Ehe Hermine sich versah, war die Woche schon wieder rum und ein großes Wochenende stand bevor. Nicht nur hatte sie für den Samstag zu ihrem zweiten Salon geladen, am Sonntag war zudem der erste Advent. Sie war unsicher, ob zu dieser Zeit in der Welt der Zauberer die Adventszeit tatsächlich so gefeiert wurde, wie sie es kannte. Obwohl viele Zauberer ihrer eigenen Zeit durchaus Weihnachten feierten, wusste sie auch, dass es lange den Brauch gab, das Fest als Julfest zu begehen und es so von allem christlichen Beiwerk zu befreien. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie in ihrem vierten Jahr im Rahmen des Trimagischen Turniers an Heilig Abend der Jul-Ball stattgefunden hatte. Vermutlich waren die Hexen und Zauberer der vierziger Jahre noch traditioneller orientiert als zu ihrer eigenen Zeit.
Normalerweise würde sie in Alte Runen nicht so geistesabwesend sein, doch da der Kurs gerade Inhalte durchnahm, die sie in ihrer eigenen Zeit bereits gelernt hatte, konnte Hermine nicht die richtige Motivation aufbringen, Notizen zu machen und begeistert zu lauschen. Zu viel ging ihr im Kopf rum.
Während sie mit Vorbereitungen für den Salon beschäftigt war, hatte auch Tom sich rar gemacht. Sonst verging kaum ein Abend, ohne dass sie miteinander sprachen, doch seit dem Wochenende hatte er von sich aus nie ihre Gesellschaft gesucht. Ein Teil von ihr fragte sich, ob Orion eventuell augenblicklich zu Tom geeilt war, um seine Verfehlung zu melden, und sein Schweigen jetzt lediglich Vorboten einer extremen Strafe war. Doch da Orion eher den Anschein machte, als würde er Tom meiden, hielt sie das für unwahrscheinlich.
Ein Blick zu ihrer Seite zeigte, dass Tom im Gegensatz zu ihr voll auf den Unterricht konzentriert war. Wie konnten sie so viele Kurse miteinander teilen und trotzdem kaum ein Wort wechseln?
Seufzend notierte sie sich die Hausaufgabe, klappte ihre Bücher zu und stopfte sie in ihre Schultasche. Alte Runen war die letzte Doppelstunde, die sie freitags hatte, und sie wollte den langen Nachmittag nutzen, um mit Professor Slughorn zusammen in die Küche zu gehen und mit den Hauselfen den Salon zu planen. Vermutlich würde sie heute erneut nicht dazu kommen, mit Tom zu sprechen.
„Mein Herz."
Überrascht drehte sie sich zu Tom um. Sie war schon beinahe aus dem Klassenraum getreten und hatte nicht bemerkt, dass er direkt hinter ihr gegangen war.
„Tom?"
Das Lächeln auf seinen Lippen, als er ihr den Arm anbot, zeigte ihr, dass er ganz genau wusste, wie irritiert sie von seinem Verhalten war. Während sie an seiner Seite die Treppen hinab stieg, sagte er leise: „Ich habe dich vermisst diese Woche."
„Du bist derjenige, der sich rar gemacht hat", gab sie zurück. Wenn er vorhatte, ihr einen Strick aus der Sache zu drehen, musste er sich schon einiges einfallen lassen.
„Hast du mich vermisst?"
Wenn sie ehrlich zu sich war, dann hatte sie das. Innerlich schüttelte Hermine über sich selbst den Kopf. Es war nicht einfach nur die Angst, dass Orion eventuell schon über den Zwischenfall geredet hatte, die ihre Gedanken immer wieder zu Tom zurückkehren ließ. Sie vermisste tatsächlich auch einfach seine Gesellschaft. Da Abraxas sie ebenfalls mied, war es einsam in Hogwarts ohne Tom.
„Ja, Tom, das habe ich", sagte sie ehrlich.
Seine freie Hand legte sich auf den Arm, mit dem sie sich bei ihm untergehakt hatte: „Ich freue mich, dass du so offen zu mir sein kannst."
Misstrauisch schaute sie zu ihm hoch. Die Wärme in seinen Worten klang überhaupt nicht nach Tom und sie fragte sich unwillkürlich, was er schon wieder plante. Hatte er sie deswegen gemieden? Brütete er gerade einen Plan aus? Aber wozu? Er wusste doch spätestens nach dem Wochenende, dass sie für ihn da war, an seiner Seite, bereit, alles für ihn zu tun. Was brauchte er noch mehr von ihr? Hatte er wirklich das Gefühl, sie nach wie vor manipulieren zu müssen, um ihre Loyalität zu garantieren?
„Ich habe vor, am Sonntag in den Eberkopf zu gehen", erzählte Tom ihr, ohne auf ihre skeptischen Blicke einzugehen: „Es wird Zeit, den Kreis meiner Gefährten zu erweitern. Ich muss wissen, wie einige der jüngeren Schüler zu meinen Zielen stehen, ehe ich Hogwarts verlasse."
Ein Schauer rann Hermine über den Rücken. Bisher trugen nur Abraxas und Rufus das Mal, aber Orion Black, Humphrey Avery und Peter Nott wussten bereits, dass Tom Großes plante. Sie hatte nicht genug mit den anderen Schülern aus ihrem Haus zu tun, um zu wissen, an wen er dachte.
„Warum erzählst du mir das?"
Lachend erwiderte Tom: „Weil du meine Partnerin bist, Hermine. Du wirst auch anwesend sein und es ist sehr wichtig für mich, dass du mir zur Seite stehst. Ich werde an einem so öffentlichen Ort nicht über meine Pläne sprechen, aber ich möchte bestimmte Themen anschneiden. Ich brauche dich, damit das Gespräch flüssig läuft und ich von möglichst jedem Anwesenden am Ende ein klares Bild habe."
Sie sollte ihm also helfen, künftige Todesser zu rekrutieren. Innerlich konnte Hermine über diese Entwicklung nur den Kopf schütteln. Sie trug das Mal, sie unterstützte ihn, und nun würde sie andere Zauberer testen und ihre Ideale und Werte überprüfen. So ungerührt wie möglich hakte sie nach: „An wen hast du gedacht?"
Tom senkte seine Stimme etwas, da sie inzwischen im Erdgeschoss angekommen waren und ihnen immer wieder kleinere Schülergruppen entgegen kamen oder sie von welchen überholt wurden: „Drei Schüler aus dem sechsten Jahr: Gregory Rosier, James Mulciber und Antonin Dolohov."
Hermine zuckte zusammen. Antonin Dolohov. Sie konnte nicht glauben, dass dieser Zauberer tatsächlich nach Hogwarts ging und auch noch in dieser Zeit. Er hatte gar nicht so alt gewirkt, als sie ihm im Ministerium das erste Mal gegenüber gestanden hatte. Andererseits wusste sie inzwischen, dass Zauberer generell älter wurden als Muggel.
Irgendwie hatte sie immer angenommen, dass Dolohov in Russland aufgewachsen und zur Schule gegangen war, und erst später nach England kam, als Tom Riddle bereits auf dem Weg zur Macht war. Offensichtlich hatte sie sich getäuscht. Sie würde also einem jüngeren Dolohov gegenüber treten müssen, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
„Gefallen wir diese auserwählten Herrschaften nicht, Hermine?"
Sie konnte deutlich hören, dass Tom überrascht war, dass sie überhaupt auf die Namen reagiert hatte. Seinem Wissen nach kannte sie keinen der Schüler und sollte keine Meinung zu ihnen haben. Sie zwang sich zu einem Lächeln und versicherte: „Ich kenne keinen von ihnen, also kann ich mir auch keine Meinung bilden. Ich mit lediglich über den Namen Dolohov gestolpert, da er ein Charakter in dem Muggelwerk Krieg und Frieden ist. Ich war überrascht, einen russischen Namen hier zu hören."
Da Tom sie noch immer fest an seiner Seite führte, hatte Hermine keine Wahl, als mit ihm durch die Große Halle und nach draußen auf die Ländereien von Hogwarts zu gehen. Ihr Plan, mit Slughorn die Küche aufzusuchen, musste offensichtlich warten.
„Krieg und Frieden?", erkundigte sich Tom, während sie gemeinsam den Weg einschlugen, der rund um das Schloss führte.
„Krieg und Frieden ist ein episches Werk, geschrieben von Leo Tolstoi. Es geht um Napoleons Krieg gegen Russland", erklärte Hermine, obwohl sie sich fragte, warum Tom sich überhaupt dafür interessieren sollte: „Obwohl Krieg einen großen Teil ausmacht, ist es im Grunde doch irgendwie eine Charakterstudie. Es gibt keine echten Helden in dem Buch, was es ziemlich spannend macht. Jeder Mensch erscheint menschlich in seinen Fehlern."
„Das klingt nach einem sehr spannenden Buch", meinte Tom und rieb sich nachdenklich das Kinn: „Denkst du, es lohnt sich für mich, das Werk zu lesen?"
„Diskutieren wir hier gerade wirklich Literatur?", gab Hermine die Frage direkt zurück. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Tom tatsächlich Interesse an ihren Lieblingsbüchern hatte.
„Offensichtlich", entgegnete er trocken. Zu Hermines Erleichterung schien er damit jedoch das Thema fallen lassen zu wollen und zum Ausgangspunkt des Gespräches zurückzukehren: „Also, du hast nichts gegen die drei genannten Zauberer einzuwenden?"
„Ich kenne keinen von ihnen, also kann ich keine Meinung dazu abgeben."
Tom blieb stehen und drehte sie vor sich, so dass er ihr direkt in die Augen schauen konnte: „Alle drei sind Slytherin-Schüler, Hermine. Wie kannst du nichts über sie wissen?"
Schnaubend schüttelte sie den Kopf: „Ich bin seit drei Monaten hier, Tom. Erwartest du ernsthaft, dass ich in dieser Zeit jeden Schüler kennengelernt habe? Ich bin froh, dass ich alle Schüler aus unserem Jahrgang mit Namen kenne."
Er legte den Kopf schräg: „Vielleicht hast du Recht. Trotzdem ist es mir wichtig, dass du am Sonntag dabei bist und mir am Ende des Abends dein Urteil mitteilst. Als Frau bist du in der Lage, ganz andere Dinge über Männer zu erfahren."
Provozierend hob sie eine Augenbraue: „Was? Erwartest du, dass ich mit allen dreien flirte und dir dann Bericht erstatte, wer am meisten darauf angesprungen ist?"
Als Antwort darauf grinste Tom breit: „Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit, aber keine Sorge, Liebes, das war nicht meine Intention. Ich denke ganz einfach daran, wie gerne wir Männer euch Frauen unterschätzen. Ich vermute, dass alle dazu neigen, vor dir ein wenig weniger vorsichtig zu sein als vor mir."
Hermine rückte ihre Schultasche zurecht, die langsam aber sicher schwer wurde auf ihrer Schulter. Wieso standen sie hier vor den Mauern des Schlosses in der Kälte und sprachen darüber? Warum nicht an irgendeinem warmen Ort, der ebenso geschützt war?
„Ich glaube, du unterschätzt den Intellekt deiner Mitschüler. Jeder weiß doch, dass wir ein Paar sind, also werden sie damit rechnen, dass ich dir Bericht erstatte, denkst du nicht?"
In einer unerwarteten Geste griff Tom nach ihrer Tasche und nahm sie ihr ab, um sie an ihrer Statt zu tragen. So beladen setzte er den Weg um das Schloss fort und Hermine folgte ihm unaufgefordert. Vielleicht hatte er hier draußen irgendein Ziel?
„Du überschätzt unsere Mitschüler, Hermine", drehte Tom ihren Einspruch um, „Keiner hat eine Vorstellung davon, wie unsere Beziehung aussieht. Hexen und Zauberer reden nicht offen miteinander, vor allem nicht jene aus reinblütigen Familien. Offenheit ist ihnen fremd, sie sehen es als Schwäche. Ich vermute, sie werden versuchen, dir ein paar Dinge über mich zu entlocken, und sich dabei in die Karten schauen lassen."
Dem konnte Hermine folgen, doch eine andere Aussage von ihm ließ sie aufhorchen: „Willst du damit andeuten, dass du Offenheit nicht als Schwäche deutest?"
Zu ihrer Überraschung lachte Tom: „Das ist wahrlich eine kontroverse Aussage von mir, nicht wahr? Ich, der Erbe Slytherins, rede von Offenheit? Mein Vorfahr würde sich im Grabe umdrehen."
Genervt rollte Hermine mit den Augen: „Trag nur nicht zu dick auf. Wir wissen beide, dass das Haus Slytherin für wahre Loyalität bekannt ist, und dazu gehört auch Offenheit. Ich habe speziell dich gefragt. Du bist derjenige, der stets mit einer Fassade von Höflichkeit und Charme durch die Schule stolziert und Lehrer wie Schüler gleichermaßen um den Finger wickelt, um sie zu manipulieren."
„Aber ich bin offen zu dir."
Ihre spöttische Antwort blieb Hermine im Halse stecken, als sie zu Tom aufsah. In seinen Augen flackerte ein Feuer. Er schien seine Worte ernst zu meinen, auch wenn sie beide wussten, dass er nicht wirklich offen zu ihr war. Sie schluckte. Was war mit ihm los?
Wieder blieb er stehen, um sie direkt ansehen zu können. Er ließ ihre beiden Schultaschen zu Boden sinken und umschloss ihre Oberarme mit seinen Händen: „Du gehörst mir, Hermine, also kann ich offen zu dir sein. Du wirst immer an meiner Seite sein, oder du wirst sterben. Verstehst du, was ich dir sage? Du gehörst mir allein und deswegen habe ich keinen Grund, nicht offen zu dir zu sein."
Ihr stockte der Atem. In Toms Augen stand ein Verlangen, dem sie nichts entgegen zu setzen hatte. Seine Worte, die er mit solcher Selbstsicherheit ausgesprochen hatte, trugen ein dunkles Versprechen in sich. Hier draußen, im kalten Dezemberwind, vor den Mauern von Hogwarts, stand Tom Riddle und erklärte, dass er sie tatsächlich als seinen Besitz betrachtete, als wäre es selbstverständlich, dass ein Mensch einen anderen besitzen könnte. Hitze stieg ihr in die Wangen, als sie bemerkte, dass sich fiebrige Erregung in ihr ausbreitete. Sie war kein Objekt, sie sollte protestieren, sie sollte sich wehren dagegen, dass er sie offensichtlich umbringen würde, wenn sie ihn verlassen wollte. Doch stattdessen stand sie hier und fühlte sich stärker denn je zu ihm hingezogen.
„Ich verstehe", nickte sie langsam, „ich gehöre dir."
Sachte legte er ihr eine Hand auf die Wange, beugte sich zu ihr hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen: „Mein Herz."
In einer Ecke ihres Verstandes erkannte Hermine, dass er sie näher als je zuvor an sich herangelassen hatte. Ob es ihm bewusst war oder nicht, er hatte sich ihr tatsächlich geöffnet. Er vertraute ihr. Sie hatte ihn tatsächlich soweit bekommen, dass er ihr vertraute. Sie war endlich soweit, dass sie ihre ursprüngliche Mission erfüllen konnte.