Die Reitprüfung verlief so gut, wie Artreis es sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Das Pony, in dessen Sattel zu steigern er sich erst noch geweigert hatte, trottete munter vorwärts, trabte folgsam um die Hindernisse herum, galoppierte so wild, das Artreis der Atem weg blieb.
Das gefleckte Tier war schnell. So schnell, wie Artreis noch nie ein Tier erlebt hatte, und er war unzählige Pferde geritten.
Bei der Sprungprüfung gab es ein paar Probleme, denn viele der Hindernisse waren zu hoch für das Pony. Doch die Richter zogen dafür keine Punkte ab und alle anderen Disziplinen meisterte Artreis mit Bravour. Er zeigte die richtigen Gangarten und Parolen, bewies sich im berittenen Kampf und in der Kunst, sein Pferd durch schwieriges Gelände zu treiben. Das Pony war wohlerzogen und umso mehr erstaunte es Artreis, im Verlauf der Prüfung zu erfahren, dass das Tier weder einen Besitzer noch einen Namen hatte, seit der ursprüngliche Besitzer ohne Erben verstorben war.
Die Prüfung dauerte den halben Tag und Artreis begann, das kurzbeinige Tier zuerst im Stillen und dann auch laut bei einem Namen zu rufen: Staubwind.
Er war sich nicht wirklich bewusst, was für ein Tabubruch das war. Ein Windname stand nur Tieren von edler Geburt zu, den größten und besten der Reiterpferde. Und Staubwind war, wie der erste Teil des Namens schon nahelegte, nur ein Pony, ein Mischling noch dazu, ohne feste Herkunft oder auch nur einen Tropfen Vollblut.
Artreis dachte nicht darüber nach. Er fand einfach, das der Name passte und machte sich noch keine Gedanken darum, was später sein würde – sonst wäre ihm klar gewesen, welche törichten Worte am Ende der Prüfung aus seinem Mund sprudeln würden.
Es dämmerte, die untergehende Sonne tauchte den Himmel in blutiges Rot und dazwischen blitzten die ersten Sterne hervor, als die Richter Artreis zu sich riefen. Er trieb Staubwind vor die drei und saß aufrecht im Sattel, während sein Pferd leise schnaufte. Beide waren erschöpft, doch die letzten Stunden hatten sie mit ruhigeren Übungen verbracht, die hauptsächlich Artreis' Vertrauen zu einem vierbeinigen Partner testen sollten. Er hatte mit geschlossenen Augen reiten müssen, danach waren dem Pony die Augen verbunden worden. Sie hatten beweisen müssen, dass sie sich auf die Führung eines Anderen verlassen konnten.
„Ich denke, es hat keinen Sinn, es spannend machen zu wollen“, sagte Merkhan. „Artreis Kielran, du hast die Prüfung bestanden. Gratulation.“
Die drei Altreiter klatschten höflich. Merkhan trat vor und reichte Artreis im Namen aller drei die Hand.
„Ab heute kannst du dich einen Reiter nennen. Man wird sich mit dir darüber beraten, welcher Aufgabe du nachkommen wirst, und du kannst ein Pferd wählen.“
„Mit Verlaub“, hörte Artreis sich sagen, „ich glaube, ich habe bereits ein Reittier gewählt.“
Er war von seinen Worten ebenso überrascht wie die drei Richter.
„So? Welches?“, fragte Feyna, die keinen Hehl daraus machte, dass sie Artreis nicht mochte.
Artreis tätschelte wortlos den Hals seines Ponys.
„Ein Pony?“ Drei paar Augenbrauen rutschten in die Höhe.
„Das gab es noch nie!“, rief Feyna schließlich.
„Die Regeln verbieten es nicht.“ Merkhan zuckte mit den Schultern und zückte eine Namensmarke, mit derer Artreis sein Pferd würde benennen können. Der Richter händigte die Marke aus. „Bist du dir absolut sicher? Denk dran, Junge, du verbindest dein Schicksal auf Ewig mit dem deines Pferdes.“
„Ich bin sicher.“ Artreis nickte und nahm die Marke entgegen.
„Und wie soll dein Tier heißen?“, fragte Feyna spöttisch.
„Staubwind“, sagte Artreis, ohne nachzudenken.
Der Name war wie ein Donnerschlag, wie ein Schuss. Merkhan. Feyna und Guraban zogen alle drei ihre Schwerter. Staubwind scheute.
„Staubwind?“, fauchte Feyna. „Einen Windnamen für ein Pony? Was für ein Witz ist das?“
Auch die anderen drei funkelten Artreis an und erst jetzt wurde ihm klar, dass er zu weit gegangen war, viel zu weit. Er tastete hilflos nach seiner eigenen Waffe, dem Katana, das an seiner Seite hing. Doch in der Hand hielt er noch die Namensmarke. Staubwind scheute vor den gezückten Waffen zurück, die im ersten Mondlicht einen bläulichen Schimmer von sich gaben. Diamantschwerter.
„Für diesen Frevel wirst du bezahlen“, sprach Feyna, die hitzköpfigste der drei.
Guraban hob eine Hand: „Feyna, es ist nicht nötig ...“
Doch Feyna war nicht mehr zu bremsen und die Worte, einmal ausgesprochen, konnte niemand mehr zurücknehmen. „Für die Frechheit, einen Windnamen derartig in den Schmutz zu ziehen, verurteile ich dich zum Tode!“, rief sie so laut, dass es wohl noch in der Stadt zu hören war. Artreis spürte, wie ihm das Herz in die Hose sank. Ein Todesurteil? Er war wie vor den Kopf gestoßen, sprachlos, einen Moment lang unfähig, sich zu rühren.
Feyna kochte vor Wut. Sie machte einen Schritt auf Artreis zu und erst jetzt konnte er reagieren. Er zerrte an Staubwinds Zügeln und wendete das Pony.
Staubwind rannte los und setzte über das Gatter hinweg. Wasser spritzte, als das Pony durch den Fluss galoppierte, dann sprang es einen Hügel hinauf. Artreis beugte sich dicht über den kurzen Hals seines Pferdes, die blonde Mähne schlug ihm ins Gesicht. Staubwind rannte weiter, hinein in den kleinen Wald. Äste griffen nach Artreis, peitschten ihm ins Gesicht und zerrten an dem neuen Mantel. Staubwind stolperte zwischen den Wurzeln und Artreis besaß genug Geistesgegenwart, um das Pony zum sandigen Flussufer zu lenken. Staubwind flog dahin, am Wald entlang, dann hinaus auf die Wiesen, in das große, weite Grasland hinein, das Elliya umgab. Die Hufe trommelten donnernd auf die Erde, der Wind schlug Artreis ins Gesicht.
Der Wind fühlte sich seltsam kalt an und Artreis verstand, dass er weinte. In der Hand hielt er immer noch die Namensmarke umklammert und einen Moment überkam ihn das überwältigende Verlangen, die Marke einfach fallen zu lassen.
Doch er hielt sie fest. Er hatte soeben alles verloren, um Staubwind seinen Namen geben zu können. Nur langsam dämmerte ihm, dass das stimmte: Er hatte alles verloren, bis auf die Kleidung am Leib und das Pony. Elliya blieb hinter ihm zurück und er würde niemals wiederkehren können. In der Stadt erwartete ihn der Tod.
Nie wieder würde er mit Mesnai reden können. Nie wieder in seinem schmalen Bett im Haus des Alten liegen und sich schlafend stellen, um ein paar kostbare Minuten Ruhe zu erkaufen. Er würde die Bäckerstochter Haika nie wieder anlächeln können, um zu hoffen, dass sie zurück lächeln würde. Er könnte nie wieder durch die Straßen schlendern, einige wenige Münzen in der Tasche, und sich geben, als wäre er damit ein reicher Lord.
Artreis hatte seine Heimat verloren. Elliya versank hinter ihm in der aufziehenden Nacht und Staubwind wurde langsamer. Sie wurden nicht verfolgt, doch Artreis wusste, dass er trotzdem fort musste, weit fort. Man würde ein Kopfgeld auf ihn aussetzen. Alle Menschen würden ihn suchen – er musste verschwinden, wenn er leben wollte. Und das wollte er, schon allein um Staubwinds Willen.
Das Pony hielt an und Artreis sah in den Nachthimmel, während er überlegte. Wo sollte er hin? Er hatte sich niemals für etwas anderes als die Kunst des Reitens interessiert – er kannte nur die nähere Umgebung von Elliya, die Wiesen und Weiden, die man während eines Ausritts bewältigen konnte. Jetzt wünschte er sich, er hätte die Weltkarten häufiger studiert. So gab es nur einen anderen Ort, von dem er wusste, wo er überhaupt lag: Die K'chtarr-Berge.
Mit einem kurzen Ruck am Zügel korrigierte Artreis die Route. Er trieb Staubwind zu einem flotten Trab an. Auch wenn er nicht unmittelbar verfolgt wurde, Eile war trotzdem geboten. Er fühlte sich seltsam losgelöst, beflügelt. Das musste der Schock sein, denn er hatte immer noch nicht wirklich realisiert, dass er nun für immer aus seinem Leben gerissen worden war.
Während sie ritten, bekritzelte Artreis im Dunkeln die Marke und befestigte sie ohne abzusteigen an Staubwinds Ohr. Das Pferd schnaubte, als wüsste es, was für ein besonderes Tier es nun war: Das erste Pony mit einem Windnamen.