Der Wind fuhr scharf über die Ebene und peitschte das lange Gras auf den endlosen Hügeln, die Ellynois Hauptstadt umgaben. Veränderung lag in der Luft, im Großen wie im Kleinen.
Die großen Veränderungen waren schon lange zu spüren: Zwischen den geheimnisvollen und prächtigen Holzbauten von Elliya wuchsen seit einigen Jahren neue Gebäude, bunte, fremdartige Häuser aus seltsamen Material und in seltsamer Form – wie fremde Pilze auf einer Blumenwiese, deren Sporen die großen Schiffe im Hafen aus fernen Ländern herbeigetragen hatten. Elliya machte einen Schritt in eine neue Richtung, hin zur Kunst, zur fremden Kultur. Es gab Menschen jenseits des vormals so endlosen Meeres, es gab dort Kulturen und Farben und Bräuche, die nun nach Elliya schwappten. Und bei Notch, wie sehnten sich die Menschen nach anderen Menschen! Die Zwerge aus den K'chtarr-Bergen waren gute Handelspartner und erträgliche Nachbarn, aber es waren Zwerge, keine Menschen. Die Stadt erschuf sich eine neue Identität, was nicht nur Gutes mit sich brachte.
Doch Artreis interessierte sich nicht für diese Veränderung. Er war weder alt noch geduldig genug, um den langsamen Wandel bereits jetzt wahrzunehmen. Nein, ihm ging es heute um die kleinere Veränderung. Nicht weltbewegend, für einen flüchtigen Blick jedenfalls nicht, betraf diese Veränderung nur eine Handvoll Menschen – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt.
Für Artreis war es ein Wendepunkt in seinem Leben, auf den er seit Jahren hingefiebert hatte, den er sich wieder und wieder ausgemalt hatte, in den tollsten und den schrecklichsten Farben. Jahrelang hatte er trainiert und heute war sie gekommen: Seine Reiterprüfung.
Er war nicht nervös. Heute würde er sich unter Beweis stellen, der jüngste Reiter, der je die Prüfung abgelegt hatte. Und danach würde er eines der prächtigen Vollblüter auswählen, welches fortan sein Reittier sein würde. Er würde all die Ehre und Macht erhalten, die nur den Reitern zustanden. Von seinem Platz auf dem Hang des Hügels aus konnte er die Weiden unter sich ausgebreitet sehen, die sich bis zum Fluss erstreckten. Das Wasser glitzerte in der Sonne, die Pferde galoppierten temperamentvoll über ihre Grasflächen und auf dem Reitplatz wurde der Sand von einigen Arbeitern mit Harken geglättet.
Artreis hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Er erblickte Mesnai, den runzligen Alten, der sich um die Tempel kümmerte.
„Vater“, sagte Artreis und lächelte.
„Na, mein Junge?“, Mesnai trat neben ihn, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er war ein gebeugter, alter Mann mit einem buschigen Bart, einem sackartigen Bauch unter der mageren Brust und dürren, sehnigen Armen und Beinen. Solange der gebeugte Mann neben ihm stand, merkte man Artreis an, wie klein er eigentlich war. Artreis' Körperbau war der eines Helden, schon jetzt: Er war muskulös und hatte ein breites Kreuz, gerade Beine und perfekte Zähne in einem Gesicht, das viele Frauenblicke anzog. Seine hellbraunen Haare waren kinnlang und schimmerten golden in der Sonne. Er sah aus, als wäre er direkt aus den Legenden entsprungen – bis man einen normal großen Mann neben Artreis stellte, denn dann bemerkte jeder, dass der angehende Reiter nicht so groß war wie es den Anschein hatte. Er sah aus, als könnte er locker 1,80 sein, doch waren es in Wahrheit 160 Zentimeter – allein Artreis perfekte Proportionen ließen ihn größer erscheinen.
Dieser unvorteilhafte Körperbau störte ihn, mehr als einmal hatte er die Verwunderung und Enttäuschung im Blick Anderer bemerkt, die ihn vorher nur aus der Ferne gekannt und dann in Person kennengelernt hatten. Doch er versuchte, das Beste daraus zu machen: Wenn er erst einmal eines der vollblütigen Reiterpferde besäße, würde das Tier mit ihm auf dem Rücken unweigerlich riesig erscheinen.
Und außerdem – Reitfähigkeiten waren nicht von der Größe abhängig.
„Nervös?“, fragte Mesnai und blickte wie Artreis auf den Reitplatz unter ihnen.
„Ein wenig“, log Artreis – er zweifelte nicht daran, dass er bestehen würde.
„Du schaffst das“, bestätigte auch Mesnai, dann zog er etwas hervor, dass er bisher hinter dem Rücken verborgen hatte. Es war auf den ersten Blick ein Haufen roten Stoffs.
„Ich habe ein Geschenk für dich“, sagte Mesnai, ergriff den Stoff an zwei Ecken und ließ den Rest nach unten fallen. Artreis' Blick offenbarte sich ein hübscher Umhang aus rotem Samt.
Artreis war einen Moment sprachlos. Er strich über den Stoff. „Das muss ein Vermögen gekostet haben!“
„Seit du mir erzählt hast, dass du Reiter werden willst, habe ich dafür gespart“, erzählte Mesnai stolz. „Hier, zieh ihn an!“
Der Mantel legte sich schwer und warm auf Artreis' Schultern. Er trug bereits ein Hemd und darüber eine kurze Lederweste, deswegen war das zusätzliche Gewicht der großen, roten Kapuze ungewohnt. Er fasste die beiden Zipfel vorne am Umhang und machte Anstalten, sie zu verknoten.
„Nein, nein“, unterbrach ihn Mesnai und zog etwas aus seiner Gürteltasche. „Hier, nimm die.“
Auf der runzligen Handfläche des Alten ruhte, wie ein Diamant zwischen Kohlen, eine wunderschöne, fein gearbeitete Brosche in der Form eines Pferdekopfes im Profil. Das Gold schimmerte und spiegelte sich in Artreis Augen.
„Das … kann ich nicht annehmen!“
„Doch, du kannst.“ Der Alte rieb mit dem rauen Daumen über die Brosche. „Sie ist seit Generationen in meiner Familie. Ich habe sie von meinem Vater, und der von seinem und so weiter.“
„Eben“, stammelte Artreis überwältigt.
„Wir waren eine Familie von Reitern, wie du sehr wohl weißt“, erzählte Mesnai. „Am Tag seiner Prüfung erhielt jeder Sohn die Brosche. Es ist ein Glücksbringer.“ Mesnai senkte den Blick. „Nur mir hatte er kein Glück gebracht.“
Artreis streckte eine Hand aus, mit der anderen hielt er den Umhang vor dem Brustbein zusammen. Eigentlich wollte er Mesnais Hand samt Brosche umschließen und das Geschenk abweisen. Doch er konnte nicht anders, als über die häufig polierte Oberfläche zu streifen. Ehe er sich versah, hielt er die Brosche in der Hand und schloss damit den Umhang zu.
„Danke“, sagte er und rückte die kleine Brosche zurecht.
Mesnai trat zwei Schritte zurück und wische sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Dann bemerkte der Alte plötzlich etwas hinter Artreis.
„Da kommen sie!“
Artreis drehte sich um und tatsächlich: Über die Flanke des Stadthügels kamen die drei Richter in roter Kluft auf ihn zu: Merkhan, Feyna und Guraban, drei ältere Reiter im Ruhestand. Artreis merkte, wie sich nun doch ein Kloß in seinen Hals setzte. Seine Handflächen wurden feucht. Es ging los.
„Artreis Kielran?“
Artreis schluckte. „Der bin ich.“
„Folge uns bitte.“
Artreis folgte den dreien. Als er über die Schulter blickte, berührte Mesnai seine Brust an der Stelle, wo bei Artreis die Brosche saß. Artreis strich über den goldenen Pferdekopf und hoffte, dass ihm das vergoldete Stück Metall wirklich Glück bringen würde.
Am Rand des Reitplatzes stand ein gesatteltes Pferd bereit. Es war ein rotbraunes Tier mit großen, weißen Flecken und einer buschigen, blonden Mähne. Und – das erkannte Artreis mit plötzlichem Entsetzen – es war ein Pony.
„Steig auf“, befahl Merkhan, der offenbar Wort führte.
„Da drauf?“ Artreis deutete auf der Tier. „Aber das ist ein Pony! Ich kann doch eine Reitprüfung nicht auf einem Pony ablegen!“
Merkhan musterte ihn kalt. „Es ist ein Tier, das deiner Größe angemessen ist.“
Artreis war sprachlos. „Ich weigere mich … !“
„Wenn du die Prüfung nicht ablegen willst, können wir ja wieder gehen“, meldete sich jetzt Feyna, die einzige Frau unter den Richtern.
„Nein“, beeilte sich Artreis zu sagen. Er hatte nur diese eine Chance. Er sollte das beste aus seiner Situation machen. „Nein, ich mache die Prüfung.“
„Dann …“ Merkhan vollführte eine einladende Geste zu dem Pony, das versuchte, das hohe Gras um den Reitplatz mit den Lippen abzuzupfen. Artreis ergriff mit einem stummen Seufzen die Zügel und schwang sich in den Sattel. Er trieb das Tier vorwärts.
Und seine Meinung änderte sich schlagartig.