Menakurr schlug mit dem Bauch hart gegen den Erdwall. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und einen furchtbaren Augenblick lang war er wie paralysiert und konnte die Arme nicht bewegen. Er rutschte, spürte Hitze an den Waden – da krallten sich seine Finger in die weiche Erde und fanden Halt.
Keuchend zog sich Menakurr nach oben und rollte sich bäuchlings auf den schmalen Erdstreifen. Sein Herz wummerte laut gegen seine Rippen. Er war zu alt für solche Abenteuer!
Über ihm ertönten Stimmen.
„Was soll dieser Lärm? He, Gefangener, wieso ist die Tür offen?“
„Ich war es nicht.“ Artreis' matte Stimme.
„Das will ich dir auch geraten haben!“ Etwas bewegte sich über Menakurr, ein Kopf kam aus der Öffnung. Der Zwerg reagierte schneller, als er es selbst für möglich gehalten hatte, und warf sich durch die Fensteröffnung des unteren Gang.
„Eindringling!“, heulte eine Stimme, denn offenbar war Menakurr gesehen worden. Auf der Treppe erklangen erneut Schritte. Noch während Menakurr sich aufrappelte, hörte er die Wache eine letzte Drohung gegen Artreis aussprechen: „Rühr dich nicht von der Stelle, Freundchen. Du weißt, was sonst mit deinem Pferd passiert!“
Menakurr konnte Artreis' niedergeschlagenes „Ich weiß“ schon kaum mehr verstehen – er sprintete, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, durch den Säulengang und zurück Richtung Thronsaal, während die Soldaten überall in der Burg ausschwärmten. Er schlug die Tür auf und sprang auf den Thron zu. Keuchend beugte er sich über die unter dem Teppich verborgene Klappe, als er zu seinem größten Entsetzen hörte, wie die Tür erneut aufgeschlagen wurde.
Ohne groß nachzudenken, sprang er in die Sitzreihen, wo sonst die Höflinge saßen, um den Kundgebungen ihres Herrschers zu lauschen.
So verborgen konnte Menakurr nur hören, wie schnelle Schritte auf den Thron zuhielten. Der Unbekannte setzte sich – eisige Angst griff nach Menakurr, als er vorsichtig über die Sitzbänke spähte. Es war Ellyd Silberherz, der König der Zwerge. Menakurr erkannte das von rotbraunen Haaren umrahmte Gesicht sofort.
Der König wirkte besorgt und ungehalten. Er zog etwas hinter dem Thron hervor, das ein Spiegel zu sein schien. Die leicht gewölbte, silbrige Schale leuchtete blau.
„He, kannst du mich hören?“, fragte der König.
Menakurr presste sich die Hand auf den Mund. Man hatte ihn gehört!
„Natürlich“, erklang eine Stimme, deren Besitzer nicht zu sehen war. „Was willst du? Ist es fertig?“ Die Stimme war düster, bedrohlich und finster. Menakurr erzitterte.
„Es gibt Probleme“, berichtete der König. „Es funktioniert nicht.“
„Es muss funktionieren!“, schnaubte der Unsichtbare. Die Stimme schien, entgegen aller Gesetze, aus dem Spiegel zu stammen. „Habt ihr euch an meine Anweisungen gehalten?“
„Na ja …“, sagte der junge König.
„Na ja?“, äffte ihn der Spiegel nach. „Was soll das heißen?“
„Wir haben nicht genug Material …“, begann der König, schüchtern wie ein gescholtenes Kind.
Wer konnte es wagen, so mit dem König der Zwerge zu sprechen? Vorsichtig spähte Menakurr über die Rückenlehne der Sitze, darauf hoffend, dass die Schatten am Rand des Saals ihn weiterhin verbergen würden.
„Es funktioniert nicht ohne Obsidian!“, fauchte der Fremde durch den Spiegel. „Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt?“
„Nun schon, Garabath“, sagte der König.
In genau diesem Moment ging die Tür auf und ein heller, langer Streifen Licht fiel in die Halle. Fünf gepanzerte Wachen polterten herein. Die Vorderste schnappte nach Luft: „Wir haben i... oh, Majestät. Entschuldigt, aber es gibt einen Eindringling. Wir müssen den Saal durchsuchen.“
Ellyd sah ungehalten auf. „Was soll das? Was für ein Eindringling?“
„Jemand, der den Menschen befreien wollte“, sprach die Wache weiter. Alle fünf nahmen Haltung an.
„Ellynoi will sich revanchieren!“, knurrte der König und umklammerte den Spiegel, drückte ihn plötzlich an die Brust, als sei ihm klar geworden, dass die Wachen ihn nicht sehen durften. „Raus hier!“
„Herr, wir müssen die Halle durchsuchen“, beharrte die Wache mit der stoischen Dummheit von Soldaten.
„Raus! Glaubt ihr etwa, hier versteckt sich jemand? Wo denn? Hinter meinem Thron? Unter dem verdammten Teppich? Bei den Holzbänken da?“
Von seinem Versteck unter besagten Holzbänken aus sah Menakurr, wie der König mit den Armen fuchtelte und die Wachen verscheuchte, unwissentlich dem Eindringling helfend.
„Entschuldigung“, sagte der König dann zu seinem sprechen Spiegel. „Wo waren wir?“
„Bei deiner Unfähigkeit, klare Befehle zu befolgen“, erwiderte der Spiegel kalt. „Reines Obsidian, und zwar nur Obsidian, hast du es jetzt verstanden?“
Ellyd Silberherz, König der Zwerge, nickte beschämt. „Ja. Wir machen es. Aber es wird dauern.“
„Ihr habt nicht mehr viel Zeit. Bis zur Sonnenwende, verstehst du das?“, drohte der Spiegel, dann erlosch das Licht plötzlich.
Ellyd seufzte, stand auf, verbarg den Spiegel und ging aus dem Saal. Menakurr blieb noch eine Weile in seinem Versteck liegen und keuchte, denn er hatte den Atem die ganze Zeit über unbewusst angehalten.
Dann kroch er hervor, schlich zum Thron, schlug den Teppich zurück und kletterte in den Geheimgang, wo Grauchen ihn schon erwartete. Er nahm den Strick und führte den Esel wortlos den engen Gang zurück bis zu der Stelle, wo eine breite Wendeltreppe von dem geraden Pfad abwich. Menakurr und Grauchen stiegen die Treppe hinauf und kamen auf einem windigen, steingepflasterten Platz mitten auf einer Bergspitze heraus. In der Mitte des Platzes erhob sich ein schmaler Turm, dessen Spitze mit Stroh gefüllt war – ein Signalfeuer. Der Wind heulte unheimlich mit den Liedern der K'chtarr-Berge. Grauchen zuckte nervös mit den Ohren.
Menakurr war nachdenklich. Er hatte in den letzten Minuten gleich zwei Dinge erfahren, die sein Weltbild auf den Kopf stellten. Beide riefen bei ihm eine Gänsehaut hervor.
Der König der Zwerge gehorchte einem anderen, rätselhaften Mann und ließ in seinem Auftrag etwas herstellen. Vielleicht – bei der Vorstellung stockte Menakurr der Atem – beeinflusste dieser Fremde auch noch mehr Entscheidungen von Ellyd. Beispielsweise den Krieg oder Artreis' Gefangennahme. Bei näherer Betrachtung war es doch seltsam, dass die Zwerge einen Menschen gefangen halten sollten, statt ihn an Ellynoi auszuliefern. Offiziell lautete die Begründung, die Menschen hätten Menakurr nicht ausliefern wollen – doch Menakurr war dabei gewesen und wusste, dass die Menschen zuerst keine Anstalten gemacht hatten, ihn nach Elliya zu verschleppen. Das war das nachlässige Werk der grauen Reiter gewesen.
Je länger er nachdachte, desto offensichtlicher war es: Der Zwergenkönig hatte Artreis aus irgendeinem Grund hierbehalten. Vielleicht sogar im Auftrag des Unbekannten.
Und was viel schlimmer war: Artreis würde nicht fliehen. Der König hielt Staubwind als Geisel, das ließ sich den Worten der Wache entnehmen. Artreis liebte dieses Pony zu sehr, um dessen Tod zu riskieren.
Menakurr stand wie erstarrt im kalten Wind, als plötzlich ein helles Zischen erklang, dann ein Knistern. Über einer fernen Bergspitze stieg eine grüne Rakete in den Himmel. Menakurr fuhr zusammen. Das war das Zeichen von Meik und Aleé, dass der Fluchtweg frei war! Nur gab es keine Flucht, jedenfalls nicht so wie geplant. Artreis war noch im Kerker.
Menakurr schwang sich trotzdem auf Grauchens Rücken und schlug den verschlungenen Pfad ein, um zu Aleé und Meik zu stoßen. Sie brauchten einen neuen Plan.
Sie mussten Staubwind befreien. Und, so fürchtete Menakurr, das musste ihnen gelingen, bevor der König seinen Auftrag fertiggestellt hatte.
Der Esel trabte schwungvoll nach unten, da ertönte plötzlich ein Zischen, von dem Menakurr das Blut in den Adern gefror.
Creeper!, dachte er und konnte keinen Muskel mehr rühren. Grauchen tänzelte und wich schnaubend zurück. Doch es war kein Creeper, sondern ein Zwerg, der eine gezündete Stange Dynamit in der Hand hielt. Die Lunte zischte.
„Menakurr?!“, fragte der andere entgeistert. „Du bist der Eindringling?!“
Es war Barka. Er warf das Dynamit dem Esel zwischen die Füße und es folgte eine schreckliche, weiße Explosion. Grauchen schrie und bäumte sich auf, Menakurr wurde abgeworfen und landete hart auf dem Stein. Sein Kopf donnerte auf den Boden, der Helm rollte davon.
„Barka“, stöhnte er.
Der Leibwächter des Königs kam näher, ein Schwert gezogen. Die Spitze setzte er Menakurr an den Hals. „Sag mir, dass das nicht stimmt!“
Vor Menakurrs Blick verschwamm alles. „Grauchen!“, stöhnte er. Er konnte den Esel nicht mehr hören. Es ging ihm doch gut, oder? „Grauchen!“
„Scheiße, Menakurr! Du wusstest von dem Geheimgang! Und du bist aus Ellynoi geflohen! Jetzt wolltest du deinen Freund befreien.“
Barkas fassungslose Stimme wurde von einem lauten Rauschen übertönt. Menakurrs Augen fielen zu.
Er bekam noch mit, wie Barka ihm grob die Hände fesselte, dann wurde er endgültig ohnmächtig.