Halloween, der 31.10.2016, ein ganz normaler Tag im Leben von Olivia Brocks. Oder auch nicht...
„Dad?“, rief die 17 jährige die Treppen herauf, während sie sich ihre Windjacke überzog.
„Was ist denn, Liv... jetzt hab´ ich mir auf den Finger gehauen!“
„Sorry Dad, wollte nur auf Wiedersehen sagen, bin jetzt mit Fips und JoJo auf ´ner Halloween-Party“, erwiderte sie. Ihrem Gesichtsausdruck nach könnte sie kein Wässerchen trüben.
Mr. Brocks murmelte etwas von Brüchen und Prellungen, fluchte unverständlich und rief ihr dann nur ein: „Ja, meinetwegen“ hinterher.
„Lieb´ dich! Bye, Mom, bye, Dad!“ Sie zog die Tür hinter sich zu. Den fünften Freitag in Folge auf einer Party.
„Ich brech´ noch meinen Rekord!“, sagte sie sich, während sie zur Bushaltestelle ging. Leider wohnte sie ein wenig außerhalb der Stadt, weshalb es manchmal schwer war, Freunde zu treffen. Der Bus fuhr einmal die Stunde, nach 11 Uhr praktisch gar nicht mehr. Ein wenig schämte sie sich schon, so oft ihre Freunde um eine Mitfahrgelegenheit zu fragen. Auf der anderen Seite wären Parties ohne Olivia auch nur halb so gut, damit hatte sie sich das Recht verdient, vorher und nachher lästig zu sein.
„Wo bleibt denn der beschissene Bus?“ Ihr Handy zeigte 20:13 an.
„Er hätte um Punkt da sein müssen“ Leicht angesäuert stieg sie ein. Sie wurde begrüßt von einem Mann mittleren Alters, der schon ein wenig zu viel aus seiner Flasche Vodka getrunken hatte, die den Namen eines russischen Staatschefs trug.
„He, du has´ do´ sicher wa´zu trink´n dabei, Mädch´n, oder?“, lallte der, wobei er seltsamerweise über ihre Schulter hinweg guckte. Sie erschauderte unwillkürlich und setzte sich in die letzte Reihe des Busses, weit genug weg vom Säufer. Kopf an die Fensterscheibe, Kopfhörer im Ohr fuhr sie durch den Wald, der die 150 Seelen-Gemeinde umgab, in der sie lebte. Passenderweise hörte sie im Moment „Thriller“ von Michael Jackson, eines ihrer Lieblingslieder.
„You´re fighting for your life inside a... killer... thriller... tonight!“, sang Olivia leise mit. Zwei Haltestellen vor Endstation stieg der schreckliche Mann endlich aus. Den Bus hatte sie nun für sich allein. Einmal durfte Michael Jackson sein Lied noch zum Besten geben, dann war sie an der Endhaltestelle angekommen.
„Aussteigen bitte“, forderte die alte, krächzige Stimme des Busfahrers sie auf.
„Bin ja schon dabei“, rief sie diesem entgegen. Es klang wohl ein wenig harscher als geplant.
„Olivia, da bist du ja endlich!“, begrüßte sie Johannes, genannt JoJo.
„Wir warten hier schon ´ne gefühlte Ewigkeit auf dich!“, warf Philip, Fips, ein.
Olivia rollte mit den Augen.
„Ja ja, ich weiß, ich schäme mich ja schon“
„Rieche ich da Sarkasmus?“, fragte Johannes.
„Nein, Unsinn, wie kommst du denn darauf?“
Die Drei gingen die gut ausgeleuchtete Gasse entlang. Wenige 100 Meter entfernt von ihnen ihr Ziel. Die Falle war der Name des Clubs, der, wie jedes Jahr, die heißeste Halloween-Party der ganzen Stadt gab. Naturgemäß würden sie nicht sehr lange anstehen müssen, sie waren ja mittlerweile Stammgäste dort.
„Kommt rein“, wurden sie vom Türsteher aufgefordert. In der Falle selbst war übervoll. Auch nicht ungewöhnlich, schließlich war Halloween.
Es war 21 Uhr. Die Tanzfläche war voll, Skrillex´ Scary Monsters and Nice Sprites
machte jedes Gespräch unmöglich, Olivia hatte sich bereits ihre zweite Bloody Mary genehmigt und die Stimmung war, trotz der frühen Uhrzeit, auf einem absoluten hoch. So hoch, dass sie nicht einmal von stockbesoffenen Typen belästigt wurde.
So vergingen die Stunden zwischen der Cocktailbar und der Tanzfläche.
Es war 0 Uhr, jetzt spielte auch im Club Thriller. Vielleicht hatte sie schon ein, zwei Drinks zu viel. Ihr wurde schlecht und sie rannte auf die Damentoilette. Fips hatte sie auf dem Weg dahin noch gefragt, ob sie nicht lieber nach Hause fahren sollten, wenn ihr schlecht wäre. Kaum hatte sie die Tür zur Toilette geöffnet, zog sich in ihr alles zusammen. Es war aller höchste Zeit. Sie beugte sich über die Porzellanschüssel, der Abend war für sie wohl gelaufen.
„Nie wieder Alkohol!“, sagte sie sich. Auch, wenn sie sich ohnehin nicht daran halten würde, das wusste sie jetzt schon.
Es war 0:30, Olivia stieß wieder zu den anderen.
„Geht es dir sicher gut?“, fragte JoJo.
„Es... ging mir schon besser“, erwiderte sie. Fips und JoJo kamen zu dem Entschluss, sie nach Hause zu begleiten.
„In diesem Zustand passiert dir sonstwas, so lassen wir dich im Leben nicht gehen!“
„Lasst euch bitte nicht wegen mir den Abend verderben. Es ist Halloween!“, warf Liv, wie Olivia auch genannt wurde, ein, doch die Entscheidung stand wohl. Die beiden würden sie mitnehmen.
„Vielleicht ist der Abend ja doch noch nicht ganz vorbei“, sagte sie sich leise, während sie, von den Jungs gestützt, zur Bushaltestelle lief.
Der Bus selbst war leer. Um kurz vor eins in dieser besonderen Nacht war wohl auch nichts anderes zu erwarten.
Killer
Thriller
Tonight
Diese Worte blieben aus immerwelchen Gründen in ihrem Kopf. Sie wiederholte sie die ganze Zeit vor sich hin, teils bewusst, teils unbewusst.
Zu ihrem Überraschen waren die Lichter an ihrem Haus bereits erloschen. Normalerweise würde ihr Vater bis Nachts um 5 wach bleiben, um eventuellen männlichen, teils auch weiblichen, Besuch höchstpersönlich kennenzulernen.
„Dad?“, flüsterte sie, als sie die Tür mit einem knarrenden Geräusch aufschwang. Es hätte wohl gereicht, um ihren Vater aufmerksam zu machen. Normalerweise...
„Vielleicht sind sie schlafen gegangen“, meinte Fips noch.
„Oder sie haben selbst ´was vor!“
Olivia bedeutete ihnen, den Mund zu halten.
„So ein Unsinn, Mum und Dad würden an Halloween um solche Zeiten überhaupt nicht das Haus verlassen. Sie schlafen wahrscheinlich schon.“
Mit einem lauten Knall schloss die Tür hinter Fips.
„Bist du verrückt?! Lass ihn wieder rein!“, herrschte Liv ihn an.
„Ich... ich hab nichts gemacht, ich schwöre!“, beteuerte er.
„Gut, dann mach einfach die Tür auf!“
„Die klemmt!“
„Wie jetzt?“
„Die klemmt, hörst du schlecht?“
„Lass mich mal!“ Liv versuchte, die Klinke zu benutzen. Sie klemmte tatsächlich.
JoJo hämmerte von draußen gegen die Tür und fluchte, dass die gesamte Nachbarschaft wach würde, wenn sie denn eine hätten.
„Was hast du mit der beschissenen Tür gemacht, Philip?“
„Nichts, ich schwöre, ich hab´ nur...“
Das Gespräch wurde durch einen schrillen Schrei abrupt beendet. JoJo gab keinen Ton mehr von sich.
„Oh Gott, JoJo, ist alles okay?“ Fips war kreidebleich.
„Oh Scheiße, was ist?“, schrie Liv durch die Tür, während sie jetzt mit roher Gewalt an ihr zog. Langsam breitete sich eine rote Pfütze durch den unteren Türspalt im Flur aus.
„Mum! Dad! Kommt schnell!“
Es war 2:30. Fips und Liv waren in einem Haus eingesperrt, in dem sich weder ihre Eltern noch Johannes befanden.
„Das ist doch nicht normal! Wer verschließt denn alle Türen und Fenster hier, sperrt uns ein und tut so, als würde er JoJo töten?“
„Ein scheiß Halloweenstreich oder irgendeine kranke Idee. Wer auch immer das schuld ist, der ist tot!“
Das Radio schaltete sich an.
„Wer war das?“ Olivia und Philip rannten in die leere Küche. Es war niemand zu sehen. Bis auf das Rauschen des Radios war auch nichts zu hören. Bis im Obergeschoss Schritte zu hören waren.
„Da rennt wer!“, rief Philip noch und stürmte, ein Küchenmesser in der Hand, die Treppen herauf.
„Nein, nicht! Nicht... trennen...“ Philip war schon oben. Sie hörte deutlich seine Schritte. Er lief den oberen Flur auf und ab.
„Warte doch auf mich!“, meinte Olivia, während sie die Treppen hinaufging.
Der Flur war leer.
„Oh Gott, oh Gott, Philip?“ Sie zitterte, ihr Gesicht war weißer als ein Geist und sie erschauderte. Der Schatten, den sie sah, ließ nichts Gutes erahnen.
Sie schaute um die Ecke in den einzigen Raum mit geöffneter Tür.
„OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT!“, kreischte sie und drehte sich um. Der leblos hängende Körper des Jungen hing von der Decke, das blutige Gesicht starrte sie mit leblosen Augen an.
Sie rannte. Sie rannte um ihr Leben, auch, wenn sie nicht wusste, wohin. Sie musste rennen. Sie lief durch den Flur. Sie lief die Treppen hinab. Sie lief durch die Küche in den Eingangsbereich. Sie stolperte fast auf der Blutpfütze vor der Tür. Sie lief die Treppen hinunter in den Keller. Sie lief in den Abstellraum im Keller und schloss die Tür hinter sich. Sie drehte den Schlüssel im Schloss herum.
Dann spürte sie etwas spitzes, kaltes, metallisches in ihrem Rücken. Sie wirbelte herum. Das letzte, was Olivia sah, waren zwei lange, mit Fell überzogene Löffelöhrchen.