Es war genau 19:39, Luca schaute gerade auf seinen Funkwecker. Er wollte sich mit seiner Freundin treffen, gemeinsam essen gehen. Es wäre das erste Mal in Wochen, dass sie ausgingen. Vernünftig ausgingen. Giulia hatte es vermisst, mit ihm zu sein, das Leben zu genießen. Einundzwanzig Minuten noch würde es dauern, bis es klingeln sollte, bis er zur schweren, alten Holztür rennen würde, bevor er die schmiedeeiserne Klinke betätigen würde. Einundzwanzig Minuten, bis er ihre langen, braunen Haare wiedersehen sollte, ihre tiefdunklen Augen, und ihren südländischen Teint, bis sie ihn mit ihren strahlend weißen Zähnen anlächeln würde. Er hatte sie so vermisst. So sehr.
Aber Luca war alles Andere als bereit. Er musste sich noch anziehen, kämmen, sein Parfum suchen. Er musste sich eingestehen, dass er nicht annähernd bereit war. Vielleicht lag es an der Zeit, die seit ihrem letzten Treffen vergangen ist, vielleicht auch nur an seiner Verunsicherung, aber er stand im Stress.
"Wo ist denn jetzt mein...", murmelte er, durch das alte, kleine Haus in der Altstadt des italienischen Ortes laufend.
"Im Keller!", rief es aus dem ersten Stock, seine Mutter hatte sein Gemurmel offenbar aufgeschnappt.
"Danke dir, Mamma!"
Er beeilte sich, die Holztreppen hinunterzurennen, bei jedem Schritt knarzte es unter ihm. Die Holzbalken waren älter als er, älter als seine Mutter, vermutlich älter als seine Großeltern es jetzt wären. Der Geruch von längst vergangenen Bäumen bestimmte die Luft in den kleinen Räumen, ein angenehmer, alter Duft, voller Geschichte. Dann spürte er einen Stoß, gefolgt von einem Weiteren.
"Mamma? Der Boden, der Boden bebt wieder!"
Es war nicht sein erstes Erdbeben, und er war überzeugt, es wird nicht sein letztes gewesen sein. Nur das Dinner mit Giulia hatte er im Kopf. Es nicht ausfallen lassen zu müssen, das war in diesem Moment sein Ziel.
Unbeirrt begann er, Schubladen zu durchsuchen. Das Parfum musste doch irgendwo sein. Er konnte es doch nicht verlegt haben.
Er war nun doch verwundert, ein solches Beben kannte er tatsächlich nicht. Es war anders als die Male zuvor. Bedrohlicher. Er machte sich nun doch Sorgen, duckte sich und hockte auf dem Boden. Ein lautes Knarren, ein Riss, er sah nach oben.
Ein Stützbalken flog genau auf ihn zu, es wurde schwarz um ihn.
Als er wieder aufwachte, befand er sich in den überresten des Kellers. Eingegraben in Schutt. Er konnte sich nicht rühren, sein Arm war unter einem Balken eingeklemmt.
"Mamma? Mamma? Bist du da?", rief Luca.
Stille.
"Mamma?! Hörst du mich?!"
Keine Antwort.
"Mamma!"
Er stieß einen stillen Schrei aus. Es konnte nicht passiert sein, das konnte so nicht sein. Eine Million Gedanken schossen durch seinen Kopf. Was war mit seiner Mutter? Was war mit Giulia? Warum hatte er sie nicht schützen können? Musste er hier sterben?
Der Geschmack des Staubs auf seinen Lippen brachte ihn zum Husten. Wasser bräuchte er, aber Wasser war keines zu finden. Hier war nichts, nichts außer Asche und Staub. Er hörte das leise Flackern eines Feuers. Woher es kam, wusste er nicht.
"Ich will nicht verbrennen", sagte er zu sich.
"Ich will nicht sterben"
Er war allein, gefangen zwischen den Ruinen des alten Hauses und seinem eigenen Lebenswillen. Es durfte nicht so enden, es konnte nicht so enden.
"Hilfe..." rief er, seine Stimme in den Trümmern erstickend. So würde ihn niemals jemand hören.
"Hilfe!"
Dieser Schrei musste nach außen Dringen, sonst hätte er keine Chance.
"Hilfe! Hilfe! Hilfe!"
Er schrie, bis seine Stimme versagte.
Dann hörte er einen Stein rollen. Ein Lichtstrahl durchbrach die Finsternis der Ruine und traf sein Gesicht. Er versuchte, sein Gesicht abzuschirmen, aber sein Arm war immer noch unter dem Balken begraben. Über den Spalt beugte sich eine Gestalt, er konnte sie nicht erkennen.
"Ist da jemand?", fragte die Gestalt. Die Stimme hörte sich alt und rau, dennoch kräftig und stark an.
"Helfen Sie mir!", flehte Luca.
"Hier ist einer, kommt mal her!", hörte er die Gestalt rufen. Seine Augen gewöhnten sich langsam an das grelle Licht, und er meinte, in der Gestalt einen alten, grauen Mann in Feuerwehruniform zu erkennen. Schritte näherten sich dem Spalt. Weitere Steine wurden aus dem Weg gerollt, mehr und mehr Licht erfüllte den Keller. Jetzt erkannte er auch, dass das Haus verschwunden war. Vollständig. Nur noch einzelne Mauersegmente waren zwischen den Schuttbergen zu sehen.
Jetzt erkannte er auch den Rest der Männer. Sie waren alle älter, Falten hingen tief in ihre Gesichter. Aber sie trugen alle Feuerwehruniformen.
Luca neigte den Kopf etwas zur Seite. Zwischen der Ansammlung an Menschen sah er jetzt eine andere Person auf der Straße stehen. Sie fixierte ihn mit ihren dunklen Augen, die langen, braunen Haare wehten leicht im Wind.
"Wir haben dich hier gleich raus, Junge!", rief ihm der Feuerwehrmann zu.
Er konnte es nicht glauben. Er sollte leben, sie sollte leben.
"Padre nostro, che sei nei cieli..."
Sein Gebet wurde von einem lauten Geräusch unterbrochen. Luca sah das entsetzte Gesicht des Mannes, dann ein fallendes Mauerstück über ihm.
Eine Sekunde, die eine Ewigkeit dauerte.
Dann war alles still.