Tote Fische, Seelen, Träume
Lisas Pupillen verengten sich.
„Das ist ja ekelig!“ Unterhalb der Fischblase quoll hervor, was sich alles in dem Fisch sonst noch befand. Das Mädchen sah schnell auf ihre Finger und war froh, dass sie nicht so verschmiert waren wie die ihrer Mutter, mit diesem hellroten Blut.
„Ist das nun die Innenwelt des Fisches?“, fragte sie leise. Ihre Mutter lachte jäh auf.
„Das sind eher die Innereinen, mein Schätzchen, Fische haben kein Innenleben!“ Lisas presste die Lippen aneinander, dann zischte sie: „ Wieso weißt Du das so genau, Mama?“ Ein Schatten, den nur sie spürte, flog über ihre Brust. Er hatte spitze Zacken und ritzte an etwas, das Lisa wehtat. Schnell sprang sie auf und lief aus dem Haus.
Draußen setzte sie sich an die Scheunenwand, hob beide Hände vor die Augen und fühlte sich wieder besser. Sie nahm sich vor, Mama nie mehr von ihren neuesten Wörten zu erzählen. Lisa begann, in den weichen Boden ein I und dann ein N zu ritzen. Das tat nicht weh. Ihre Finger waren zwar etwas schmutzig vom Spielen im Hühnerstall, aber nicht rot. Sie wollte, dass ihre Finger niemals rot würden. Nicht einmal die Fingernägel würde sie sich lakieren, später.
Als das Wort in den Boden geritzt war, wartete Lisa darauf, dass aus der Erde die Innenwelt herauskam. Die Mutter rief, Lisa biss sich auf die Unterlippe und beschloss, den Fisch heute abend nicht zu essen.
Clarissa riss den Mund auf, die Gabel verschwand schnell darin. Die elegante junge Frau aus der Stadt rollte mit den Augen, während sie zu Mama sagte: „ Also Frau Siebenwindler, wirklich köstlich…!“ Lisa starrte Clarissa an und dachte dabei an Berta, die Milchkuh. Sie wartete. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Clarissa wiederkauen würde, zumindest diesen Satz. Lisa zählte mit, und als sie bei 32 war, hörte sie Clarissa abermals sagen: „Also, wirklich, Frau Siebenwindler, köstlich….“
„Mein neues Wort schmeckt nicht nach einem toten Tier und ich habe es erst einmal
In den Mund genommen!“, zischte Lisa Karli, ihrem großen Bruder, zu. Der grinste über das ganze Gesicht, doch er grinste immer, besonders, wenn ihn jemand ansprach. Leider konnte er nicht antworten, doch Lisa wusste, er verstand mehr als Mama und Clarissa. Außerdem hatte Clarissa genauso runde Augen wie die Forellen, von denen nur noch Köpfe und Gräten auf den Tellern lagen.
„Stellen Sie sich vor, Fräulein Hugswölgler, Lisa hat heute gesagt, die Fischblasen, der Magen und all das Zeugs wären das Innenleben der Fische!“, sagte Frau Siebenwindler lächelnd zu Clarissa, während sie mit der Gabel an der Kiemenklappe eines Fischkopfes herumstocherte.
„Das ist nicht wahr!“, Lisa sprang auf und fühlte, wie sie rot im Gesicht wurde. Karli schrak zusammen und gab ein Wimmern von sich.
„Setzt Dich Lisa, Du erschrickst Deinen Bruder! wie oft habe ich Dir gesagt, Du sollst nicht so aufbrausend sein!“ Frau Siebenwindler richtete sich so gerade, wie sie konnte, und schob sich ein Doppelkinn zu Recht. Wieder spürte Lisa wie sich Zacken des Schattens, diesmal etwas unterhalb ihrer Brust, in ihren Körper bohrten. Schon öffnete sie die Lippen, um ihre Mutter anzuschreien. Dann da hielt sie plötzlich inne und verstummte. Einen Moment lang war es zu ruhig.
„Aber Lisa, von Innenleben spricht man doch, wenn man die Seele des Menschen meint!“, sagte Clarissa sehr klug.
Lisa schwieg noch immer. Zum ersten Mal war es passiert. Sie hatte ihn nun auch gesehen. Er war aus Mamas Finsternis herausgekrochen, dann hatte er zugestochen. Lisa wusste, jetzt half ihr nur die Tarnkappe.
„Ach ja, erzähl mir doch bitte etwas über die Seele, Clarissa!“ Lisa lächelte die junge Frau an, die nun schon seit drei Jahren zu ihnen aufs Land fuhr, um Karli einmal in der Woche das Sprechen beizubringen. Lisas Wangen waren noch immer leicht rosa. Sie hob ihre Mundwinkel leicht an, die weißen Zähne strahlten, dabei lächelten auch ihre blauen Augen voller Unschuld. Fräulein Hugswölgler und Frau Siebenwindler wechselten einen Blick, dann meinte Clarissa an Lisa gewandt:
„Die Seele…nun, du hast sicher schon einmal etwas geträumt oder Dir etwas vorgestellt, was gar nicht wirklich ist….was halt nur in Deiner Phantasie existiert, was Du Dir ausgedacht hast…!“ Die junge Frau aus der Stadt sprach sehr nachdrücklich und sah immer wieder kurz zu ihrer Gastgeberin.
„Und ob sie sich schon einmal was ausgedacht hat…!“, setzte Frau Siebenwindler hinzu.
„Das heißt also…“ Lisa lächelte zuerst ihre Mutter, dann Clarissa an und fuhr fort, indem sie immer wieder auf die toten Fischköpfe auf den Tellern vor sich sah:
„…das Innenleben ist etwas, das es gar nicht gibt?“ Lisas Mutter lachte spitz auf.
„Na, aber deine Flausen gibt es wohl, ich habe sie jedenfalls schon öfters zu spüren bekommen! Wollen Sie noch Nachspeise, Fräulein Hugswölgler?“ Fräulein Hugswölgler wollte immer Nachspeise.
Karli hatte die Fernbedienung zu fassen bekommen. Während die Mutter und Clarissa in die Küche gingen, die Mutter, um abzuräumen, Clarissa, um mit ihren runden Fischaugen die Nachspeise zu begutachten, zirpten in schneller Folge Bilder über die Fernsehfläche.
„Ich hab ihn gesehen, zum ersten Mal, aber ich werde es ihnen nie sagen!“, zischte Lisa ihrem beschäftigten Bruder zu. Da wimmerte Karli wieder. Er hatte seine Hand zu schnell bewegt, die Fernbedienung war zu Boden gefallen. Lisa wollte sie schon aufheben, als sie, vornübergebeugt, innehielt. Auf dem Bildschirm war das Deck eines großen Schiffes zu sehen. Männer in Gummistiefeln wanderten in einem Meer toter Fische.
„Mama ist so dumm!“, flüsterte Lisa. Traurig gab sie ihrem Bruder die Fernbedienung wieder.
„Lisa, Zeit zum Schlafengehen!“, Mama schob sich ein Stück Krapfen in den Mund, Lisa stand auf, ohne etwas zu sagen, und ging auf ihr Zimmer.
„Das Mädchen….“ Fräulein Hugswölgler hörte sich beim dritten Stück Krapfen Mamas Sorgen an.
Wenn Lisa das Licht anknipste, würde er nicht weichen, sie wusste es. Er war da, egal, ob es dunkel oder hell war. Mit offenen Augen lag sie im Bett, noch zwei Stunden später. „ Schlaf gut“, hatte Mama noch gesagt, aber die Türe nicht geöffnet.
Irgendwo, draußen auf den großen Meeren, wurden vielleicht gerade jetzt zehntausende toter Fische unter Tritten von Gummistiefeln über Schiffsdecks geschleudert. Tote Fische, die niemals eine Innenwelt gehabt hätten und jetzt starben. Lisa musste lächeln. Doch es war ein kaltes Lächeln. Sie lachte über Mama. Da sah sie ihn wieder, diesmal zackig und wild. Er begann in der Dunkelheit zu schneiden, auf ihre Brust setzte sich etwas von ihm, als Lisa einatmen wollte, bekam sie nur röchelnd Luft. Trotzdem schrieb sie mit dem Zeigefinger ein Wort in die Dunkelheit über ihr. Die Innenwelt war heute noch nicht aus der Erde gekommen, aber vielleicht war die Aussenwelt schneller. Die kam aber letztendlich immer noch von Mamma.
„Du träumst doch nur“, hörte sie da den Schatten sagen.
„Ich bin wach“, zischte Lisa, nachdem sie sich aufgerichtet hatte. Doch der Atem ging ihr kaum aus der Brust, darum kam zu wenig davon hinein, es war wieder, als würde sie ersticken.
Da: keuchender, trockener Husten, laut genug. Mama stürzte ins Zimmer.
„Mein Kleines, mein Kleines!“ Ihr dicker Busen drängte sich an Lisa. Sie hatte den Spray mit, der half. Lisa hätte so gerne geweint, sie wusste es. Aber sie wusste auch, dass das bei Mama nichts half. Die Finger, die heute rot vor Fischblut waren, würden schwerfällig ihre Haare streicheln, wenn Lisa daran dachte, wurde ihr übel.
„Mama, ich träume nur, ich bin gar nicht da, aber die toten Fische, die gab es einmal wirklich!“, flüsterte sie leise. Ihre Mutter war schon bei der Türe, sie hörte sie nicht mehr.
Frau Siebenwindler ging in die Küche und wärmte sich Milch auf. Müde blickte sie zur Küchenuhr. Es war ein Uhr nachts. Sie schüttelte den Kopf und gähnte. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sie trank einen Schluck. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Sie stütze ihren Kopf auf die Innenfläche ihrer Hand und schüttelte ihn wieder, dann legte sie ihre Finger um die wärmende Tasse und stand auf.
Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Brad Pitt und Kate Winslet spielten ein Liebespaar auf einem Schiff, das bald untergehen würde.