Noch während sie, neuerdings auf Auroras Rücken, über die Wiesen von Ellynoi ritt, wurde offensichtlich, dass die Rebellen zu spät kamen.
Meik führte seine kleine Gruppe durch flache Täler und an Seen vorbei, immer erpicht darauf, in der schutzlosen Weite der Wiesen etwas Deckung zu finden. Während der Tag voranschritt, begegnete ihnen zweimal ein einzelner Reiter, der sie zum Glück nicht entdeckte. Es war ein Mann im leuchtenden Rot von Ellynoi, der zuerst Richtung K'chtarr galoppierte und später zurück – da war das Rot etwas deutlicher geworden, denn der Mann war verwundet. Zum Glück, denn die Rebellen befanden sich mitten in der Überquerung eines flachen Sees, die Pferde standen knietief im Wasser und sie wären – wenn der Reiter nur etwas aufmerksamer gewesen wäre – unweigerlich entdeckt worden.
Menakurr und Aleé waren Ehrengäste der Rebellen und durften neben dem jungen Anführer Meik Garran reiten. Als der Reiter Ellynois zum zweiten Mal vorbei kam, stellte sich Meik im Sattel auf und spähte dem Mann hinterher.
„Das war dann wohl ein Bote mit der Kriegserklärung“, meinte er.
„Wirklich?“, fragte Aleé und es zog ihr das Herz zusammen. Krieg? Aber die Schlacht würde hier stattfinden, mitten auf den Wiesen! Wenn wirklich Heere anrücken, dann waren die Rebellen dort, wo beide Armeen mit der Macht von Naturkatastrophen aufeinander treffen würden.
„Für Ellynoi sieht es so aus, als hätten die Zwerge Menakurr befreit. Damit ist das Patt verschwunden und Ellynoi hat einen Vorwand, um den Krieg zu beginnen“, erklärte Meik so ruhig, als säße besagter Vorwand nicht neben ihm. Aleé schluckte. Hatte ihre Tat wirklich diese Auswirkungen?
„Wir sollten auch Artreis befreien“, sagte Meik dann plötzlich und es war ein seltsames Gefühl, den Namen ihres Freundes von jemand Fremden ausgesprochen zu hören. Meik sah die beiden Zwerge an. „Könnt ihr uns nach K'chtarr hineinbringen?“
„Ja, können wir“, sagte Menakurr, doch Aleé hörte das Misstrauen in seiner Stimme. Auch sie vertraute den Rebellen nicht. Meiks Stimme machte deutlich, dass er in Artreis nur ein politisches Druckmittel sah, keinen Menschen. Die Rebellen verfolgten ihre eigenen Ziele, das war sicher.
„Gut.“ Statt aber loszureiten, stieg Meik ab und ging zu einem braunen Maultier, das die Gruppe mit sich führte. Das Tier trug zwei schwere Satteltaschen. „Dann rüsten wir uns für den Krieg!“
Die anderen Rebellen stiegen ab und Aleé machte es ihnen mit einem mulmigen Gefühl nach. Meik holte Waffen und Rüstungsteile aus den Satteltaschen, die er unter den Rebellen verteilte. Das meiste waren Kettenhemden, Leder- und Eisenrüstungen, meist nur Brustpanzer und Hosen. Die Rebellen waren nicht besonders gut ausgerüstet. Umso erstaunter war Aleé, als Meik eine goldene Rüstung hervorzog. Es musste ein Ausstellungsstück gewesen sein, denn wer trug schon eine derartig weiche Rüstung? Dem Anschein nach war es eine für Zwerge konzipierte Arbeit, denn die Rüstung war zu kurz und zu breit für einen Menschen.
Meik hielt sie Menakurr hin. „Du brauchst eine Rüstung.“
Menakurr schüttelte entschieden den Kopf. „Ich bin Gelehrter, kein Krieger.“ Er klopfte auf das lange Lederwams. „Das Wort ist meine Waffe und mein Schutz.“
„Das Wort schützt dich aber nicht vor Pfeilen!“, warf Aleé scharf ein.
„Das tust du doch.“ Menakurr lächelte ihr zärtlich zu und Aleé stellte fest, dass das Wort eine besonders fiese Waffe war. Wenig später trug sie die goldene Rüstung, da Meik darauf bestand, dass das Diebesgut auch verwendet wurde. Sehr zu Aleés Entsetzen brachte er danach eine goldene Pferderüstung zum Vorschein, die Aurora tragen musste.
Er war offensichtlich – jedenfalls für die Zwerge –, dass die goldene Rüstung nur zur Schau erstellt worden war. Die Platten waren zu leicht, um wirklichen Schutz zu bieten, und ebenfalls zu weich. Jede empfindliche Stelle, an der die Rüstung Lücken hatte, war mit rotem Samt unterfüttert, wie um dem Gegner zu zeigen, wohin er schlagen müsste. Aleé war ziemlich froh, dass sie die Rüstung trug und nicht Menakurr – der goldene Panzer war mehr ein Todesurteil als ein Schutz.
Meik dagegen wirkte begeistert, als Aleé auf Auroras Rücken kletterte. Vom schimmernden Gold geblendet glänzten die Augen des jungen Rebellen. „Was für ein prachtvoller Anblick!“
Menakurr stieg neben Aleé auf Grauchen. Sie hatte ihn dazu überreden können, dass er unter dem braunen Wams einen Kettenpanzer trug. Mit dem Helm, den metallenen Ringen und der Spitzhacke in der Faust sah er wirklich wie ein Krieger aus. Viel mehr jedenfalls als sie selbst.
„Also gut.“ Meik saß auf und der Zug setzte sich in Bewegung. Vorne ritten Meik und die braunhaarige Frau, seine Beraterin und Schwester Aika. Dann folgten die beiden Zwerge in Narrengold und Gelehrtenbraun, danach die dreizehn restlichen Rebellen, allesamt junge Menschen, die keine Ahnung vom Kämpfen oder gar vom Krieg haben konnten. Aleé fühlte sich nicht wohl in ihrer Position. Die Rüstung drückte und scheuerte angenehm und sie vermisste die Bewegungsfreiheit, die sie vorher gehabt hatte.
Die Zwerge wandelten ihr Versprechen, die Rebellen nach K'chtarr zu führen, bald in Taten um. Menakurr ritt zu Meik und führte den Anführer zu einem Nebeneingang bei der lange verlassenen Westmine. Sechzehn Pferde, ein Esel und ein Maultier durchquerten den strömenden Fluss am Fuß der Berge und begaben sich auf einen kleinen, schmalen Pfad – die Weststraße.
In einer langen Kolonne zogen sie durch die Berge. Niemand rechnete damit, dass auf der Weststraße Zwerge unterwegs seien. Deswegen war Aleé wie erstarrt, als sie um eine Ecke bog und einer Gruppe Bewaffneter gegenüber stand.
Die Zwerge sprangen auf und schrien, griffen nach ihren Waffen, als sie die menschlichen Reiter erblickten. Aleé trieb Aurora nach vorne und griff nach ihrer Axt, um sich vor Menakurr zu drängen. Auf dem schmalen Pfad brach Chaos aus. Pferde wieherten und scheuten, Pfeile sirrten schlecht gezielt, Waffen trafen klirrend aufeinander. Gleich drei Zwerge sprangen auf Aleé zu und zielten auf die rot hervorgehobenen Schwachstellen ihrer Rüstung. Sie wehrte die Angriffe mit einiger Mühe ab, schlug einem Zwerg die Axt in den Hals, dem zweiten trat sie vor der Brust, worauf er nach hinten fiel. Die Hacke des Dritten schrammte über Auroras goldenen Panzer. Das Pony biss nach dem Zwerg und Aleé traf seine Hand mit der Lincoln-Axt. Hand und Hacke fielen auf den Boden.
Die Zwerge ergriffen die Flucht, zerrten dabei den, der brüllend seinen Armstumpf umklammerte, mit sich.
„Ein Feuerreiter!“, brabbelte der Zwerg unverständlich und zeigte auf Aleé. „Das Ende der Welt ist gekommen!“
„Jaa!“, rief Meik, trieb seinen Grauschimmel vor und schwenkte sein Schwert in der Luft. „Das war der Phönix, hört ihr? Er wird euch alle vernichten!“
Dann drehte sich der Junge um und grinste Aleé an, die ihre Axt fallen ließ. „Der … Phönix?“
„Ja! Ich sage doch, du bietest einen grandiosen Anblick!“ Meik lachte ungestüm. Dann stockte sein Lachen.
Der Kampf war kurz und heftig gewesen und hatte drei Tote zurückgelassen. Einer war der Zwerg, dem Aleé den Kopf halb von den Schultern getrennt hatte. Der zweite Zwerg war von einem Pferd niedergetrampelt worden.
Der dritte Tote war Aika, Meiks Schwester, die mit durchschossener Brust im Sattel saß und nun langsam zur Seite kippte und auf den Boden fiel.
Meik schrie herzzerreißend auf. „Nein! Aika!“
Aleé ließ sich aus dem Sattel fallen und kroch zum Straßenrand, wo sie sich übergab. Ihre Hände zitterten und waren voller Blut.
Plötzlich war Menakurr neben ihr und hielt ihr die Axt hin.
„Menakurr … was habe ich getan?“ Aleé hatte zum ersten Mal in ihrem Leben einen Zwerg getötet. Es war so leicht gewesen, genauso, als hätte sie einen Zombie aufgeschlitzt.
„Das, was du tun musstest“, sagte Menakurr und reichte ihr die Axt so, dass sie den Griff einfach fassen musste. Er half ihr auf die Beine. Hinter ihm weinte Meik um seine Schwester.
Menakurr zog Aleé an sich. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. „Was habe ich nur getan?“
„Ich weiß nur eines“, flüsterte Menakurr. „Du hast ihnen verdammt viel Angst gemacht!“
Unter den Tränen lächelte Aleé schwach. „Ich … ich wollte das nicht!“
„Ich weiß“, tröstete Menakurr sie. „Ich weiß doch. Aber es ist Krieg. Sei tapfer, Aleé.“
Sie schniefte und löste sich von ihm. „Willst du mir etwa sagen, dass das richtig war?“
Menakurr legte ihr einen Arm um die Schulter und führte sie zu dem Getöteten. Der Zwerg starrte mit glasigen Augen in den Himmel und hatte die Hände um seine Kehle geklammert, um das Blut zurückzudrängen. Angst stand in seinem Gesicht. Aleés Magen zog sich wieder zusammen.
„Das war ein Zwerg“, sagte Menakurr mitleidslos. „Mit einer Familie, Träumen, einer Zukunft. Denkst du wirklich, dass es richtig war, ihn zu töten? Sieh ihn dir an – er könnte aus Angerthás stammen und dein Nachbar gewesen sein! Vielleicht hat er zuhause eine kleine Ziege, die er gepflegt hat, um die Ziegenmilch zu verkaufen.“
„Warum sagst du das?“, fragte Aleé unter Tränen. Menakurr nahm ihr Gesicht in seine Hände. Hinter den Tränen konnte Aleé seinen ernsten Blick erahnen.
„Es ist nicht gut, zu töten. Niemals“, sagte er leise. „Deswegen müssen wir versuchen, den Krieg aufzuhalten, weil sonst noch viele andere sterben. Vielleicht können wir das tun, indem wir Artreis befreien. Aber ich alleine schaffe das nicht, Aleé. Ich brauche dich an meiner Seite. Bist du an meiner Seite?“
Aleé zog die Nase hoch, wischte sich über die Augen und nickte. „Ja.“
„Gut.“ Menakurr drückte sie an sich. „Jetzt vergiss diesen Kerl, aber vergiss nicht, dass jeder Mord auch ein Leben nimmt, klar? Solange du das weißt, wirst du nicht überflüssig töten.“
„Klar“, sagte Aleé und fühlte sich geborgen in den starken Armen des Älteren. Meik weinte noch immer. Jemand anderes befahl, die Pferde zu tränken und Gräber für die Toten auszuheben. Als Aleé die Augen schloss, sah sie das Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen vor sich.