Alexander hielt sein Weinglas mit spitzen Fingern gegen die Sonne. Die Strahlen durchdrangen den bernsteinfarbenen Wein und ließen den Cidre förmlich aufleuchten. Endlich, nach gefühlt Jahren der Arbeit, hatte es Alexander geschafft, dem geschäftigen Treiben Frankfurts zu entgehen. Er hatte sich, wie jeden Sommer, in einem kleinen Hotel in Graal-Müritz an der Ostsee einquartiert und wollte für zwei Wochen bleiben. Er liebt an diesem Ort so einiges, viele Erinnerungen aus seinen jüngeren Jahren waren mit diesem Ort verbunden. Das wandern am Strand und die Einsamkeit des Moores, stellten sich bei jedem Urlaub als unerschöpfliche Quellen der Regeneration da. Wie gern würde er hier oben wohnen, doch war er weit davon entfernt sein Leben in Hessen aufzugeben.
Wie üblich hatte er sich im Meergraf einquartiert, und es sich auf der Terrasse des Hotels gemütlich gemacht. Zwar konnte er von hier aus den nur dreißig Meter entfernten Strand nicht sehen, dafür aber die Leute beobachten die im Küstenhus zu Abend aßen. Einem Strandrestaurant, welches als alleiniges Gebäude noch näher an den Stranddünen platziert wurde, als das seinige Hotel.
Während Alexander seinen Wein im Glas schwenkte, beobachtete er die Schwalben, welche im Küstenhus nisteten. Wie sie ein und wieder ausflogen. Unbeachtet der Menschen die im Restaurant zu Abend aßen und auch von der streunenden Katze, welche sich mehr für den Fisch der Gäste interessierte.
Der erste Schluck des fruchtigen Weines in der salzigen Seeluft war immer ein großer Genuss. Auch wenn Alexander dem Cidre einige Weine vorgezogen hätte, doch leider hatte ein Lieferengpass seinen Lieblingswein im Urlaubsort für das erste verwehrt.
So begnügte sich der junge Mann mit dem Franzosen und seine Gedanken begannen wieder zu driften. Weit ab von den Schwalben, den gackernden Kindern und der verfressenen Katze. Er wollte in diesen zwei Wochen alles von sich streifen, sich förmlich in eine neue Haut bringen und vielleicht auch neue Schritte wagen. All jene Schritte die er in den letzten Jahren gegangen war, wieder zurück gehen. Noch einmal von vorne beginnen und nicht wieder in einer Sackgasse enden.
Mit ihr. Ohne sie.
Alexander lehnte sich in die Lehne seines gepolsterten Stuhls zurück, sodass die Sonne sein ganzes Gesicht erfassen konnte. Für einige Minuten waren seine Gedanken, sein ganzes Ich, vom Körper losgelöst und eins mit den goldenen Sonnenstrahlen. Diese Symbiose der Ruhe und des Friedens fand bald ihr jähes Ende, als eine zierliche Bedienung mit braunem Haar begann die reservierten Tische einzudecken.
Praktisch geräuschlos und äußerst akkurat gelangten Gabeln, Messer, Löffel, Servietten und kleine Kerzenständer auf die Tische. Bald hatte die Bedienung alle Tische in Alexanders Nähe eingedeckt und so konnte er sich wieder ungestört seiner Verbindung mit der Sonne hingeben. Zumindest hofft er das, denn in diesem Moment heulte ein lautes Motorengeräusch durch die lange Zufahrtsstraße und war nur wenige Sekunden später - an schreienden und fluchenden Familien vorbei gebraust. Der Wagen, ein sportlicher Porsche, nahm mit hoher Geschwindigkeit die enge Kurve und bretterte durch die schmale Gasse der beiden Hotels. Vorbei am Küstenhus und Alexander, hinauf auf den Parkplatz des Hotels.
Kaum war der Wagen auf dem Parkplatz zum stehen gekommen, geparkt hätte man den schräg stehenden Wagen unmöglich nennen können. Öffnete ein schlacksig wirkender Mann schwungvoll die Tür des Porsches um sich eiligst zum Hotel zu begeben.
Inzwischen hatte die schöne Bedienung sich zu dem neuen Gast begeben und dem schlacksigen Mann wohl zu verstehen gegeben, dass sein Wagen so nicht stehen bleiben könne. Denn nur wenige Minuten nach seinem fast schon explosivem auftauchen, parkte er seinen schwarzen Rennschlitten um.
Alexander registrierte das nur wenig und driftete mit geschlossenen Augen wieder in weite Fernen.
Bis ihn ein "Hier ist dreißig, du Arschloch!" eines erbosten Vaters weckte. Der Mann hatte noch gerade rechtzeitig sein Kind von der Straße gezogen, als der Porsche Minuten zuvor angerauscht war. Der schlacksige Mann würdigte den untersetzten Vater keines Blickes und setzte sich zu allem Überfluss an den Tisch neben Alexander.
Es vergingen ein, zwei Minuten in denen der schlacksige sich der Getränkekarte widmete und der Vater samt Kind von dannen gezogen war. Als die Bedienung dem Raser seinen gewünschten Bourbon gebracht hatte, eröffnete der Mann unvermittelt das Gespräch mit Alexander in dem er ihn zuprostete.
"Sie haben Geschmack und die Ruhe weg. Ich heiße Frank Bergmann. Ich möchte Sie nicht weiter stören. Aber nach so einem Wüterich muss man wohl etwas los werden."
Kaum hatte Bergmann seinen Satz beendet, stürzte er sein Getränk ohne Genuss mit schnellem Zug. Seinen Ellenbogen auf der Stuhllehne stützend, drehte er seine Hand um mit einem Fingerzeig auf sein leeres Glas zu zeigen. Alexander unbezweifelt stark, dass man erwarten würde, dass ein Gast so schnell einen so teuren Jahrgang eines Bourbon vernichten würde und bereits eine Bedienung bereit stünde um den praktisch ausgedörrten von seiner schmachvollen Lage zu erlösen. Doch er irrte sich, Bergmann hatte Erfolg und die schöne Bedingung stellte bereits einen weiteren Bourbon auf seinen Tisch und entfernte elegant das leere Glas.
Bergmann versuchte nun erneut ein Gespräch aufzubauen.
"Ein gutes Getränk, nur das süße stört etwas."
"Das ist Vanille.", äußerte Alexander, der sich in diesem Moment auf die Zunge beißen wollte, dass er auf den erneuten und plumpen Gesprächsversuch eingegangen war.
"Widerlich warum macht man so etwas da rein?"
"Damit Bourbon bzw. Straight Bourbon verkauft werden darf, muss die Brennerei ihre Spirituose in neuen, ausgebrannten Fässern lagern. Beim Ausbrennen zerstört der Küfer in Teilen das Lignin, ein Holzmolekül, im Fass. Hierdurch wird 4-Hydroxy-3-methoxybenzaldehyd, kurz Vanillin, freigesetzt.", erklärte Alexander, wissend das Bergmann sich nicht dafür interessieren würde. Aber wenigstens war Frank Bergmann solange ruhig und seine aalglatte und schmierige Stimme konnte sich nicht mehr in Alexanders Ohren festsetzen.
"Sie scheinen vom Fach, Herr?"
"Ling, und nein ich verstehe Genuss nur etwas anders."
"Nur Ling?", erwiderte Bergmann belustigt, der sich von Alexanders kalter Schulter und bewusst besserwisserischen Art nicht abwimmeln ließ. "Wissen Sie ich bin ein Jetsetter ich habe keine Zeit für solche Belanglosigkeiten, meine eigene Profitleistung würde darunter leiden."
"Alexander Ling, wenn Sie es genau wissen wollen Herr Bergmann. Aber wenn Sie als Jetsetter so wenig übrig haben für Genuss, was führt Sie nach Graal-Müritz?"
"Nun.", sagte der Jetsetter gedehnt, "Durch meine Taschen fließt viel Geld, ich kenne die Leute und die Projekte. Ob Berlin, London oder New York, je größer das Projekt, desto wahrscheinlicher bin ich dabei und verdiene mir mehr in mein pralles Portmonee. Und wenn ich Allmosen verteile und die Hose wieder drückt, suche ich mir hier immer was billiges. Das verstehe ich unter Genuss."
Alexander war sich nicht sicher ob er auf den Tisch seines Gegenübers Kotzen oder das Gespräch verlassen sollte. Doch bevor er sich entscheiden konnte, setzte Bergmann noch einen drauf:
"Die Braunhaarige wäre nicht schlecht, noch knackig und frisch. Aber ich kenn die Sorte Frau, die sind nichts fürs Bett wollen nur Kerzenschein und Liebeschnulze. Viel zu anstrengend, sie müssen schon zu mir kommen und sich anstrengen, genug Auswahl habe ich."
Alexander verschluckte sich, dass ging nun wirklich zu weit. Es gab sicher Männer die sich nach diesem Leben sehnten und ähnliche Ansichten hegten, aber er gehörte sicher nicht dazu. Nein, es gab in seinem Leben nur die eine. Feinherb und mit süßen Aromen voll Anmut und Geschmack versehen. Doch das war nun Vergangenheit und sicher nichts was für die Ohren von Frank Bergmann bestimmt war. Das kurze innehalten Alexanders nutzte Bergmann geschickt aus um ihn weiter in seinem Gespräch zu behalten.
"Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich sehe gut aus und habe Geld wie Heu, die Frauen mögen das. Warum sollte ich das nicht nutzen?"
Ja warum sollte er das nicht nutzen? Alexander starrte in seinen nun fast leeren Cidre, während sich Bergmann den nächsten Bourbon mit gierigem Zug einverleibte. Vielleicht weil ihm Moral und Anstand nichts bedeuteten und sein einziger Dreh- und Angelpunkt sein Vermögen war? Ein Chauvinist der andere Menschen nur als Objekte oder Dreckflecken auf der Windschutzscheibe wahrnehmen kann. Alexander konnte solche Menschen nicht leiden, es gab Zeiten da unterstand er solchen Menschen, glücklicherweise sind diese Zeiten in weiter Vergangenheit geblieben. Ling ließ den Cidre auf sein Zimmer schreiben und konnte das Gespräch verlassen.