Die Ostmine war eine Katastrophe. Menakurr sah seine Entscheidung, den Menschen mitzunehmen, in der Menge der Trümmerstücke vor dem Eingang bestätigt. Hier konnten sie allemal ein zusätzliches Paar Hände gebrauchen und erst recht ein kräftiges Pony.
Aleés Gesichtszüge entgleisten, als die junge Kriegerin das Chaos erblickte. Sie blieb wie angewurzelt stehen, blinzelte, hob den Blick, sah über die Reste der Verschüttung, blinzelte nochmals.
„Mir scheint, hier hat es eine Lawine gegeben“, erwähnte Menakurr überflüssigerweise.
Aleé schluckte. Sie war noch jung und naiv, vermutlich hatte sie geglaubt, dass sie einfach in eine offene Mine marschieren würden.
„Und das sollen wir aufräumen?“
„Nein.“ Menakurrs Antwort kam etwas ächzend, weil er bereits auf den Schuttberg kletterte. „Wir sollen nur überprüfen, ob sich hier etwas machen lässt. Hey, Junge: Kannst du mit dem Zahnstocher da auch umgehen?“
Artreis fuhr zusammen und betrachtete mit einem etwas verdutzten Blick das Katana an seiner Seite, als würde ihm erst jetzt einfallen, dass er es bei sich trug. Während der zwei Tage, die ihre Reise zur Ostmine gedauert hatte, hatte Artreis viel gegessen und nun verliehen die rosigen Wangen ihm einen noch kindlicheren Eindruck. Dann warf er Menakurr aber einen festen, erwachsenen Blick zu. „Natürlich.“
„Sehr gut. Die Straßen sind ja vielleicht befestigt und ausgeleuchtet, aber von den Minen kann man das nicht gerade behaupten.“ Menakurr hatte eine Lücke im Schutthaufen gefunden, einen Eingang. „Wir werden Waffen brauchen.“
Damit rutschte er den Schotterhügel herunter, verfolgt von einem erschreckten Ausruf Aleés. Sie kam nur einen Herzschlag hinter ihm durch das Loch gestürmt, die Axt gezückt und bereit, sich allem zu stellen, was ihnen in der Dunkelheit auflauern mochte. Artreis folgte ein bisschen später – Menakurr vermutete, dass der Junge sein kostbares Pferd zuerst an einen sicheren Platz gebracht hatte.
„Tu das nie wieder!“, schalt Aleé ihn. Menakurr grinste in seinen Bart, sagte aber nichts. Die beiden kletterten ihm hinterher.
Menakurr richtete sich auf und kontrollierte, dass die Schriftrollen in seiner Tasche unversehrt waren. Er mochte ab und zu von dem Fieber seiner Jugend gepackt etwas Unüberlegtes tun, aber er wusste auch, wie wertvoll diese Schriftrollen waren. Zum Glück hatten sie nicht einmal einen neuen Knick (was allerdings auch nicht weiter auffallen würde).
Aleé leuchtete jetzt mit einer Fackeln in die Höhle. Ein langer, gähnender Minenschacht erwartete sie, der an der Seite einer tiefen Schlucht entlangführte. Auf dem Grund der Schlucht glomm Lava vor sich hin, doch hier oben herrschte absolute Finsternis.
Menakurr wollte gerade etwas sagen, als er Schritte hörte und sich in der Finsternis vor ihnen etwas bewegte. Er griff nach seiner Spitzhacke, als er den Angreifer auch schon erkannte. Es war das Schlimmste, was er befürchten konnte: Ein schlankes, hohes Alien mit moosiger, grüner Haut und gemeinen Augen, den Mund zu einem stummen, schrecklichen Schrei aufgesperrt, doch heraus drang nur ein bedrohliches Zischen, das Knistern einer brennenden Lunte.
„Creeeeeeeper!“, kreischte Aleé außer sich. Das Monster war schon zu nah, die Zwerge und Artreis hatten den Schutthaufen im Rücken und standen direkt neben dem Abgrund. Der Creeper schien sich aufzublasen, die Haut dehnte sich, wurde dünner und heller.
Menakurr konnte nicht atmen. Es war, als würden sich dicke Seile um seine Brust schlingen. Aleé reagierte am schnellsten, sie sprang den Schuttberg hinauf, auf den Ausgang zu.
Die Spitzhacke glitt aus Menakurrs Fingern. Er hörte einen Schrei, der lange verklungen war, und sah erneut das Weiß der Explosion vor sich, das Blut, das in alle Richtungen gespritzt war.
Eine Hand packte ihn und riss ihn zurück. Das heulende Gesicht des Creepers schien nach hinten zu fallen. Etwas traf Menakurr hart in den Rücken.
Dann platzte der Creeper. Die Explosion erschütterte den Tunnel, die Wände bebten. Grüne Hautfetzen trieben durch die Luft, eine Druckwelle mit einem leicht modrigen Geruch traf Menakurr. Er sah nach oben, wo der Überhang des Felsen plötzlich herabbrach. Ein weiterer Felssturz und er mittendrin – da schob sich eine dunkle Gestalt über ihn.
Es folgte Dunkelheit, lautes Prasseln und der Geschmack nach Staub. Menakurr lag im Stein wie begraben, doch er spürte, dass jemand über ihm war.
„Alles in Ordnung?“, fragte eine vertraute Stimme.
„Artreis!“ Menakurr konnte vor Erleichterung kaum atmen.
„Was war denn nur los mit dir?“, fragte Artreis vorwurfsvoll, als die tödliche Stille auch schon durchbrochen wurde. Weitere Steine rollten prasselnd zur Seite, dann flutete Tageslicht die winzige Kammer, die sich Menakurr und Artreis erhalten hatten. Umrahmt von blenden hellem Licht erschien Aleés Gesicht vor ihnen.
„Lebt ihr?! Geht es euch gut?!“ Sie klang hysterisch.
„Alles in Ordnung.“ Artreis richtete sich auf und schüttelte die letzten Steine ab. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich den Rücken, während Aleé Menakurr auf die Füße zog. Er stützte sich keuchend auf die Knie.
Jetzt, da die Gefahr vorbei war, raste sein Herz plötzlich. Er hatte Glück gehabt, dass Artreis ihn so nah an den Ausgang gebracht hatte – so waren nicht allzu viele Steine auf sie niedergegangen. Die Mine war allerdings vollkommen verschüttet, und das war wohl auch gut so. Menakurr hätte nicht gedacht, eine zweite Begegnung mit einem Creeper zu überleben – auf eine dritte wollte er es nicht ankommen lassen.
„Danke, Junge“, keuchte er, als er endlich wieder zu Atem kam. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.“
„Du wärst jetzt eine sehr platte Steinstatue, soviel ist klar.“ Artreis hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Warum bist du nicht geflohen?“
„Lass ihn!“, sprang Aleé für Menakurr ein. Sie drängte sich zwischen sie beide. „Du hast doch keine Ahnung …“
„Stimmt, hat er nicht“, meldete sich Menakurr. Artreis hatte ihm das Leben gerettet, dafür verdiente der Junge Dank. „Ich bin kein Krieger und führe das Leben eines Wissenschaftlers. Das war jetzt mein zweiter Creeper, und der erste hätte mich beinahe das Leben gekostet.“
Artreis schwieg. Aleé sah Menakurr an, mit einem Blick, in dem sich Erstaunen, Mitleid und ein wenig Wut mischten.
Doch Menakurr hatte die Geschichte begonnen und nun konnte er sie ebenso gut beenden. Er seufzte. „Ich war auch mal ein Reiter, Artreis. Nun, nicht Teil der legendären Reitergilde. Einem Zwerg ist das Reiten ...“
„Verboten, ich weiß“, sagte Artreis. „Darauf steht die Todesstrafe.“
„Genau. Das wusste ich, deswegen habe ich mir niemals ein Pferd genommen. Doch ich hatte ein recht tapferes kleines Schweinchen zum Reittier, Lanzelot. Ich hab ihn eigenhändig trainiert. Er war mein Ross, ich sein Reiter. Egal, dass wir Schwein und Zwerg waren, es war ein ebensolches Band wie zwischen allen anderen Reitern und ihren verfluchten Vollblütern!“
„Das bezweifle ich auch nicht“, sagte Artreis ruhig und riss Menakurr damit aus seiner Rechtfertigung.
„Na, was soll ich sagen? Wir beide waren den Reitern ein Dorn im Auge. Da sie schon nicht mit ihren Gesetzen ankommen konnten, erst recht nicht hier in den Bergen, haben sie es anders versucht. Als ich mit Lanzelot auf einem Ausritt war, haben sie einen Creeper auf uns gehetzt.“
Menakurr brach ab. Er hatte vorgehabt, das Ganze nüchtern und ruhig zu erzählen, doch plötzlich steckte ihm ein fetter Kloß im Hals. An diesen Tag zurückzudenken erfüllte ihn immer noch gleichermaßen mit Angst und Trauer. Das schlimmste war, dass von Lanzelot nicht genug übrig geblieben war, um es zu begraben.
„Sein Reittier war sofort tot.“ Aleé erzählte weiter, wofür er ihr dankbar war. „Menakurr hat mit einem halben Herzen überlebt. Die Reiter gingen offenbar davon aus, dass er seine Lektion gelernt hatte und ließen ihn seitdem in Ruhe.“
„Oh“, sagte Artreis, während Menakurr die Hände so fest zu Fäusten ballte, dass die Knöchel knackten. „Das tut mir sehr leid. Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie das für dich gewesen sein musste.“
Menakurr war ziemlich überrascht. Er hatte bereits oft genug Spott dafür geerntet, dass er ein Schweinereiter war. Obwohl er nicht unbedingt Spott erwartet hatte, so war er doch erstaunt, dass Artreis einem Schwein den gleichen Status wie einem Pferd beizumessen schien.
Der junge Mensch ging zu seinem eigenen Pferd, das sich bei der Lawine ziemlich erschreckt hatte, und streichelte es beruhigend. „Deswegen hast du uns beiden wohl geholfen?“
Menakurr nickte. „Deswegen, und weil ich die Reiter nicht leiden kann, überhaupt nicht. Denen würde ich gerne eins auswischen. Du bist vielleicht ein guter Anfang.“
Artreis grinste schief. „Vielleicht.“