Der Lärm auf dem Hof verklang und wich einer bedrückenden, tödlichen Stille. Im Halbdunkel des Kerkers tauschte Menakurr einen Blick mit Artreis. Der junge Mensch hatte seine Kauerhaltung endlich aufgegeben und den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken gelegt. Fast sah er aus, als ob er einer wunderschönen Melodie lauschte.
„Was passiert da?“ Menakurr drängte sich an die kleine Steinfuge, ein winziges Fenster in seiner Zelle, während das große Fenster, durch das er damals nach draußen gesprungen war, leider außerhalb der Zelle lag.
Er spähte auf die Wiesen, konnte aber nichts sehen.
„Er ist frei“, sagte Artreis zuversichtlich. Menakurr fuhr herum. Artreis wirkte verändert – in seine blauen Augen war der Funke zurückgekehrt, die Lebensfreude, die der Junge früher besessen hatte. „Staubwind ist frei!“
„Toll. Dann können wir ja jetzt gehen“, knurrte Menakurr. „Was ist mit Aleé? Was ist mit Grauchen?“
Artreis zuckte mit den Schultern und schien Menakurr zum ersten Mal wahrzunehmen. Traurigkeit legte sich über das menschliche Gesicht. „Ich weiß es nicht. Tut mir leid, Menakurr. Und es tut mir leid, dass du hier gelandet bist. Es tut mir so leid, mein Freund.“
„Nein, mir tut es leid. Ich habe dich in eine Falle gelockt.“
„Und ich habe zu verantworten, dass du nun hier sitzt.“ Artreis lächelte schmal. „Ich denke, wir sind quitt.“
Menakurr schwieg und sah Artreis an. Zum ersten Mal schien der alte Artreis zurück zu sein, der gefühlvolle, vielleicht ein wenig arrogante Junge, der Menakurr bei der Ostmine das Leben gerettet hatte. Zum ersten Mal besaß Artreis genug Lebensgeister, um etwas zu empfinden – als wäre seine Seele mit Staubwind zusammen gefangen gewesen und nun zurückgekehrt.
Menakurr seufzte. Er konnte keinen Groll gegen den Jungen hegen. „Ich hätte es nicht anders gewollt“, sagte er ehrlich. „Ich hoffe nur, dass Aleé entkommen ist und uns befreit. Ich würde ungern hier sterben.“
Artreis lächelte, ein schmales, tapferes Lächeln. „So geht es mir auch, mein Freund.“
Menakurr schlief in der Nacht nur unruhig und döste am Tag immer wieder weg. Nichts geschah. Ab und zu gab es Lärm auf dem Hof, doch die Stimmen waren in ihrem Kerker nicht zu verstehen. Der Wind fuhr kalt durch das Loch in der Wand und Menakurr fröstelte. Man hatte ihm das Lederwams und das Kettenhemd abgenommen und so trug er nur ein dünnes Hemd. Ihre Ausrüstung – Menakurrs Kleidung, seine Spitzhacke und Artreis' Schwert – hingen an der gegenüberliegenden Wand wie eine höhnische Einladung.
Plötzlich horchte Artreis auf, der bisher an der Wand gelehnt hatte, und sprang auf. Menakurr versuchte, die Müdigkeit abzuschütteln und erhob sich schwerfällig. Wenig später hörte er, was wohl Artreis vor ihm gehört hatte: Schritte auf der Treppe.
Das tanzende Licht einer Fackel kam in Sicht, dann erschien Barka in einer schicken, etwas zu engen, roten Uniform. Er trat an das Gitter an der Stelle, wo die beiden Zellen von Menakurr und Artreis zusammenliefen.
Zuerst sah Barka nur Menakurr an. „Bitte sag mir, dass du damit nichts zu tun hast?“
„Womit?“
„Mit ihm.“ Barka deutete auf Artreis. „Und mit diesem Phönix, vor dem sich alle fürchten!“
„Der Phönix?“, fragte Artreis verwundert.
„Jemand in goldener Rüstung auf einem goldenen Pferd oder so ein Humbug“, erklärte Barka. „Jeder, der ihn sieht, schlottert mit den Knie vor Angst.“
„Aleé“, hauchte Menakurr in der Hoffnung, dass Artreis verstand und Barka nicht. Der oberste Leibwächter sah Menakurr an und nahm dann seinen Helm ab, um die nassgeschwitzten, schwarzen Haare zu trocknen. Er setzte den Helm wieder auf. „Du kennst den Phönix also.“
„Nein!“, sagte Menakurr schnell – zu schnell.
Barka seufzte. „Ich habe dich gehört, du hast einen Namen gesagt. Aleé ... war das nicht diese junge Kriegerin?“
„Nein, wirklich nicht ...“ Menakurr sprang an das Gitter. Barka sah ihn an.
„Sag aus, Menakurr“, sagte er beschwörend. „Komm mit und tritt als Zeuge gegen Artreis auf. Du kannst behaupten, dass er dich zu allem gezwungen hat. So kannst du deine Freundin vielleicht retten.“
„Nein!“ Menakurr sah zu Artreis. „Niemals!“
„Der König wird dir Gnade zeigen, wenn du nur sagst, wie Aleé es schafft, an so vielen Orten gleichzeitig aufzutauchen“, redete Barka weiter.
„Gleichzeitig?“, echote Menakurr.
Barka runzelte die Stirn. „Du weißt es auch nicht? Es ist, als gäbe es tausende Reiter!“
Menakurr schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß es nicht. Hör zu, Barka, du musst uns helfen, bitte!“
Barka war vielleicht ihre einzige Hoffnung. Doch er trat zurück und schüttelte den Kopf. „Ich bin Wächter, Menakurr, nicht lebensmüde. Ich habe getan, was ich konnte, gerade eben!“
„Wie meinst du das?“ Menakurr umklammerte die Gitterstäbe. „Bring uns hier raus, bitte! Um unserer Freundschaft willen!“
„Freundschaft?“ Barka schnaubte. „Ha! Du hast mein Vertrauen ausgenutzt, um Informationen über den Geheimgang zu bekommen! Du hast meine gute Stellung am Hof ausgenutzt, um der Todesstrafe durch die Reiter zu entgehen, nachdem die Sache mit deinem Schwein bekannt war! Und als Dank brichst du in die Burg ein, in das Herz des Zwergenreichs, um einen anderen Verräter zu befreien? Das nennst du Freundschaft?“
„Ich ... Barka, hör doch zu, der König wird von jemandem beraten, einem zwielichten Spiegel ...“
„Hörst du dir eigentlich zu?“, fauchte Barka. „Nicht zu fassen, dass ich dir eben noch helfen wollte. Du machst dir wohl Hoffnungen, weil deine kleine Freundin die Berge mit goldenen Reitern überflutet, aber ich sag dir was: Die Häscher sind schon geschickt worden, jene Zwerge, die keine Angst vor goldenen Phantomen haben! Sie werden deine Aleé erwischen. Vielleicht siehst du sie ja noch ein letztes Mal vor eurer Hinrichtung!“
Barka machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Treppe.
„Hinrichtung?“, wiederholte Menakurr ächzend.
Barka blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. „Morgen Abend, zur Sonnenwende. Der König hat seine Geduld mit euch verloren.“
„Sonnenwende?“ Menakurr dachte an den rätselhaften Spiegel. „Barka, warte! Das ist ein Trick, von diesem Spiegelmeister ...“
Doch Barka war bereits fort.
Menakurr seufzte und trat zur hinteren Wand, um sich daran auf den Boden sinken zu lassen. Artreis trat an die Gitterstäbe neben ihm.
„Morgen Abend also?“
Menakurr seufzte und nickte. „Ich fass es nicht!“
„Und was ist das mit diesem Spiegelmeister?“
In knappen Worten berichtete Menakurr seinem Freund alles, woran er sich erinnerte: Vom Spiegelmeister, von der geheimnisvollen Arbeit und schließlich auch von seiner eigenen Gefangenschaft in Ellynoi, der Befreiung durch Aleé und der Reise mit den Rebellen.
„Glaubst du, sie haben einfach ein paar Rüstungen vergoldet und es sind die Rebellen, die überall Panik machen?“, fragte Artreis am Ende.
Menakurr zuckte mit den Schultern. „Möglich wäre es. Aber Aleé wird in der Nähe sein, um uns zu befreien. Ich habe Angst um sie ... wenn die Häscher sie erwischen, ist alles aus.“
Zum ersten Mal drang zu ihm durch, was Barka gesagt hatte: Morgen würde er sterben! Ihm blieben anderthalb Tage, die er in einer kalten, zugigen Zelle verbrachte. Er würde Aleé nie wiedersehen, wenn ihr nicht bald etwas einfiel, um ihn zu retten. Nur gab es hier keine Abflussrohre in der Wand, die sie aufsprengen konnte. Es gab nur die gut bewachte Burg, die sich jetzt erst recht im Alarmzustand befand.
Und der Geheimgang würde sicherlich ebenfalls bewacht werden. Menakurr fluchte unterdrückt. Wie sollte das hier noch gut ausgehen?