Akrobat
Du Topsensation
Die Angst kommt in gierigen Wellen.
Akrobat
Sie sehen dich schon
Im Sand der Arena zerschellen.
aus "Akrobat" von Heinz Rudolf Kunze
Die Stunden mit Celia waren anders gewesen.
Bei ihr hatte er der sein können, der er wirklich war. Sie hatte hinter dem Künstler auch den Menschen in ihm gesehen. Nicht, dass sie ihn nicht auch wegen seines Könnens liebte.
In ihrer gemeinsamen Pariser Zeit hatte sie immer wieder in der Vorstellung gesessen und ihn still bewundert. Ja, sie hatte sich schließlich mit einem schüchternen Lachen gewünscht, auch einmal so fliegen zu können wie er.
Wieder erinnerte Renard sich an ihren ungläubigen Blick, die großen, weiten Pupillen in ihren blauen Augen, als er sie eines Nachmittags mit zu den Proben und nach der Übung mit hinaufgenommen hatte in die Weite seiner Welt.
Doch sie war mutig gewesen, mehr als er es von ihr erwartet hatte, und so schlang er schließlich einen Arm um ihre Taille, ließ die Sicherungskarabiner einrasten und griff mit der freien Hand nach dem Trapez, um sich mit ihr hinaus in der leeren Raum zu schwingen.
Danach hatte sie lange geschwiegen und still in sich hinein gelächelt, bis er schon glaubte, ihre Schweigsamkeit nicht mehr ertragen zu können. Und dann hatte sie ihn zum ersten Mal geküsst. Hoch oben in der Manege, vor den Augen seiner Sicherungsmänner und seiner Kollegen, mit geschlossenen Augen und Händen, die auf seinen Nacken noch ein leichtes Zittern übertragen hatten.
Noch einmal spürte der Akrobat in seiner Erinnerung die weiche Wärme ihrer Lippen und ihre Hand in seinem Nacken. Danach hatten sie sich noch oft geküsst und es war immer ein gutes Gefühl gewesen. Doch dieser erste Kuss war Renard als etwas ganz Besonderes in Erinnerung geblieben.
Erst als die gutmütigen Beifallsrufe und das Klatschen zu ihnen vordrangen, hatte sich Celia von ihm gelöst und war über und über rot geworden.
Zuerst hatte sie ihn noch angesehen.
„Ich danke dir, Patrice“, hatte sie geflüstert.
Dann mit gesenkten Augen und mit den Fingern an den Schlaufen ihres Sicherungsgurtes spielend, „und ich liebe dich.“
In diesem Moment hatte er geglaubt, wirklich fliegen zu können. Doch in Wahrheit hatte er ihr nur den Kuss zurückgegeben und ihr gesagt, dass er ebenso fühlte. Er war ein Meister des Trapezes, nicht der großen Worte. Später am Abend saß sie erneut in der Vorstellung ganz vorn und in der folgenden Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander.
Aus einem Mal waren viele Male geworden und er hatte sich glücklich gefühlt, ein zufriedener, liebender Mann.
Doch dann war die Spielzeit in Paris zu Ende gegangen, Shadows of Moon war nach Moskau verlegt worden und aus ihrer Liebe war eine Fernbeziehung geworden. Sie telefonierten fast täglich miteinander und auch wenn die Kosten für diese Gespräche wahnsinnig hoch waren, wollte er jeden Tag ihre Stimme hören, ihr Flüstern, ihre Versicherung, dass sie ihn noch immer liebte.
Neue Artisten trafen ein, die Gruppe wuchs und sie alle wussten, dass manch einer den nächsten Spielort nicht mehr als Akteur miterleben würde. Alle trainierten hart und ausgiebig und jeder von ihnen war froh, wenn nach der Abendvorstellung der Vorhang fiel. Dennoch war er auch glücklich. „Shadows of Moon“ blieb ein Dauerbrenner, jeden Abend ausverkauft und auch er hatte mit dem Fliegenden Holländer einen Anteil an ihrem gemeinsamen Erfolg.
Hin und wieder versuchte er seine Gedanken mit den anderen zu teilen und schließlich fand er doch noch zwei neue Freunde, die ihm das Leben vor und nach der Arbeit angenehmer machten. Nun rief er nicht mehr jeden Tag bei Celia an und sie schien ihn zu verstehen, gab vor, ihr eigenes Leben in Paris zu genießen.
Weihnachten kam, der Jahreswechsel, doch als sie ihn einlud, in der damit verbundenen Spielpause nach Paris zu kommen und mit ihr zu feiern, lehnte er das mit dem Hinweis auf den langen und teuren Flug ab. Vielleicht wollte er aber auch nur vermeiden, dass ihn die Kollegen ob seiner festen Beziehung verspotteten. Das jedoch konnte er weder sich selbst noch Celia erklären.
Ihr Schweigen nach dieser Ankündigung war jedoch vielsagend.
Für Renard hielt Russland neue Erfahrungen bereit, die er nicht hatte voraussehen können. Während die Franzosen bereits Weihnachten feierten, waren jene Tage und Abende in Moskau noch der Vorfreude auf die kommenden Festtage gewidmet. Durch das Festhalten an dem gregorianischen Kalender fielen die Feiertage auf andere Termine als in Paris. Der 24. Dezember also war für Patrice ein normaler Spieltag.
Seine Freunde aber hatten für jenen Abend eine Überraschung geplant, von der der Akrobat nichts ahnen konnte. Bisher hatte er sich in Anbetracht seiner Verbindung zu Celia immer von jenen jungen Frauen und Mädchen fern gehalten, die die Künstler allabendlich umlagerten und mehr als nur ihre unschuldige Gesellschaft anboten. Heute aber hatten seine beiden Freunde auch für ihn eine außergewöhnlich hübsche Begleiterin eingeladen, die er nicht ablehnen konnte, ohne die beiden zu verletzen.
Also schloss er sich der fröhlichen Gruppe an, die zunächst einen nächtlichen Bummel über den Roten Platz machte und den hell erleuchteten Kreml bewunderte, bevor sie gemeinsam mit der Metro bis zur Station Majakowskaja fuhren und im 5 Oborotow einkehrten. Patrice war kein Mann, der nicht trank, doch der starke Alkohol der wodkahaltigen Mischgetränke brachte ihn bald dazu, seine Hemmungen fallen lassen. Er gab seiner Sehnsucht und seiner Einsamkeit nach und fand sich schließlich zu fortgeschrittener Stunde mit seiner Begleitung Darja in seinem Hotel wieder.
Sie war willig und erfahren und für ein paar Stunden würde sie ihn das Alleinsein vergessen lassen. Das zumindest versprach ihr Körper. Dass seine Freunde sie für ihre Gefälligkeiten bereits bezahlt hatten, verschwieg sie ihm selbstverständlich. Sie verwöhnte ihn eine Nacht lang und er genoss, was sie ihm gab. Irgendwann gegen Morgen klingelte sein Telefon und sie machte sich einen Spaß daraus, für ihn ranzugehen und dem Anrufer auf Russisch zu antworten. Danach lachte sie lange und als er sie fragte, meinte sie nur, dass am anderen Ende der Leitung eine Frau ein Lied gesungen habe.
Noch waren seine Gedanken vom Alkohol vernebelt und er lachte mit ihr. Doch als er später am Morgen allein in seinem zerknautschten Bett erwachte, fiel ihm siedend heiß ein, dass ihn nur eine Frau nachts anrufen würde – Celia.
Panisch begann er nach seinem Handy zu suchen und als er es schließlich neben seinem Nachttisch fand, wusste er intuitiv, dass das rote Blinklicht ihm heute keine guten Nachrichten bringen würde. Er hatte drei Anrufe erhalten und sie lauteten alle drei auf dieselbe Nummer, die er auswendig wusste.
In der ersten Nachricht hatte sie sich bei ihm entschuldigt, weil sie glaubte, ihn mit ihrem Schweigen verletzt zu haben. Sie sei enttäuscht gewesen, dass sie ihn nicht über den Jahreswechsel bei sich haben konnte, doch sei das kein Grund, ihn zu beschuldigen, versicherte sie ihm, und dass fehlendes Geld für sie kein Problem sei, das sie nicht verstehen könne. Hauptsache sei doch, dass er seine Kunst liebe und an sie dächte.
Dann, in der zweiten Nachricht, hatte sie ihm Frohe Weihnachten wünschen wollen und dann erst daran gedacht, dass das Jolkafest ja noch gar nicht so weit war.
Von der dritten Nachricht, die Darja unterbrochen hatte, waren nur ein paar Takte geblieben.
„C'est la belle nuit de Noël
La neige étend son manteau blanc
Et les yeux levés vers le ciel
A genoux les petits enfants
Avant de fermer les paupières
Font une dernière prière …“
Dann war die Russin ans Telefon gegangen und hatte ihr geantwortet …
Eine weitere Nachricht gab es nicht.
Lange starrte Patrice das kleine Gerät in seiner Hand an, bevor er es wütend auf den Fußboden warf und der schwarze Kunststoff in hunderte kleiner Teile zersplitterte.
Zwei, drei Mal trat er noch nach den Einzelteilen, bevor er begriff, dass er soeben den einzig möglichen Kontakt zu Celia zerstört hatte. Nun würde er sich zunächst ein neues Handy beschaffen müssen, bevor er irgendetwas erklären konnte und je mehr Zeit verstrich bis zu einem Gespräch, um so unwahrscheinlicher würde es sein, dass sie ihm Gelegenheit gab, mit ihr noch einmal zu sprechen.