Als Aleé aus der Hütte trat, verklang das Stampfen der eisenbewehrten Stiefel gerade in der Ferne. Die Straßen von Angerthás waren in letzter Zeit voll von Bewaffneten; schwer gerüsteten Zwergen, die in kleinen Gruppen über das Pflaster marschierten, mal zu dieser, mal zu jener Burg. Doch ihr eigentliches Ziel war Dk'mar.
Obwohl Angerthás die Haupthandelsstadt war und auch die meisten Bewohner hatte, galt die Burg Dk'mar als Hauptstadt der Zwerge. Dort lebte die Königsfamilie, umringt von Beratern, Adeligen und berühmten Kämpfern, und dorthin zogen auch all die bewaffneten Gruppen, um eine Armee zu bilden.
Krieg lag in der Luft. Aleé huschte durch die Stadt und hielt sich sorgsam im Schatten der Befestigungsmauern. Sie trug dunkelbraune Kleidung unter dem Brustpanzer und hatte einen kleinen Beutel in der Faust, der ein paar Lebensmittel und zwei Stangen Dynamit enthielt. Die Axt auf ihrem Rücken und das Messer im Gürtel waren beide frisch geschärft – sie hatte ihren Entschluss gefasst, seit Menakurr gefangen worden war. Heute, als man draußen auf den Wiesen vor der Stadt einen einzelnen Esel gesichtet hatte, war die Zeit gekommen, ihrem Entschluss auch Taten folgen zu lassen.
Drei Wochen waren vergangen seit dem Tag, an dem man sowohl Menakurr als auch Artreis gefangen hatte. Aleé hatte die Nachrichten verfolgt, die man auf dem Marktplatz ausrief. Sie hatte den Wagen gesehen, der Menakurr nach Elliya brachte, während Artreis nach einigen wenig diplomatischen Auseinandersetzungen im Zwergenland blieb, gut bewacht in der Festung Dk'mar.
Ihre einzigen Freunde waren vom jeweils anderen Volk gefangen genommen worden und schmachteten im Kerker, während die Regierungen beider Völker die Ausgabe des einen forderten, ohne den anderen herausgeben zu wollen. Es war ein brisantes, politisches Patt, doch nur die Spitze des Eisberges. Seit Jahren hatte sich der Konflikt zwischen K'chtarr und Ellynoi zugespitzt: Die Zwerge besaßen nur noch eine einzige ergiebige Mine, die Angerthás-Mine. (Auch das Wunder von Angerthás genannt, war diese Mine für die Gründung der Stadt Angerthás verantwortlich und noch lange nicht erschöpft.) Der Reichtum der Zwerge schwand mit den Minen dahin, gleichzeitig wurde der Handel mit Ellynoi immer teurer. Die Menschen verlangten Unsummen, sobald sie einem Zwerg gegenüberstanden, als müssten sie sich mit Geld von der Schande reinwaschen, mit einem Nichtmenschen gehandelt zu haben. Vielleicht war dieser Rassismus ein Überbleibsel der Elfenkriege, vielleicht auch einfach in der Natur der Menschen begründet. Jedenfalls steuerten beide Reiche seit langem auf einen Krieg hin. Die beiden Gefangenen, die in ihrem jeweils eigenen Land hingerichtet werden sollten, waren vielleicht der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Aleé passierte das Tor und nickte den Wachen zu. Dank ihrer geringen Ausrüstung konnte man darauf schließen, dass sie nur zur Siedlung Tulpenhügel aufbrach, einem kleinen Dörfchen am Rand der Wiesen. Sie hoffte, dass man ihr ihre Sorgen nicht ansah, die ein viel größeres Gepäck darstellten.
Denn sie war unterwegs, um Menakurr zu retten.
Aleé fand Grauchen am Ufer eines kleinen Sees. Der Bergesel war auf den Wiesen erneut verwildert und ergriff die Flucht, als er Aleé kommen hörte. Doch vielleicht erkannte er ihren Geruch, vielleicht auch den der Äpfel in ihrer Tasche: Er kehrte zurück, ließ sich füttern und streicheln.
Aleé hielt inne, bevor sie sich auf den Rücken des Esels schwang. Sie hatte gesehen, was Menakurr und Artreis zugestoßen war, jenen, die sich den Reitern von Ellynoi in den Weg stellten. Sie wusste, dass sie nun die gleichen Gesetze brechen würde, sich in furchtbare Gefahr begab – doch sie würde lieber sterben, als Menakurr im Stich zu lassen.
Also stieg sie auf Grauchens Rücken und trieb den Esel an. Sie war keine besonders erfahrene Reiterin, doch sie gewöhnte sich schnell an den etwas holprigen Schritt ihres Reittiers. Sie war eine Kämpferin und als solche hatte sie gelernt, ihren Körper zu beherrschen und die Bewegungen eines anderen Wesens vorauszusehen.
Sie trieb Grauchen zum Trab, dann zu einem hoppeligen, langsamen Galopp.
Sie war nie zuvor in Ellynoi gewesen. Die Hauptstadt, Elliya, erhob sich plötzlich vor Aleé, während sie einem sandigen Flussufer folgte. Zuerst sah sie die Brücke, dann die Weiden am anderen Ufer und schließlich den Stadthügel, auf dem sich unzählige Häuser drängten, große Holzhäuser genauso wie moderne Bauten.
Aleé besann sich, dass sie wohl kaum auf einem Esel in die Stadt reiten konnte. Also führte sie Grauchen in ein nahegelegenes Wäldchen und band das Tier locker an einen Baumstamm. Sie streichelte den Esel zum Abschied. „Warte hier auf mich. Ich komme wieder.“
Jedenfalls hoffte sie, dass sie zurückkehren würde.
Unfreundliche Blicke und sogar einige Beschimpfungen folgten ihr durch die Straßen der prächtigen Hauptstadt. Aleé versuchte, nicht zu oft nach der Axt zu greifen, obwohl das glatte Holz ihr Mut verlieh. Sie wollte keinen Kampf provozieren, sondern sich lieber in eine unbeobachtete Seitengasse nahe der Festung schlagen. Es war ein kleines Wunder, dass sie die feixenden Gassenjungen endlich abschütteln konnte. Zwischen zwei engstehenden Holzhäusern verschnaufte sie einen Moment. Hier hatte sie einen guten Blick auf das große, weiße Rathaus, in dessen Keller sich der Kerker befand.
Aleé hatte die letzten drei Wochen nicht tatenlos verbracht: Sie wusste, dass es einen Weg in den Kerker gab, ein altes Abflussrohr, das vor Jahren von einer Gruppe von Zwergen ausgebessert worden war. Es hatte Aleé viel Schmiergeld gekostet, auch nur einen Blick auf die alten Aufzeichnungen der Arbeiten zu werfen. Und dies war ihr nur gelungen, weil Menakurr selbst die Arbeiter ausgebildet hatte, die die Wege kannten.
Sie wartete auf den Einbruch der Nacht. Dann suchte sie einen Kanaldeckel – und stieg nach unten.
Die Rohre waren alt und rostig. Wasser tropfte aus der Decke, sammelte sich im schlammigen Grund. Die Rohre wurden nicht mehr benutzt, seit es ein neues, effektiveres System gab. Aleé irrte durch die Gänge, die Axt in der einen, eine Fackel in der anderen Hand. In leeren Rohren konnte sich einiges einnisten, dem man lieber nicht begegnen wollte: Spinnen, Zombies, Skelette – doch zum Glück traf Aleé keinen einzigen Creeper, was sie als gutes Omen wertete. Endlich, ihrem untrüglichen Orientierungssinn folgend, fand sie die Stelle, wo sich eine große, mit schweren Metallgittern versiegelte Öffnung in der Wand auftat. Dahinter erstreckte sich ein Gang in einem feuchten, kalten Keller. Die meisten Zellen waren leer, doch in einer saß eine zusammengekrümmte Gestalt. Die rotblonden Haare waren verfilzt, der Bart länger geworden, der Körper abgemagert. Er bot einen elenden Anblick.
Aleés Herz schlug höher, als die Menakurr bemerkte. Sie musste an sich halten, um nicht sofort nach vorne zu stürmen – denn sie wusste nicht, wo eventuell Wachen waren. So leise wie möglich schlich sie durch den Schlick ans Gitter.
„Menakurr!“
Er sah auf und starrte sie eine Weile an, bis Aleé schon fürchtete, dass er sie nicht sehen konnte. Sie umklammerte die dicken Gitterstäbe.
„Aleé!“, hauchte Menakurr.
Sie nickte, lächelte und spürte Tränen aufsteigen. Sie blinzelte sie eilig weg – dafür war jetzt nicht die Zeit!
„Artreis – ist er …?“, fragte Menakurr.
„Gefangen. Aber er lebt noch, nach allem, was man hört“, erzählte Aleé leise. „Wir müssen hier raus. Kannst du von innen gegen deine Wand klopfen?“ Sie zückte das Dynamit aus ihrer Tasche.
Menakurr sah sie an, dann nickte er. Dank seinem Klopfzeichen fand Aleé die Stelle, wo sie das Dynamit anbringen musste, direkt in einem halb verschütteten Rohr um die Ecke. Sie legte die Lunte aus. „Geh zurück!“
Menakurr drückte sich an das Gitter und presste die Hände auf die Ohren. Aleé zündete die Lunte, die leise zischte.
Der Funke ging aus. Aleé fluchte und schlug neues Feuer. Der Funken verschwand um die Biegung, eine Weile geschah nichts.
Dann folgte eine ohrenbetäubende Explosion und Staub wallte durch den Tunnel und den Kerker. Kleine Steine rieselten aus der Decke.
„Ja!“, jubelte Aleé, als der Staub sich lichtete. Die Wand des Kerkers war fort. Rufe erklangen über ihnen, doch sie achtete nicht darauf, denn Menakurr kam ihr platschend entgegen.
„Das haben sie sicher gehört.“ Er ergriff ihre Hand und Aleés Herz machte einen Hüpfer. „Los, raus!“
Aleé nickte und sie rannten Hand in Hand die alte Kanalisation entlang.