Unsichtbarkeit war eine seltene und wertvolle Gabe.
Phoebe beherrschte sie zum Glück zur Perfektion. Sie schlängelte sich durch die Menschenmassen, die den nachmittäglichen Bahnhof bevölkerten, ohne auch nur einen von ihnen zu berühren. Sie nahm die unauffälligen Wege, huschte am Rande der Wahrnehmung dahin und verschwand in der Masse.
Mehrere bewaffnete Polizisten patrouillierten die Ein- und Ausgänge, doch sie suchten nicht nach einem europäischen Mädchen, sondern nach zwei Syrern, die doppelt so alt waren. Phoebe glitt durch die blinden Flecken und fand sich wenig später auf einem großen Parkplatz wieder.
Sie hatte Niedersachsen erreicht. Um genau zu sein lag die Grenze ein paar Stunden hinter ihr, doch erst jetzt hatte sie das Gefühl, wirklich da zu sein.
Ihre Flucht im Zickzack hatte sie weit in den Norden geführt, doch noch nicht so weit, wie sie wollte. Mit einer Hand hielt sie ihr Portemonnaie umklammert, während sie mit schnellen Schritten über den weiten Parkplatz schritt.
Sie suchte eine Bushaltestelle, die wie immer nicht weit entfernt war. Doch das hier waren Stadtbusse, die sie nicht weit bringen würden. Phoebe studierte die Aushänge an den Haltestellen und suchte, bis sie eine vielversprechende Haltestelle fand.
Einen kleineren Bahnhof, den sie bereits mit dem Zug passiert hatte. Dort würde sie in einen neuen Zug steigen können. Sie hatte zehn Minuten, in denen sie gelangweilt an der Haltestelle stand und ihr letztes Butterbrot aß. Als der Bus kam, kaufte sie ein Ticket mit zwei Fahrten, nur für den Fall, dass der Busfahrer irgendwann von der Polizei aufgesucht wurde. An der richtigen Haltestelle angekommen, stieg sie aus. Während sie auf ihren Zug wartete, konnte sie das Ticket mit noch einer Fahrt einem Obdachlosen schenken. Als sie in den Zug stieg, suchte sie als erstes die Toilette auf und entsorgte die gesammelten Zugtickets in den dortigen Mülleimer. Für diese Fahrt hatte sie kein Geld mehr ausgegeben, und das würde sie auch nicht mehr tun. Sie brauchte ihr Geld.
Die Fahrt war so ruhig, wie sie es sich nur wünschen konnte. Felder und Wiesen glitten vorbei. Das Wetter war ausnahmsweise schön und sonnig. Auf einem kostenlosen Fahrplan verfolgte Phoebe den Weg, den sie nahm, mit einem Stift und machte sich in ihrem Notizbuch kleine Notizen über die größten Bahnhöfe in der Nähe.
Für die nächsten Tage plante sie, von einem Hauptbahnhof zum nächsten zu reisen, hin und her zu springen wie ein Frosch auf Crack, um jede Spur zu verwischen, die ein Verfolger noch haben könnte. Erneut hörte sie Musik, diesmal „Dust in the Wind“. Sie spielte mit dem Medaillon, das sie unter ihrem Pulli verborgen trug, und überlegte, wann sie das letzte Mal etwas fröhliches gehört hatte. Die Lieder, die sie laut gehört hatte, um ihre Tarnung aufrecht zu erhalten, zählten da nicht. Sie hatte sich durch moderne Popmusik gearbeitet, um das Bild eines normalen Mädchens zu vervollständigen. Aber wann sie das letzte Mal einfach aus ihrer eigenen Laune heraus etwas fröhliches gehört hatte, wusste sie nicht mehr zu sagen.
Sie seufzte und versteckte das Medaillon wieder. Es gab eine Zeit für Nostalgie und Nachdenklichkeit, doch sie war nicht hier. Durch die unruhigen Nächte in kalten Verstecken war sie übermüdet. Sie musste sich zusammen reißen und wachsam bleiben.
Noch war sie nicht außer Gefahr. Es konnte immer noch sein, dass man ihr auf die Spur kam. Und das durfte sie unter keinen Umständen riskieren.
Aber Hunger und Müdigkeit forderten irgendwann doch ihren Tribut. Am siebten Tag ihrer Flucht schlief Phoebe über der Landschaft vor dem Fenster ein und als sie erwachte fand sie sich Auge in Auge mit einem ungeduldigen Kontrolleur.