehmend die zügellose Gewalt, die er austeilen konnte, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, sowie den Schmerz, zugefügt durch die harten Schläge und Tritte seiner Gegner, der alle bedrückenden Gedanken an zu Hause überlagerte und ihn für kurze Zeit befreite. Die zumindest teilweise kontrollierte und gelenkte Gewalt gegen einen Menschen half ihm, seine Wut zu kanalisieren und nicht völlig überzuschnappen. Er konnte nicht sagen, ob ansonsten nicht längst vor der ausweglosen Situation kapituliert und wer weiß was getan hätte.
Und so ließ er immer wieder und immer mehr zu, dass seine kranke, schwächer werdende Mutter sich um ihn kümmerte, statt umgekehrt, wie es sein sollte und später nach Conny und schließlich ihrer Tochter schickte. Spätestens seitdem er in Connys Tochter das Mädchen aus jener Nacht wiedererkannt hatte, ging es rapide bergab, begriff er, als er langsam durch die Dunkelheit des Parks ging. Und obwohl er es in gewisser Weise an ihr ausließ, konnte er ihr nicht die Schuld an seinem Verfall geben, obwohl es dann womöglich so viel einfacher hätte sein können. Doch letztlich war er es selbst, der sich immer häufiger selbst dabei ertappte, seine Deckung fallen zu lassen und Verletzungen fast schon zu provozieren, nur damit die junge Frau gezwungen war zu ihm zu kommen. Bei ihm zu sein. Ihn zu berühren...
Hatte er sich überhaupt einmal bei ihr bedankt, nachdem sie wegen ihm mitten in der Nacht das Haus oder eine Party mit ihren Freunden verlassen musste? Wo sie doch die Freitagabende hätte genießen, lernen oder wenigstens friedlich schlafen sollen, um sich von ihrem anstrengenden Studium zu erholen.
Oft genug hatte nach leichten Kämpfen erwogen, sich selbst zu verletzen. Um eine Ausrede zu generieren, die es ihm ermöglichte, sie zu sehen. Er hatte genau gewusst, dass das Mädchen immer noch was für ihn übrig hatte und nicht zögern würde, an seine Seite zu eilen, wenn er sie brauchte.
Er stöhnte gequält, fassungslos im Augenblick der eigenen Erleuchtung, ob seiner verdrehten Psyche und Moral.
Letztlich half ihm weniger das Wissen um seine latente Verhaltensstörung, diese Impulse zu unterdrücken, sondern das Verständnis für Aris eigene Lage: ihr anspruchsvolles, zeit-, lern- und arbeitsintensives Studium. Er durfte ihr nicht im Wege stehen und wollte sie nicht ablenken. Nicht zu sehr jedenfalls. Und obwohl es ihn zerriss, war er sich schon vor einer Weile bewusst geworden, dass es besser für sie war, seine unterkühlte Art, die Distanz ihr gegenüber aufrechtzuerhalten, und sich hinter einer stummen Fassade zu verbergen, während er wie ein Süchtiger nach jede Sekunde ihrer Anwesenheit lechzte, jede noch so leichte oder schmerzhafte Berührung ihrer Hände auf seinem geschundenen Körper genoss. In diesem Augenblick, kam Thomas das Mädchen wie eine extrem suchterzeugende Droge vor, die so süß, jedoch auch so teuer und schwer beschaffbar war, dass er sie sich nur selten leisten konnte – und durfte, wollte er nicht völlig abstürzen.
Tom blieb stehen. Der Regen war in ein leichtes Tröpfeln übergegangen und ein kühler Wind blies ihm ins nasse Gesicht. Wann war er das letzte Mal so wach, so bei Bewusstsein gewesen? Er verstand und erkannte genau was mit ihm nicht stimmte, doch er war sich nicht sicher, ob die gewonnenen Erkenntnisse ihn über diese Nacht hinaus erhalten bleiben würden und heilen könnten. Er wollte Aris Leben nicht versauen oder verkomplizieren, indem er sie in seine verkorkste Situation hineinzog. Die ständige Trauer, Wut und Verzweiflung. Und seine Art, damit klar zu kommen, ohne den Verstand zu verlieren. Sie würde sich nur noch mehr um ihn Sorgen, wenn sie seine Motive für die Kämpfe kannte und versuchen, ihn davon abzubringen. Doch er konnte nicht aufhören. Er brauchte den Schmerz und die Linderung, durch sie. Deshalb musste er sie vor der Wahrheit schützen, damit sie sich auf die Uni konzentrieren konnte. Er würde sie nur runterziehen, wenn er sich ihr gegenüber öffnete. Dabei sollte sie doch Spaß haben, diese Zeit genießen, mit Freunden was unternehmen, feiern und einen Freund haben, der ihr all das bieten, sie unterstützen und aufbauen konnte. Und nicht jemanden wie ihn. Der ihr nichts davon geben konnte.
Er schloss die Augen und atmete tief ein. Erneut wünschte er sich, einfach nur zu erwachen. Doch die kalte Nacht hielt ihn eisern in der Realität fest. Er seufzte und setzte sich wieder in Bewegung, ohne seinen Füßen eine bestimmte Richtung vorzugeben. Sie trugen ihn zurück zum Hauptgebäude. Er wusste nicht, wie lange er draußen gewesen und wie weit er gelaufen war, doch er bewegte sich aus einer anderen Richtung auf das Gebäude zu, aus dem er zuvor geflohen war. Vor ihm ragte der stets beleuchtet Haupteingang mit seinem terrassenartigen Eingangsbereich aus der Dunkelheit. Einige Parkbänke, Parkplätze und eine Reihe Fahrradständer befanden sich davor. In einiger Entfernung, auf einer mauerartigen Einfriedung einer großen Eiche, saß Ari mit baumelnden Beinen und rauchte. Sie sah nicht in seine Richtung, sondern saß halb abgewandt und schien in die Finsternis zu starren. Abgesehen davon, dass sie die einzige Person hier draußen war, hatte Thomas sie trotzdem sofort erkannt. Wahrscheinlich würde er sie überall, auch in einer dichten Menschenmenge sofort erkennen, als wäre seine innere Kompassnadel stets auf dieses Mädchen ausgerichtet.
Ohne zu wissen, ob es klug war und was er sagen oder tun sollte, ging er auf sie zu und ignorierte die einsetzende Nervosität, die sein Herz schneller schlagen ließ. Wortlos lehnte er sich neben ihr an die Mauer und hob den Blick zu den dunklen Wolken, die alle Sterne ausschlossen und nur das Licht der Stadt rötlich schimmernd reflektierten. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel, doch sie reagierte nicht auf ihn und zog langsam an ihrer Zigarette. Tom biss sich auf die Lippe. Er sollte irgendwas sagen, aber was? ‚Entschuldigen wäre ein Anfang,' soufflierte sein schlechtes Gewissen und er nickte zustimmend. Die Bewegung verleitete Ari zu einem kurzen, neugierigen Seitenblick. Doch sie blieb weiter stumm, während Tom Kraft sammelte.
„Tut mir leid... wegen vorhin", flüsterte er schließlich mit kratziger Stimme. „Ich war- " „Ein Arsch", unterbrach sie ihn. „Schon gut."
Er schluckte und sah sie an. Sie erwiderte seinen Blick ohne sichtbaren Groll. Ja, er war ein Arsch gewesen. Und ein Idiot. Plötzlich grinste sie leicht. Vielleicht dachte sie genau dasselbe. Aber zumindest hielt er sich vor einen Idioten, der es gut meinte. Was ihr jedoch nicht klar sein dürfte. Und wie sollte es auch? Doch wie konnte er ihr das begreiflich machen, ohne sich selbst noch viel tiefer in die Misere hinein zu manövrieren. Und vor allem, ohne sich von ihr davon überzeugen lassen - falls sie tatsächlich immer noch mehr für ihn empfand, als gut für sie war - dass sie das schon packen würde, mit der Uni und einem depressiven Mann, der sich selbst mit Cage Fights therapierte.
„Hast du vielleicht noch eine von diesen bolschewistischen Selbstgedrehten?", fragte er demütig und brachte sie mit der Formulierung, einem Zitat aus McEwans Abbitte, zum Lachen. Sie hob ihre linke Hand, die bis eben in ihrem Schoß geruht hatte, und offenbarte ihm eine bereits gedrehte Zigarette und ein kleines grünes Feuerzeug. Tom fragte sich, ob sie bereits für ihn bestimmt gewesen war, als Ari sie gedreht hatte, sprach die Frage aber nicht laut aus. Er konnte nicht leugnen, dass ihm der Gedanke gefiel. Als ob sie wüsste, dass er früher oder später zu ihr kommen würde. Wie eine Motte zum Feuer.
Nach einigen Minuten, als seine Zigarette halb aufgerauchte war und ihre längst ausgedrückt neben ihr auf der Mauer lag, saß sie noch immer ruhig neben ihn, ohne Anstalten zu machen aufzustehen und vor der Kälte nach drinnen oder nach Hause zu fliehen.
„Was machst du hier", fragte er, bemüht um einen beiläufigen Ton. Ari schenkte ihm einen verwunderten Blick und ein kleines Lächeln, bei dem er sich sofort irgendwie dumm vorkam.
„Na ich hab auf dich gewartet", sagte sie, als wäre es offensichtlich. Dabei empfand er es nach seinen Worten vor dem Krankenzimmer seiner Mutter als alles andere als selbstverständlich. Dennoch löste ihre Antwort einen Schwall Gefühle aus schlechtem Gewissen, Freude und Zufriedenheit in ihm aus, für die er sich sofort schämte.
Natürlich war sie nicht einfach beleidigt abgehauen. So war Ari einfach nicht. Er verspürte das dringende Bedürfnis sie in seine Arme zu ziehen, festzuhalten und erst einmal sehr lange nicht wieder loszulassen.
„Danke", sagte er kleinlaut und hielt den Impuls im Zaum, ohne jedoch den Blick von ihr abwenden zu können. Auch Ari sah ihn immer noch an und schien seine Gesichtsregungen zu beobachten, vielleicht ihm Versuch schlau aus ihm zu werden und dahinter zu kommen, wieso er sie plötzlich von sich aus ansprach und sich ihr annäherte. Vielleicht war das Fehler, überlegte er. Doch dafür, war es einfach gerade viel zu angenehm und friedlich.