TOM
Nachdem ich meine Mutter begrüßt und ihr ein bisschen von unserem Ausflug erzählt hatte, brachte ich mein Zeug auf das Zimmer. Seufzend sah ich mich um. Max und ich waren vielleicht eine halbe Stunde nicht mehr beisammen und schon fühlte ich mich allein. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich Maximilians Geburtstagsgeschenk auf meinem Tisch stehen sah. Ich nahm den Bilderahmen und betrachtete das Bild. Damals dachte ich, dass ich nicht glücklicher sein könnte, doch nach diesen vier Tagen wurde ich eines Besseren belehrt. Als mein Handy klingelte, hatte ich eigentlich mit einem Anruf von meinem Freund gerechnet und war überrascht, als Roberts Nummer erschien. Nanu, er hatte mich noch nie angerufen.
„Hall..."
„ER BRINGT IHN UM! DU MUSST HER KOMMEN!"
Sofort rannte ich los. Mein Blut rauschte in den Ohren und mein Herz flatterte wie ein Kolibri. Ich war wie im Tunnel und nahm außer meiner Panik gar nichts mehr wahr. Mein Gott, ich hätte ihn nicht allein lassen sollen. Den ganzen Tag hatte ich schon diese latente Panik verspürt. Warum hatte ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört? Roberts panische Stimme schallte noch in meinen Ohren, als ich außer Atmen ankam. Ich riss die Tür auf und erstarrte. Für einen kurzen Augenblick musste mein Gehirn verarbeiten, was ich da sah. Arno trat wie von Sinnen auf Max ein. Robert schrie. Eine große Blutlache befand sich um meinen Freund herum. Erst als Arno mit voller Kraft auf Max Bein trat, ich Knochen brechen hörte und mein Freund dennoch nicht reagierte, erwachte ich aus meinem Schockzustand. Mit einem Schrei warf ich mich auf seinen Vater. Überrascht stürzte dieser und ich rang ihn nieder. „Robert! Ruf die Polizei und einen Krankenwagen. SCHNELL!!!!" Sofort rannte Robert los. Arno nutzte die Gelegenheit und schaffte es, mich von ihm herunter zu stoßen. Ich landete unsanft auf meinem Rücken. Mir blieb kurz die Luft weg, doch schon spürte ich seinen schweren Körper auf mir. Er spuckte mir ins Gesicht. „Du miese kleine Prinzessin. Ekelhaft. Hätte ich gewusst, was in deinem kranken Hirn vorgeht, hätte ich dich nie ins Haus gelassen. Du elender..." Doch was er sagte, hörte ich nicht, denn schon rauschte seine Faust in mein Gesicht. Ich sah Sterne und der Schmerz schoss in mein Gehirn. Immer und immer wieder schlug er mich. Waren es Minuten? Stunden? Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Meine Arme, die ich schützend vor mein Gesicht gehalten hatte, verloren immer mehr an Kraft. Ich kann nicht mehr. Dieser Gedanke ging mir immer und immer wieder durch den Kopf. Plötzlich stand er auf und dankbare Luft flutete meine Lungen. Diese Wohltat hielt jedoch nur sehr kurz an, denn als ich mich gerade aufrichten wollte, trat er zu. Er traf mich an dem seitlichen Brustkorb. Ich schrie vor Schmerzen auf und schmeckte Blut. Schwarze Punkte flackerten vor meinen Augen und sein gehässiges Lachen drang in jeden einzelnen meiner Knochen. „Polizei! Gehen sie von dem jungen Mann weg!" Arno lachte nur bösartig und ich sah im Augenwinkel, dass er zu einem erneuten Tritt ansetzte. Ich versuchte mich zusammen zu rollen, doch ich konnte mich nicht rühren. Dann hörte ich einen Wutschrei und Arnos Körper landete neben meinem Gesicht. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, als ein Polizist ihm Handschellen anlegte und sie ihn unter Protest wegbrachten.
Max! Stöhnend drehte ich mich um. Ich atmete flach vor Schmerzen und spürte, wie die demutsvolle Ohnmacht nach mir griff. Schlafen. Wie schön wäre es, wenn ich nur meine Augen schließen müsste und alles um mich herum ausschalten könnte. Nein. Es ging nicht. Er brauchte mich.
Langsam kroch ich auf ihn zu. Als ich ihn erreicht hatte, zitterte mein ganzer Körper vor Anstrengung und Pein. „Max! Schatz! Bitte! Mach die Augen auf. Bitte!" Tränen schossen mir in die Augen, als ich seine kalte, blasse Stirn streichelte. Blutverschmierte Haare fielen in sein Gesicht und ich wischte sie sanft weg. Seine Haut war so kalt. „Bitte...bitte...Ich liebe dich!" Meine Stimme brach.
Unsanft wurde ich von Sanitätern beiseitegeschoben und stöhnte schmerzvoll auf. Ich nahm wahr, dass sie mit mir redeten und Fragen stellten, doch es ergab für mich keinen Sinn. Mein Körper war starr, kalt und leer – genauso wie meine Seele. Wie in einem Albtraum registrierte ich, dass sie ihn eilig auf einer Trage abtransportieren, ohne dass mein Körper sich rührte. Ich stand neben mir, war nicht mehr mein eigener Herr. Das konnte alles nicht wahr sein. Das war nie passiert. Gleich würde ich aufwachen und neben Max liegen, seinen Atem auf meiner Haut spürend. Das konnte nicht stimmen. Das war nicht wahr. Nein. Nein. Nein. Nein. Mir wurde schlecht und ich erbrach. Ich spürte wie jemand mich berührte und dann starke Arme mich anhoben. Es knackte und unerträglicher Schmerz durchzog meine Brust. Dann versank ich in wohltuender Dunkelheit....
Ich erwachte noch im Krankenwagen. Zu meiner großen Überraschung saß meine Mutter neben mir und hielt meine Hand. „Was machst du hier", fragte ich sie erschöpft. Jede Erschütterung spürte ich in den Knochen, doch es war mir egal. Meine Gedanken drehten sich nur um Max. „Als ich das Blaulicht vor Maximilians Haus gesehen habe, bin ich sofort rüber gerannt. Zuerst wollten sie mich nicht zu dir lassen. Die Polizei stellte mir tausende Fragen, die ich nicht beantworten konnte und dann wurdest du schon rausgetragen." Sie fing an zu weinen und ich drückte ihre Hand etwas fester. „Maximilian?" Sie zuckte zusammen und mied meinen Blick. „Ich...ich weiß es nicht. Er fährt in einem anderen Krankenwagen. Doch ich habe von den Sanitätern im Funk gehört, dass er auf Intensivstation gebracht wird." Mein Herz schnürte sich zusammen. 'Bitte lieber Gott...wenn es dich wirklich gibt...beschütze ihn. Mach mit mir, was du willst....aber bitte, bitte beschütz ihn. Ich liebe ihn so sehr! Bitte...bitte.' Diese Stoßgebete führte ich, bis wir das Krankenhaus erreicht hatten. Dort wurde ich zu dem „Unfallhergang" befragt und untersucht. Als er meinen Brustkorb abtastete und mir schwarz vor Augen wurde, nickte er wissend. Mit einem Rollstuhl wurde ich zum Röntgen gefahren. Links, rechts, hoch und runter. Ich ließ alles über mich ergehen. Was mich ein bisschen ablenkte, begrüßte ich mit Kusshand. Doch irgendwann war auch die letzte Untersuchung vorbei und ich saß im Bett. Meine Mutter versuchte mich abzulenken, doch ich hörte kaum zu. Stattdessen sah ich aus dem Fenster. Es hatte wieder zu schneien begonnen.
Irgendwann stand der Arzt vor mir mit Akte in der Hand und einem optimistischen Lächeln. „2 Rippen sind gebrochen. Das erklärt auch die Schmerzen. Du bekommst heute etwas gegen die Schmerzen und etwas, damit du schlafen kannst. Nach diesem Tag braucht dein Körper etwas Ruhe."
„Kann ich zu meinem Freund?" Es war mir herzlich egal, was der Arzt für mich ansinnte. Ich brauchte nur Maximilian.
„Es tut mir leid dir das sagen zu müssen, aber er wird noch operiert." Mit dieser Aussage verließ er den Raum und ich stürzte in ein tiefes Loch. Meine Mutter redete beruhigend auf mich ein, doch es war mir einerlei. 'Bitte lieber Gott... Oh bitte...'
Die Medikamente hatten ziemlich schnell angeschlagen und ich schlief noch ein, bevor sie meine Mutter nach Hause geschickt hatten.
Am nächsten Morgen erwachte ich, weil die Schmerzen wieder da waren. Flach atmend versuchte ich mich etwas gerader hinzusetzten, als eine Pflegekraft herein kam. „Guten Morgen Herr Schuster. Wie sieht es aus mit den Schmerzen?" Was für eine dämliche Frage. Eigentlich müsste man mir aus drei Kilometern Entfernung ansehen, dass ich die Schmerzen kaum aushielt. „Sie müssen versuchen tiefer einzuatmen. Nicht so flach. Ich weiß, dass das gerade schwer fällt, weil es weh tut, aber ihre Lunge wird sonst unterbelüftet. Deswegen tiefer durchatmen. Noch ein bisschen mehr. Ja, das sieht besser aus. Atmen sie so weiter. Ich hole jetzt ihre Schmerzmedis." Und weg war sie.
Zu meiner großen Überraschung bekam ich keinen Verband und stattdessen Atemübungen. Eine Physiotherapeutin leitete mich gerade dazu an, als sich die Tür öffnete. Sofort waren die Übungen vergessen und ich starrte nur den Ankömmling an. Maximilians Mutter sah schlecht aus. Tiefe Augenringe und Falten der Sorgen kennzeichneten ihr Gesicht. Sie spielte nervös mit ihren Fingern und sah mich erschüttert an. Nein. Das konnte nicht sein. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Sofort fing ich an zu weinen und musste schluchzen. Das tat jedoch so weh, dass ich zusammenzuckte. Bevor ich mich versah, saß sie an meiner Seite. Vorsichtig wischte sie meine Tränen weg und bemerkte anscheinend gar nicht, dass sie selber weinte. „Es tut mir so leid. Ich habe es nicht gewusst. Ich habe es nicht gewusst. Tom...ich wusste es nicht!" Weinend vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. Mein Herz schlug heftig gegen meine Brust. „Wie geht es Maximilian?" Sie schniefte mehrmals und putzte ihre Nase. Mit zittriger Stimme erklärte sie mir, dass er eine lange Operation hinter sich hatte. Seine Milz war angerissen und mehrere Rippen gebrochen. Er hatte leichte innere Blutungen gehabt, die jedoch gestoppt werden konnten. Nun lag er im künstlichen Koma, um seinen Körper ruhig zu halten. Dies alles hörte ich mir stillschweigend an, unfähig irgendwie zu reagieren. Er lag im Koma, aber er lebte noch. Danke! „Was ist mir Arno?" Wut schwang in meiner Frage mit und sie zuckte zusammen. „Er ist in Untersuchungshaft und wird da wohl auch für eine Weile bleiben. Robert hat der Polizei...." Sie musste unterbrechen, um sich zu sammeln. „Er hat der Polizei alles gesagt. Von den Schlägen...den Drohungen und alles, was an diesem Abend passiert ist." Dann versagte ihre Stimme und sie fing wieder an zu weinen. „Wieso habe ich davon nichts mitbekommen? Ich hatte gedacht, dass sie Respekt vor ihm hatten, aber keine Angst. Ich bin so eine schlechte Mutter." Wenn sie Trost von mir wollte, konnte ich ihr diesen nicht geben, denn ich verstand selbst nicht, warum sie nie die Anzeichen gesehen hatte. Stattdessen fragte ich: „Was ist an diesen Abend überhaupt passiert?" Verunsichert sah sie mich an und blickte dann zu Boden. „Er hatte einen Anruf von einem Arbeitskollegen bekommen, der gerade Urlaub in der Stadt gemacht hatte, wo ihr Urlaub gemacht hattet. Er...er...hat gefragt, seit wann sein Sohn schwul sei. Naja...und zum Beweis hatte er Arno ein Foto per Handy geschickt, wo ihr...euch geküsst habt." Ich schluckte. Das konnte doch nicht wahr sein. Hier hatten wir es immer geschafft zu verheimlichen und dann waren wir im Urlaub. Extra weit weg. So weit weg, damit wir endlich offen zeigen konnten, was wir füreinander empfanden und ausgerechnet dort hatte man uns erwischt. Das konnte doch alles nicht wahr sein. „Stimmt es denn? Seit ihr...ein Paar?" Ich nickte zerknirscht. „Jetzt wünschte ich, wir wären es nicht gewesen..."
Die nächsten Tage saß ich hauptsächlich an Maximilians Bett auf der Intensivstation. Es gab irgendeinen Zwischenfall, weshalb er sogar kurzzeitig beatmet werden musste, doch mittlerweile wurde er schon extubiert. Nun lag er hier und schien zu schlafen, während mich das stetige monotone Piepen einlullte. Wie gebannt betrachtete ich stets das rhythmische Auf und Ab des EKGs. Manchmal schlief ich sogar ein, bis mich die Pflegekräfte vorsichtig weckten.
Nervös kaute ich an meinen Fingernägeln, während meine Mutter mich ins Krankenhaus fuhr. Wir hatten einen Anruf bekommen, dass er nun wach sei und waren sofort aufgebrochen. Meine Mutter tätschelte beruhigend mein Knie, während ich mich disziplinierte sie nicht anzubrüllen, dass sie verdammt noch mal schneller fahren sollte. So schnell es meine Verfassung zuließ, gingen wir zur Intensivstation. Den Weg hätte ich nun sogar mit verbundenen Augen gefunden. Der bekannte Geruch von Desinfektionsmitteln begrüßte uns, während wir uns die blauen Besucherkittel, die Haube und die Überziehschuhe anzogen. Schnell noch in sechs Schritten die Hände desinfiziert und schon flog ich regelrecht in Maximilians Zimmer. Seine Mutter strahlte uns an und auch Robert blickte uns glücklich entgegen. Doch ich hatte nur Augen für einen Menschen. Ohne es steuern zu können fing ich an zu schluchzen, während ich auf ihn zueilte. Mit zittriger Hand berührte ich sein Gesicht, während er mich mit großen Augen anstarrte.
„Du bist wach!" Irritiert sah er mich an und kniff seine Augen zusammen, als ob er angestrengt nachdachte. „Ja. Ich bin wach. Schön, dass du dich darüber freust...aber...wer bist du?"
Die nächsten Stunden waren der Horror auf Erden. Er wusste nicht mehr wer ich war und jeder redete auf ihn ein. Seine Erinnerung von blieb jedoch verschwunden. Als schließlich sein Puls tachykard wurde, warfen sie uns Besucher raus. Fassungslos saß ich im Auto. Keiner von uns sagte ein Wort. Zu Hause angekommen verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer, schnappte mein Handy und rief die erste Nummer an, die mir in den Sinn kam. Wir hatten vor gut zwei Wochen wieder den Kontakt aufgenommen und ich hoffte, dass ich unsere neu entwickelnde Freundschaft nicht gleich wieder zerstörte.
„Hallo?"
„Stör ich Annabell?"
„Tom? Alles okay? Wie geht es Max?" Ich schluckte.
„Er ist wach..."
„Oh mein Gott! Tom. Das ist großartig!"
„Er weiß nicht mehr, wer ich bin..."
Die nächsten Tage besuchte ich Maximilian täglich und ich spürte, dass ihm das sehr unangenehm war. Seine Erinnerung an mich waren weg. Verschwunden. Ausgelöscht. Wie konnte das sein? Jeder Moment mit mir war in seinem Gedächtnis nicht mehr existent. Ob die Erinnerungen je wieder zurück kommen würden, konnte mir kein Arzt sagen. Sogar ein Gespräch mit seinem Psychologen half mir nicht wirklich weiter, da er mir zum einen nichts über die Sitzungen sagen durfte und zum anderen alles nur auf Spekulationen hinaus lief. Posttraumatisches Belastungssyndrom? Möglich. Sein Gehirn wollte ihn schützen. Mir war nur nicht klar, warum gegen mich...
„Hi Schatz."
Keine Antwort. Er sah mich nicht einmal mehr an. Sein Blick war zum Fenster gerichtet, während sein Puls sich beschleunigte und dies im EKG deutlich sichtbar wurde. Ich seufzte und setzte mich zu ihm. Als er zusammenzuckte, zog sich mein Innerstes schmerzhaft zusammen.
„Ich habe die Bilder auf dem Handy gelöscht."
„Unsere Bilder? Warum?", fragte ich ihn geschockt. Nun drehte sich Max doch zu mir um und er sah mich verunsichert an.
„Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt etwas zu sehen, wovon man keine Ahnung hat, dass es passiert ist oder wer die Person auf dem Foto ist. Ich weiß nicht wer du bist und dass du mir einreden willst, dass du mein...das wir..." Er schüttelte den Kopf. „Das kann gar nicht sein. Ich bin nicht so. Mein Vater würde mich..."
Wütend stand ich auf und lief im Zimmer hin und her. „Dein Vater? Dein Vater hat dich doch erst in diese Situation gebracht! Willst du mir sagen, dass du immer noch Wert auf seine Meinung legst? Er hat dich und Robert geschlagen! Er hat dich krankenhausreif geprügelt! Und verdammt noch mal...Ich liebe dich und du liebst mich!" Tränen stiegen mir in die Augen und ich versuchte sie weg zu blinzeln. „Ich liebe dich nicht! Ich weiß ja nicht einmal mehr wer du bist! Wie stark kann ich dich schon geliebt haben, wenn ich mich nicht an dich erinnern kann?" Max spuckte mir die Frage regelrecht entgegen und ich ballte meine Hände zu Fäusten. In den letzten Tagen hatte sich diese Frage immer wieder in meinen Kopf geschlichen und jetzt, wo er sie lauthals rausschrie, war sie plötzlich so real wie der Mann, der vor mir saß. Schnell drehte ich mich von ihm weg, als mir die Tränen über meine Wangen liefen. Jedes seiner Worte traf mich wie ein Fausthieb und es tat so unendlich weh. Es schnürte mir regelrecht die Luft ab. Mein Körper fing an zu zittern und ich rang um Fassung. Ein warnender Piep-Ton lenkte mich kurzzeitig ab und ich drehte mich zu der Geräuschquelle um. Der Überwachungsmonitor schlug Alarm. Sein Puls war stark erhöht, genauso wie seine Atemfrequenz. Er regte sich auf. Doch wahrscheinlich nicht aus den gleichen Gründen wie ich. Die Tür öffnete sich und eine Pflegekraft kam an Maximilians Bett. Sie kontrollierte die Ableitungen, während sie sich nach seinem Befinden erkundigte. Schließlich drehte sie sich zu mir um. „Herr Schuster. Ich verstehe ihre Situation, aber er braucht seine Ruhe. Es ist nicht gut für ihn und seine Wundheilung, wenn er sich aufregt. Bitte. Wenn es nicht funktioniert, dann muss ich sie bitten zu gehen. Verstanden?" Ich nickte und atmete tief durch. Sie klopfte mir aufmunternd auf die Schulter, bevor sie wieder verschwand. Mitleid. Das hatte mir noch gefehlt. Maximilians Werte waren wieder im Normalbereich und so versuchte ich einen neuen Anlauf. „Ich weiß, dass es verwirrend für dich ist, aber..." Doch ich wurde unterbrochen.
„Stopp. Ich will es nicht hören. Bitte. Ich will nichts mehr hören. Lass mich doch einfach in Ruhe. Geh einfach und vergiss mich, genauso wie ich dich vergessen habe." Ich lachte verbittert auf. Wie sollte ich denn das bitte schön machen? Liebe konnte man nicht einfach vergessen und das wollte ich auch nicht. Niemals wollte ich das aus meinem Gedächtnis streichen, was wir erlebt hatten. Weder die schönen noch die unangenehmen Momente.
„Hast du eine Ahnung, was ich durchmache? Ich bekomme jedes Mal Panik, wenn sich die Tür öffnet, weil ich Angst habe, dass du herein spazierst. Das macht mich fertig. Nachts kann ich nicht mehr schlafen. Du siehst mich mit diesen Herzchen in den Augen an und ich weiß verdammt noch mal nicht warum. Ich kenne dich nicht und hasse es, wenn du mich berührst. Es macht mich kaputt, denn es löst etwas in mir aus, was mich ängstigt. Ich will das nicht mehr. Du tust mir nicht gut." Meine Tränen tropften unkontrolliert mein Gesicht hinab und ich bekam immer mehr das Gefühl neben mir zu stehen. Dieser Moment war schlimmer, als ich es fast jede Nacht geträumt hatte, denn ich wusste, worauf dieses Gespräch hinaus lief. Als ich zu ihm ging, war mein Gesichtsfeld schon komplett verschwommen und ich zitterte am gesamten Körper. „Maximilian. Bitte. Ich liebe dich. Wir schaffen das. Ich bin doch immer für dich da. Ich bin doch für dich da..." Meine Stimme zitterte bedrohlich und ich hörte die Verzweiflung in meinen Worten. Nun begann auch mein Freund zu weinen und bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen. „Du bist so ein Lügner. Lügner!" Er sah zu mir auf und mein Herz brach. „Du bist immer für mich da? Ja? Und warum bin ich dann hier? Wenn du mich liebst und immer für mich da bist verstehe ich nicht, warum ich von meinem eigenen Vater so verprügelt worden bin, dass ich notoperiert werden musste. Warst du da, um mich zu beschützen? Nein. Du bist nicht für mich da. DU BIST AN DER GANZEN SCHEISSE SCHULD! Wegen dir wurde ich verprügelt, weil er ein Bild von uns zwei gesehen hat. Du bist daran schuld! Wie sehr musst du mich hassen, um das zuzulassen. Liebe?" Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist keine Liebe. Du bist ein Heuchler!" Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte zum Fenster, seine Hände waren in die Bettdecke gekrallt. „Bitte geh. Nicht für heute...sondern für immer. Geh! GEH!" Doch ich konnte mich nicht mehr bewegen. Mein Körper fühlte sich an wie Stein - hart und leblos. Als Maximilian merkte, dass ich mich nicht bewegte, sah er mich noch ein letztes Mal an. „Bitte. Wenn du mich je geliebt haben solltest...Wenn du mich wirklich liebst, dann geh. Geh! Bitte, bitte geh. Geh! Geh! Geh! Bitte...Geh! Bitte...Ich kann nicht mehr. Oh bitte."
Ich erwachte aus meiner Schockstarre, mehr zerstört als ganz. Ein letztes Mal ging ich zu ihm, beugte mich hinunter und gab ihm einen Kuss auf seinen Kopf. Sein ganzer Körper versteifte sich und innerlich fiel alles zusammen, was ich in den letzten Tagen mühsam versucht hatte zusammen zu halten. „Es tut mir leid. Alles. Ich liebe dich. Immer." Dann ging ich und drehte mich nicht mehr um, während ich zerbrach.
3 Jahre später
Ich schlenderte durch die Einkaufsgassen der Stadt und betrachtete die Waren im Schaufenster. Bei einem Buchladen blieb ich hängen und beschloss mich ein wenig umzusehen. Kurz schloss ich die Augen und atmete tief ein. Der Geruch von frischen Büchern war mit nichts zu vergleichen. Meine Laune stieg und ich schnappte mir wahllos ein Buch, setzte mich auf einen der Sessel und las ein paar Seiten. „Tom?" Überrascht und etwas erschrocken sah ich nach oben. „Marie?!" Da stand doch tatsächlich meine alte Klassenkameradin. Freudig überrascht umarmten wir uns kurz.
„Du meine Güte. Was machst du hier?"
„Die gleiche Frage könnte ich dir auch stellen."
Marie erzählte mir, dass sie zu Besuch bei einer Kommilitonin war. Ja, sie sei noch mit Daniel zusammen und nein, er studiere nicht sondern sei im letzten Ausbildungsjahr zum Bankkaufmann. Dann fragte sie mich, was ich so die letzten Jahre getrieben hatte und es überraschte sie weniger, dass ich nun in Richtung Musikstudium gegangen war.
„Bist du in einer Beziehung?" Ich musste schmunzeln. Sie hatte ihre direkte Art nicht abgelegt. „Ich bin wieder getrennt. Hat nicht so gut funktioniert. Sie wollte irgendwie immer mehr, als ich geben konnte und außerdem geht jetzt das Studium vor." Überrascht sah mich Marie an. Ich wusste, dass sie darüber gestolpert war, dass ich eine Freundin und keinen Freund gehabt hatte. Zwar hatte ich eine kurzzeitige Liaison mit einem befreundeten Studenten, doch ich konnte mich einfach nicht auf ihn einlassen. Dafür war dich Sache mit Maximilian zu heftig gewesen. Schnell verdrängte ich den Gedanken.
Wir tranken noch einen Kaffee zusammen und tauschten uns über allgemeine Dinge aus. Sie erwähnte kurz Max, der die Abschlussklasse durch seine langen Krankenhausaufenthalte und Reha wiederholen musste. „Wir haben uns vor einem Jahr zufällig getroffen und seitdem halten wir den Kontakt. Er macht jetzt eine Ausbildung zum...ähm...Chemielaborirgendwas. Du weißt doch. Er war so ein Brain in Chemie." Wir lächelten beide. Chemie war nicht meine Stärke gewesen. „Mal zu einem anderen Thema. Kann ich dich irgendwie mal spielen sehen und hören? Vögelchen haben mir zugezwitschert, dass du auch Konzerte gibst?!" Ich lachte laut los und erklärte ihr, dass ich nur die Klavierbegleitung war und jetzt auch mal ab und zu Soloauftritte bekam, wo ich auch sang. Doch von einem eigenen Konzert konnte ich nun wahrlich nicht sprechen. „In drei Wochen ist wieder das Rock trifft Klassik-Konzert. Wenn du willst komm doch mit Daniel vorbei. Ich schicke dir Karten zu." Marie schrie vor Freude auf und ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.