Die Zeit bis zum Mittag des Sonnenwendtages streckte sich wie hunderte Jahre in die Länge.
Artreis saß in seiner Zelle, den Kopf an die Wand gelehnt, wo, wie er wusste, ein altes Rohr verlief. Wenn unten auf dem Hof etwas gesprochen wurde, so klingelten die Worte metallisch durch das Rohr. Nicht immer waren die Worte zu verstehen, doch bereits gegen Morgen hörte Artreis den Ruf, dass der goldene Reiter gefangen worden war.
Er schwieg, um Menakurr nicht vorzeitig die letzte Hoffnung zu nehmen – und wenig später erklang der Ruf erneut, dann wurde gestritten und schließlich erkannten die Zwerge, dass es mehr als nur einen Phönix gab.
Daraufhin mischte sich Barka ein und beschrieb Aleé für alle Anwesenden als den wahren Reiter. Artreis lächelte in sich hinein, denn das bedeutete, dass Aleé noch in Freiheit war.
Es gab noch Hoffnung.
Er bereute zutiefst, dass er Menakurr damals nicht gefolgt war. Sie hätten Staubwind problemlos befreien und fliehen können, doch damals war ihm das Risiko einfach zu hoch gewesen. Der Gedanke, sein treues Pony zu verlieren, wäre unerträglich. Staubwind war etwas besonderes, das schnellste Pferd von Ellynoi und eine Verlängerung von Artreis' Körper, als wäre das Pferdchen mit ihm verwachsen.
Er konnte Staubwind nicht verlieren.
„Was ist das für ein Lärm?“
Alarmiert war Menakurr aufgesprungen und auch Artreis sackte das Herz in die Hose. Auf dem Innenhof der Burg war plötzlich lauter, donnernder Jubel ausgebrochen, als hätte K'chtarr plötzlich und unerwartet den Krieg gewonnen.
In die Schreie mischten sich Buhrufe. Artreis tauschte einen Blick mit dem Zwerg, der die Augen weit aufgerissen hatte.
Wenig später polterten Schritte die Treppe hinauf. Zuerst erschien ein blasser Junge mit stolzgeschwellter Brust, der eine Axt in den Armen trug. Es war eine silberne, hochwertige Axt, so viel erkannte selbst Artreis.
„Nein!“ Menakurr sprang an das Gitter. „Aleé!“
Sie wurde als nächstes gebracht. Barka stieß sie grob vorwärts und Aleé, mit auf den Rücken gebundenen Händen, stolperte die Stufen hinauf. Sie sah furchtbar aus: Ihre Lippe war aufgeschlagen und frisches Blut schimmerte auf ihrem Kinn, ein Auge war dabei, zuzuschwellen.
„Ihr hättet ihr sagen sollen, das es nicht klug ist, den gleichen Geheimgang wie Menakurr zu nehmen.“ Mit diesen selbstgefälligen Worten stieß Barka Aleé in Menakurrs Zelle und schloss die Tür ab. Menakurr zog Aleé in seine Arme, Artreis hörte das Zwergenmädchen schluchzen.
Barka grinste dreckig. „Dann haben wir jetzt alle drei zusammen: den flüchtigen Reiter, den zwergischen Reiter und den goldenen Reiter. Das wird ein Fest heute Abend.“
Summend und die Schlüssel um den Finger kreisen lassend ging Barka wieder.
Artreis blieb am Gitter stehen und schaute die Treppe hinab, dann zum Fenster hinaus. Wenigstens Staubwind war frei. Es war ein schwacher Trost für Artreis, dass immerhin das Pony dem Krieg entgehen konnte. Sicherlich würde sich Staubwind gemeinsam mit Grauchen und Aleés Pony in die Wildnis aufmachen. Sie würden entkommen und leben – eine Leistung, auf die Artreis stolz war.
„Es tut mir so leid!“, stammelte Aleé unter Tränen. „Es tut mir so leid!“
„Nein“, widersprach Artreis. „Mir tut es leid. Ich habe euch immerhin in diesen Schlamassel gezogen.“
Menakurr und Aleé sahen ihn an. Die Zwergin lächelte schwach. „Hallo, Artreis. Schön, dich mal wieder zu sehen.“
Artreis erwiderte das Lächeln. Wie sehr hatte er seine beiden Freunde vermisst! Und wie sehr vermisste er es, auf Staubwinds Rücken über die Wiesen zu fliegen!
Aleé fasste sich, löste sich aus Menakurrs Armen und sah zum Fenster. „Keine Schwachstellen?“
„Nein.“
Artreis schüttelte ebenfalls den Kopf. „Eines muss man den Zwergen lassen, Gefängnisse bauen können sie!“
„Besser als die Menschen“, meinte Aleé kopfschüttelnd. „Dann sitzen wir hier fest?“
Es war eine seltsame Atmosphäre: Wiedersehensfreude, Angst und Traurigkeit.
„Sind die Pferde frei?“, fragte Menakurr.
Aleé nickte. „Meik hat versprochen, sie an einen guten Ort zu bringen, falls … na, falls was schiefgeht.“
Menakurr nickte, während Artreis sich fragte, ob man diesem Meik vertrauen konnte. Es war ein trauriges Gefühl, dass das Leben seines geliebten Staubwinds nun von den Fähigkeiten eines Wildfremden abhingen.
Sie sahen herüber zu ihren Waffen, die in Sicht- und außer Reichweite hingen, dachten an ihre Reittiere, an den Abend und was dann folgen würde. Menakurr wiederholte für Aleé seinen Bericht über die Stimme aus dem Spiegel.
„Was für einen Bau kann der Spiegelmeister meinen?“, fragte Aleé, als Menakurr fertig war.
„Keine Ahnung. Sicherlich bedeutet es nichts Gutes.“ Menakurr starrte zum Fenster hinaus. „Aber das hat uns nicht mehr zu kümmern. Wir werden ihre Vollendung wohl kaum erleben.“
Artreis zuckte zusammen, als der Zwerg es aussprach. Bisher hatte er die Endgültigkeit seines Schicksals irgendwie verdrängen können. Jetzt sah er zum Fenster, wo sich der Himmel bereits dunkelrot verfärbte – die Farbe von Blut. Die ersten Sterne blinzelten aus dem Dunkel herab.
Aleé schluckte schwer. Als sie sprach, klang ihre Stimme belegt. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so zu Ende geht!“
Menakurr legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Er sagte nichts.
Auf der Treppe erklangen schon wieder Schritte. Die drei Gefangenen drehten sich um und erblickten Barka, der heraufkam, gefolgt von zehn Wachen. Schweigend öffnete er ihre Türen und schnitt Aleés Handfesseln durch, als sie nach draußen traten. Artreis warf einen sehnsüchtigen Blick auf sein graues Katana. Es war so nah! Er brauchte nur einen Satz machen, die Klinge packen und sie konnten beginnen, sich den Weg in die Freiheit zu erkämpfen! Sein Herz schlug schneller.
„Vorwärts!“, bellte Barka und stieß Artreis auf die Treppe zu. „Denkt nicht einmal daran, Schwierigkeiten zu machen.“
Die Wachen versperrten ihnen den Weg zur Rettung. Artreis stolperte nach unten. Seine Beine fühlten sich ungelenk und fremd an.
Unten erwarteten ihn weitere Wachen, die mit Lanzen bewaffnet Haltung angenommen hatten. Menakurr und Aleé folgten Artreis durch ein langes Spalier, das sie auf den Innenhof der Burg führte. Der Himmel war dunkelrot, durchsetzt mit lilafarbenen Wolken. Auf dem Innenhof stand ein großes Rechteck aus schwarzem Stein mitten im Sand.
Man zerrte Artreis, Menakurr und Aleé vor dieses Rechteck. Es bestand aus Obsidian, wie Artreis erkannte.
Es war der Bau, von der der Spiegelmeister gesprochen hatte.
Unzählige Soldaten standen auf dem Hof und brüllten Beleidigungen, pfiffen und spuckten nach den Gefangenen. Plötzlich kehrte Ruhe ein. Als Artreis den Kopf wandte, war hinter ihnen, auf einem Balkon der Burg, ein Zwerg in einer prächtigen Diamantrüstung erschienen.
Die Gefangenen wurden um die Maschine geführt und in die Knie gezwungen, so, dass sie den Zwerg auf dem Balkon durch das große Rechteck ansehen mussten.
„Seht die Verräter!“, rief der Zwerg in der Diamantrüstung mit dröhnender Stimme. „Heute werden sie für ihre Taten bezahlen, und ihr Blut wird uns eine nie gekannte Macht verleihen! Heute, am Tag der Sommersonnenwende, gewinnen wir diesen Krieg!“
Die versammelten Zwerge jubelten ohrenbetäubend laut. Artreis warf einen Blick zu Menakurr und Aleé an seiner Seite.
In was waren sie hier nur hineingeraten?