Südland
Leholan war König im Südland. Das wiesen- und waldreiche Land mit seinen sanften Hügeln und steil aufragenden Bergen regierte er seit langen Jahren. Von seinen Urvätern war es in seiner Ahnenreihe stets weiter gegeben worden bis zu ihm. Mit weiser Hand regierte er das Land, wie sein Vater Alguriel es ihn gelehrt hatte. Zwei Söhne waren ihm von seiner Gemahlin Altreiede geschenkt worden. Sie waren sein ganzer Stolz. Belgomir, der ältere der beiden, war ein weit über das Land hinaus bekannter Krieger. Jeden Wettstreit hatte er bisher für sich entscheiden können und an Kraft und Geschicklichkeit war er unerreicht.
Bengimir jedoch, Leholan's zweiter Sohn, war das genaue Gegenteil. Er war von zarter Statur, hatte feine, schlanke Hände und ein ebenmässiges Gesicht. Er war eher den schöngeistigen Dingen zugewandt und seine hohe Stirn wies ihn als einen Denker aus. Auf dem Schlachtfelde war er nicht zu gebrauchen, es sei denn der Gefallenen in einem Klageliede zu gedenken.
Beiden lagen die Frauen am Hofe zu Füssen - aus dem einen oder anderen Grunde.
Belgomir war vor zwei Tagen mit einer Schar von zehn Gefolgsleuten zur Jagd aufgebrochen und wurde heute zurück erwartet. Sie führten stets einen Karren mit für die Verpflegung und die Zeltunterkünfte. Bei der Rückkehr jedoch war es meist so, dass diese Dinge zusätzlich auf die Pferde verteilt werden mussten, da das Jagdglück Belgomir scheinbar immer hold war. Seit Stunden hielten Wachposten von den Türmen der Burg her Ausschau nach dem Jagdtrupp, doch bisher hatten sie nichts entdecken können. Man scherzte schon, dass sie diesmal noch langsamer fahren müssten, weil die Achsen des Karrens sich so sehr biegen würden, ob der Last der erlegten Beute.
Als alles zum Abendmahl hergerichtet war, wollte Altreiede eigentlich noch warten, doch Leholan entschied mit dem Speisen zu beginnen, sie würden schon gleich eintreffen. Doch in seinem Innersten machte er sich Sorgen. Er hatte ein ungutes Gefühl. Dieser Traum heute Nacht hatte ihn unruhig schlafen lassen und zweimal war er sogar aufgestanden. Er hatte von einem Kind geträumt, dass im zarten Alter bereits mit solcher Kampfeskraft und Geschicklichkeit gesegnet war, dass man es kaum glauben konnte. Am Ende war der Junge in einen fürchterlichen Kampf verwickelt, deren Ausgang ihm im Traum nicht gezeigt wurde. Leholan hatte diesen Traum auf Belgomir bezogen und machte sich wegen des Kampfes darin grosse Sorgen.
Das Mahl an der grossen Tafel hatte begonnen und anstelle der sonst üblichen randvollen Teller schien der Appetit des Herrscherpaares heute eher dürftig auszufallen. Inzwischen entging hier keinem mehr, dass sie in Sorge waren. Die Dämmerung war längst hereingebrochen und nachdem Leholan mit dem Mahl geendet hatte entschied er: "Schickt drei Kundschafter aus und reitet ihnen entgegen. Nehmt genügend Fackeln mit, dass man euch von Weitem sehen kann. Macht euch gleich auf!" Sofort wurde seinem Befehl Folge geleistet und drei Männer machten sich auf den Weg. Keine fünf Minuten später ritten sie durch das Tor dem nahen Wald entgegen. Aufmerksam beobachteten sie die Umgebung.
Plötzlich hob ihr Anführer den Arm in die Höhe und hielt sein Pferd an. "Halt. Da vorne ist etwas. Sieht aus wie der Karren, den unsere Leute mitgeführt haben. Rasch, lasst uns nachsehen." Die Gruppe setzte ihre Pferde wieder in Bewegung. Die Umrisse des Karrens wurden deutlicher. Die Kutschbank schien verwaist zu sein und die Zügel waren nach hinten auf die Ladefläche gelegt.
"Das ist der Jagdkarren Belgomir's, rief der Anführer. Rasch, lasst uns nachsehen." Er ritt an den Karren heran und seine vor Schreck geweiteten Augen liessen nichts Gutes vermuten. "Belgomir!", rief er bestürzt. Der Sohn des Königs lag schwer verletzt hinter der Kutschbank des Karrens. Blut strömte aus mehreren Wunden an seinem Körper. Ein Pfeil steckte hinten in seiner rechten Schulter und hatte das schwere lederne Jagdkleid Belgomir's durchschlagen. Der Anführer sprang von seinem Pferd ab und landete auf dem Karren. Vorsichtig berührte er Belgomir an der Schulter. "Herr!"
Nur leises Stöhnen kam aus Belgomir's Mund. "Rasch auf den Kutschbock, rief er einem der anderen Männer zu. Es ist Belgomir. Er ist schwer verletzt, wir müssen ihn schnellstens zurück bringen und versorgen. Er hat viel Blut verloren. Binde Dein Pferd hinten an und eile Dich geschwind! Und Du reite zurück und berichte dem König. Es müssen Vorbereitungen getroffen werden für Belgomir's schwere Wunden," wies er den dritten Mann an."
Sofort tat der Mann wie ihm befohlen war und kurz darauf sass er auf dem Kutschbock und liess das Pferd vorsichtig anlaufen. Der zweite Kundschafter ritt sofort in wildem Galopp zurück in Richtung der Burg. Der Anführer sah sich inzwischen Belgomir's Wunden an. Dabei fiel sein Blick auf den Pfeil, der in seiner Schulter steckte. Er nahm die Federn am Ende vorsichtig zwischen die Finger und leuchtete sie mit einer Fackel an. "Ein Askadenpfeil, murmelte er leise vor sich hin. Was ist hier geschehen?"
Der Kundschafter hatte das Tor der Burg erreicht und sprang im Vorhof geschwind von seinem Pferd ab. Schnell rannte er die Stufen zur Burg hoch und kam in den Speisesaal, wo noch alle versammelt waren. "Mein Herr, mein Herr, wir haben Belgomir gefunden. Er ist schwer verletzt!"
Entsetzen machte sich in den Gesichtern der Anwesenden breit. Völlig ausser Atem berichtete der Mann dem König, dass Belgomir scheinbar der einzige Überlebende eines Angriffes war. Von den anderen zehn Jagdbegleitern fehlte jede Spur.
"Rasch zum Tor, befahl Leholan und bereitet ein Krankenlager für Belgomir. Holt die Heilkundigen zusammen und bereitet heisses Wasser." Eiligen Schrittes folgte er den anderen hinunter zum Tor. Gerade passierte der Karren das Tor zum Innenhof der Burg. Altreiede stand bereits am Karren und hatte Belgomir's Hand ergriffen. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter und liefen ihr über den vor Schmerz zusammengekniffenen, bibbernden Mund. Bestürzt sah der König seinen schwer verletzten Sohn. Der Anführer trat zu ihm.
"Es ist ein askadischer Pfeil mein König, ich habe ihn mir genau angesehen."
"Was hat das zu bedeuten? Wir haben mit den Askaden keinen Unfrieden gehabt seit ewiger Zeit", fragte der König.
"Mir ist es auch ein Rätsel Herr," antwortete der Anführer der Kundschafter.
"Bringt ihn vorsichtig hinauf, wies Leholan die Männer an. Das Krankenlager ist hergerichtet und die Heilkundigen stehen bereit." Mehrere Männer trugen Belgomir behutsam vom Karren fort in die Burg. Altreiede starrte noch auf die grosse Blutlache auf dem Karren. Leholan berührte sacht ihre Schulter. Sie drehte sich zu ihm um und ihre Blicke trafen sich. Nie hatte er seine Gemahlin so verzweifelt gesehen. Behutsam zog er sie zu sich heran und nahm sie in die Arme. Schluchzend liess Altreiede ihrer Trauer freien Lauf. Betreten und mit gesenkten Köpfen standen die anderen Menschen um sie herum.
Bengimir hatte den Saal nicht verlassen. Er stand auf dem Balkon und beobachtete die Szenen im Hof der Burg. Er hatte nicht den Wunsch verspürt, mit den anderen hinunter zu gehen. Warum auch? Es waren ja auch genügend Menschen da, welche sich um Belgomir kümmerten. Alle waren sie um ihn herum, wie so oft.....
Belgomir war inzwischen in ein Gemach gebracht worden, wo er sofort von einigen Heilkundigen Männern und Frauen versorgt wurde. Das Herrscherpaar wurde gebeten, den Raum zu verlassen und so fanden sich alle gemeinsam kurz darauf wieder im Saal zusammen und warteten auf den Bericht der Menschen, die ihn versorgten und sich um ihn kümmerten. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Es dauerte bis kurz vor dem Morgengrauen, als einer der Männer aus dem Zimmer heraus in den Saal kam und vor das Königspaar trat. Erwartungsvoll und mit angsterfüllter Mine sahen alle den Mann an.
"Er hat sehr viel Blut verloren Herr und ist nach allerbestem Wissen versorgt, begann der Mann. Nun liegt alles Weitere an ihm. Wenn er den kommenden Tag übersteht und wir Fieber vermeiden können, wird er es schaffen, zu uns zurück zu kommen. Darauf sollten sich nun all' unsere Gebete richten."
"Ich will ihn sehen," sagte der König.
Gemeinsam mit seiner Gemahlin betrat Leholan kurz darauf das Krankengemach. Der Raum war von den Gerüchen verschiedener Kräuter, Salben und Räucherwerk geschwängert. Kerzen brannten überall. Belgomir schien tief zu schlafen. Altreiede nahm auf einem Stuhl neben dem Bett Platz. Etwas beruhigt beobachtete sie den sich langsam hebenden und senkenden Brustkorb ihres Sohnes. Leholan sah sich den herausgezogenen Pfeil an, der auf einem Tisch abgelegt war. Blut klebte an der Pfeilspitze. Das Blut seines Sohnes.
Was ging hier vor?