Winter's Violin
Kapitel 2 - Summer & Winter
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Michael blieb noch ein paar Minuten lang am Bahnsteig stehen und schaute dem längst hinter den Bäumen verschwundenen Zug hinterher. Obwohl er gewiss die richtige Entscheidung getroffen hatte, fühlte er sich plötzlich so einsam. Die Trennung von Victoria warf sein Leben, so wie er es die letzten fünf Jahre gekannt hatte und gewohnt gewesen war, komplett über den Haufen. Wie gerne hätte er sich nun mit einem guten Freund getroffen um mit diesem darüber zu reden? Leider fiel ihm niemand ein, an den er sich hätte wenden können, zumindest nicht hier in der Stadt. In Momenten wie diesen verfluchte Michael seinen zurückgezogenen Lebensstil. Es hätte ja nicht mal ein enger Freund sein müssen - es hätte ihm ja gereicht, mit ein paar Kumpels um die Häuser zu ziehen. Einfach nicht alleine sein zu müssen. Der einzige Freund jedoch, den er in der Gegend hätte anrufen können, war Victoria. Michael lächelte gequält und machte sich auf den Weg nach Hause.
Als er auf dem Rückweg schließlich durch die inzwischen wie ausgestorben anmutende Unterführung ging, saß die Geigenspielerin mit ihrem kleinen Hund noch immer dort, und spielte ein anderes Lied - diesmal nicht von Vivaldi, aber ebenso schön. Michael war die Begegnung von vorhin noch so peinlich, dass er sich am liebsten klammheimlich vorbeigeschlichen hätte. Doch wie er schnellen Schrittes an ihr vorbei huschte, hüpfte der kleine Malteser auf und trappelte ihm neugierig nach. Als Michael stehenblieb und sich nach dem Kleinen umdrehte bellte er halblaut und wedelte freundlich mit dem Schwanz.
»Hierher Summer!« rief sein Frauchen ihn zurück und hörte auf zu spielen »Sei brav. Der nette Herr hat uns doch schon vorhin was gegeben«
Sofort zog sich der kleine Frechdachs zurück und verkroch sich an sein Plätzchen unter ihrem Mantel.
Michael kratzte sich verlegen am Hals. »Tut mir leid, dass meine Ex-Freundin vorhin so eine Szene gemacht hat. Ich wollte dir das Geld wirklich geben«
Er holte den zerknüllten Schein aus seiner Jackentasche. »Weißt du was? Ich geb's dir einfach jetzt. Hier!«
»Ach, lass stecken, die Läden haben eh schon zugemacht«, meinte sie nur, schenkte ihm ein Lächeln und setzte mit zitternden Fingern erneut den Bogen an die Geige. »Was meinst du, leistest du mir noch Gesellschaft für das letzte Stück heute Abend?«
»Nur zu gerne«, antwortete er, und setzte sich zu ihr auf den kalten Asphalt. Die Fremde begann ein für ihn unbekanntes aber sehr ergreifendes Stück zu spielen. Die wenigen Minuten, die Michael damit verbrachte dem bezaubernden Spiel der unbekannten Violinistin zu lauschen reichten aus um ihn am ganzen Körper frösteln zu lassen. Selbst die dicke Jacke schützte kaum vor der unbarmherzigen Kälte, die sich vom Boden und den Wänden her durch Mark und Glieder fraß. So wunderschön das letzte Lied auch war, Michael war geradezu erleichtert als die Fremde schließlich die letzte Note gespielt hatte, und sich anschließend daran machte die gesammelten Münzen aus der Instrumententasche zu picken um ihr Instrument zu verstauen. Für ihn war es unvorstellbar, wie jemand mit so viel Talent nur ein solch entbehrungsreiches Leben führen konnte.
»Hey«, meinte er, als er sich schließlich erhob und den Staub von seiner Jacke klopfte. »Ich könnte noch ne Kleinigkeit zu Essen vertragen, hab aber keine Lust heute noch zu kochen. Darf ich dich und Summer vielleicht zum Abendessen ausführen?«
Michael erwartete schon fast, dass sie nun misstrauisch werden oder zumindest höflich ablehnen würde, doch stattdessen sah sie ihn mit großen Augen an und meinte: »Im Ernst? Das würdest du für mich tun?«
Er reichte ihr seine Hand. »Ich fühle mich selbst grade ein bisschen verlassen und wüsste ein bisschen nette Gesellschaft durchaus zu schätzen«
Sie ergriff seine Hand - mit Fingern wie Eiszapfen - und ließ sich von ihm auf ihre wackligen Beine helfen. »Und da habe ich mich gerade damit abgefunden, heute mal wieder mit knurrendem Magen schlafen zu gehen. Du ahnst ja gar nicht was eine warme Mahlzeit für mich bedeutet!«
So machten sich die beiden auf den Weg, und der kleine Hund trappelte ihnen aufgeregt nach. »Der kleine heißt also Summer«, fragte Michael noch, während sie die Stufen nach oben stiegen. »Darf ich demnach annehmen dass dein Name "Winter" lautet?« Sie musste schmunzeln. »Das ist gar nicht mal so weit daneben. Weißt du was? Winter klingt gut. Nenn mich doch einfach so!«
Winters Herz schlug ungewohnt schnell, als sie sich von Michael in ein schönes italienisches Restaurant entführen ließ. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie heute zum allerersten Mal überhaupt von einem jungen Mann zum Essen ausgeführt wurde. Zwar würde sie diese Gelegenheit noch nicht als ein "Date" verbuchen, doch musste sie sich eingestehen, dass dies von allen Ereignissen in ihrem bisherigen Leben einem Rendevouz wohl am nächsten kam.
Es war ihr peinlich, ihren Mantel abzulegen und die schmuddelige Kleidung darunter zu präsentieren. Sie schämte sich sehr für die fettigen, dunklen Haarsträhnen die unter ihrer Kapuze zum Vorschein kamen und in ihrem Gesicht kleben blieben - und doch - die Aussicht darauf, etwas zu essen und die Gesellschaft von jemandem zu genießen, der normal mit ihr redete und sie wie einen Menschen behandelte, ließ sie ihre anfängliche Scheu rasch überwinden.
Michael war zunächst vor allem froh, nicht alleine sein zu müssen und der sympathischen Winter etwas Gutes tun zu können. Im Verlaufe des Abends entwickelte er jedoch ein noch viel tieferes Interesse an dieser geheimnisvollen jungen Lady. Wo hatte sie nur gelernt so gut Geige zu spielen? Ohne Zweifel musste sie eine hervorragende Bildung genossen haben. Es faszinierte ihn, wie sie in der Lage gewesen war die Bestellung in perfektem italienisch aufzugeben, und wie ihr Umgang mit dem Essbesteck ihn daneben glatt wie einen dahergelaufenen Barbaren aussehen ließ.
Als er sie fragte, wo sie denn aufgewachsen war, und wie es dazu kam, dass sie ganz alleine auf der Straße lebte, antwortete sie nur: »Alles was es über mein Zuhause zu wissen gibt, ist dass ich es aus gutem Grund verlassen habe, und dass ich lieber verhungern oder erfrieren als dorthin zurückgehen würde«
Jedes Mal wenn er versuchte mit subtilen Fragen doch noch etwas mehr über sie oder ihre Vergangenheit herauszufinden, lenkte sie das Gespräch so gekonnt in derartige Bahnen um, dass sie stattdessen letztendlich immer bei Themen wie der Poetik des Aristoteles, den Theaterstücken von Berthold Brecht, den Syphonien von Mozart oder einfach nur bei tiefgreifenden philosophischen Fragen über Gott und die Welt landeten.
Beide genossen den Abend so sehr, dass sie regelrecht die Zeit vergaßen, und nicht eher ans Gehen dachten, als der Kellner sie davon in Kenntnis setzte, dass das Restaurant nun in Kürze schließen würde.
Draußen war es inzwischen Stockfinster geworden, und nur im Licht der Straßenlaternen konnte man erkennen, dass es stark zu schneien begonnen hatte. Winter umklammerte noch ein letztes Mal ihren Kaffee mit beiden Händen, sog die Restwärme der Tasse mit ihren Finger auf als könne sie diese für den Heimweg speichern.
Es fühlte sich unglaublich gut an, etwas warmes im Bauch zu haben, doch beim Gedanken an den bevorstehenden Abschied wurde ihr ein wenig traurig zumute. Sie hatte in den letzten Jahren nur sehr wenige schöne Erinnerungen gesammelt, und dieses tolle Gefühl des Dazugehörens, das Michael in ihr auf wundersame heraufbeschwor, ließ in ihr den unbändigen Wunsch nach mehr aufkeimen. Sie hätte viel dafür gegeben, den Abend noch länger währen zu lassen - zumal sie noch gar nicht damit fertig waren, Shakespear's beste Werke zu besprechen.
Verzweifelt suchte sie nach einem Vorwand den Abschied noch ein bisschen hinauszögern zu können, während sie aufstanden und Michael ihr wie ein Gentleman in ihren den Mantel half. Bald würden sie und Summer sich in ihrem notdürftig zusammengebastelten Bunker aus Zeitungen und alten Sofakissen vom Sperrmüll zusammenkuscheln, in mehrere Schichten Decken hüllen und sehnsüchtig darauf warten, dass die Sonne wieder aufging, um wenigstens ein bisschen Wärme zu spenden.
Auch Michael hatte kaum Freude an der Vorstellung, nach dem ausgesprochen schönen Abend in eine leere Wohnung zurückzukehren. So standen die beiden sich noch eine Weile in bedrücktem Schweigen vor den geschlossenen Türen des Restaurants gegenüber.
Schließlich gab Winter ihrem Herzen einen Ruck und brach mit nervös zitternden Lippen die Stille. »Es... es ist bestimmt unverschämt dich nach allem was du schon für mich getan hast nun auch noch darum zu bitten...«, meinte sie mit gesenktem Haupt. »Aber würdest du mich vielleicht noch ein Stück weit begleiten? Die Strecke ist ziemlich dunkel. Ich gehe den Weg so spät Nachts meistens nicht mehr alleine«
Sie hatte ein schlechtes Gewissen ihn anzulügen. In Wahrheit konnte sie ganz gut auf sich selbst aufpassen, wollte aber um jeden Preis noch ein bisschen gemeinsame Zeit herausschlagen.
Michael zögerte einen Moment, fasste dann aber einen Entschluss.
»Es wird vermutlich noch die ganze Nacht schneien. Ist es nicht viel zu kalt für euch beide um draußen zu übernachten?«, fragte er.
Winter horchte hoffnungsvoll auf. »Schon, aber bis jetzt haben wir's ganz gut überstanden«, antwortete sie zaghaft.
»Nun. Ich wohne nicht weit weg von hier, und das Sofa kann man zu einem Gästebett ausziehen.«
»Ich könnte wirklich die Nacht bei dir verbringen?«
»Was spricht dagegen? Du könntest ein heißes Bad nehmen und hättest mal wieder ein Dach über dem Kopf. Wenn du möchtest könnten wir uns noch einen Film ansehen oder so«
Winters Herz pochte wie wild. Es war weniger die Aussicht auf ein warmes Bett, das ihren Puls so zum Rasen brachte, sondern die ungewohnte Tatsache, dass jemand ihr genügend Vertrauen entgegenbrachte um sie mit zu sich nach Hause zu nehemen.
Sie sprach kein Wort, denn sie wusste sie würde im Moment nur weinerliches Gestottere hervorbringen. Zum Glück verdeckte die Kapuze ihre ganz nass gewordenen Augen. Sie lächelte vor Glück, nickte sanft und griff nach Michaels Hand, welche sie den ganzen Weg hindurch nicht mehr losließ.