Frustriert starrte Hermine auf ihren Aufsatz für Arithmantik. Durch ihren Salon am Vortag und die Vorbereitungen, die sie unter der Woche dafür hatte anstellen müssen, war sie mit ihren Hausaufgaben in Verzug gekommen. Heute Nachmittag war sie mit Tom und seinen auserwählten neuen Gefolgsleuten im Eberkopf verabredet, sodass sie all ihre Aufsätze irgendwie an einem Vormittag erledigen musste. Das Ergebnis waren einige ziemlich durchschnittliche Texte. Sie wusste schon, warum sie in ihrer eigenen Zeit in Hogwarts kein allzu aktives Sozialleben gehabt hatte.
Ihr Blick wanderte zu Tom, der mit ihr alleine im Studierzimmer der Siebtklässler aus Slytherin saß. Obwohl er äußerlich ruhig wirkte, war Hermine sich sicher, dass es ihm ähnlich erging wie ihr. Auch er war in Zeitnot aufgrund der vielen Hausaufgaben.
„Hast du Alte Runen schon fertig?", erkundigte sie sich leise.
Tom legte seine Feder bei Seite und wühlte durch einen Haufen vollgeschriebener Pergamentbögen: „Ja, hier. Damit habe ich angefangen. Willst du es lesen?"
Nickend nahm sie ihm den Aufsatz ab. Obwohl sie mit Arithmantik noch nicht zufrieden war, musste sie den Text für den Moment ruhen lassen. Keine Hausaufgabe abzugeben war definitiv schlimmer, als einen mäßigen Aufsatz einzureichen. Schnell überflog sie die saubere, enge Schrift von Tom. Trotz des Zeitdrucks waren seine Sätze wohl formuliert und die Argumente präzise. Nicht ein Wort mehr stand hier, als unbedingt sein musste. Sein Stil glich ihrem sehr.
„In meiner Schule haben wir Runen meistens einfach nur übersetzt", erklärte Hermine, während sie ihm das Pergament zurückreichte, „die ganze Theorie über die magische Bedeutung von Runen ist tatsächlich neu für mich. Vielleicht habe ich mir zu viel zugetraut, als ich Alte Runen als UTZ-Kurs belegt habe."
Tom hatte seinerseits ihren Aufsatz für Arithmantik genommen und überflogen, richtete aber seine Aufmerksamkeit nun auf sie: „Wir haben damit auch erst dieses Jahr angefangen, du hast also keinen Nachteil uns gegenüber. Waren deine Noten denn bisher schlecht?"
Ertappt schüttelte Hermine den Kopf: „Nein, ich habe bisher auf alle Hausaufgaben ein O erhalten."
Grinsend stützte Tom sein Kinn auf seinen Händen ab: „Wo ist dann das Problem?"
Verlegen erklärte sie: „Ich habe einfach das Gefühl, dass ich viel mehr Mühe und Zeit investieren muss, um hier gute Noten zu bekommen. Und ich brauche ja theoretisch keinen UTZ-Grad in Alte Runen."
Augenblicklich wurde Tom ernst: „Du brauchst gar nichts, Hermine. Als Hexe könntest du den Weg von Beatrix wählen, leichte Fächer belegen und nur die Mindestanzahl an UTZ-Kursen besuchen. Mehr brauchst du nicht und mehr wird nicht erwartet. Aber hier geht es nicht darum, was erwartet wird."
Sie erwiderte seinen Blick: „Es ging mir nie darum, was erwartet wird. Als Schlammblut erwartet sowieso niemand irgendetwas von mir."
Tom beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf die Wange. Seine nächsten Worte waren mit Nachdruck gesprochen: „Belüg dich nicht selbst. Gerade weil niemand etwas von dir erwartet hat, hast du dich angestrengt. Du wolltest allen beweisen, dass sie falsch liegen. Der Druck, der auf dir lastet, ist immens. Wir wissen beide, wie es sich anfühlt, wenn nichts von einem erwartet wird. Man kann dem nachgeben und sich gehen lassen. Aber dafür sind wir nicht der Typ. Wir wollen uns beweisen. Das treibt uns vorwärts. Erzähl mir nicht, dass niemand etwas von dir erwartet. Du erwartest etwas von dir. Und ich auch."
Wärme breitete sich in Hermine aus. Tom erwartete etwas von ihr. Er erwartete Höchstleistungen, die nur von ihm selbst übertroffen wurden. Seufzend schloss sie die Augen und lehnte sich in seine Hand. Sie fühlte sich plötzlich so leicht, als könnte sie fliegen. Seit sie das erste Mal einen Fuß in Hogwarts gesetzt hatte, hatte niemand etwas von ihr erwartet. Alle Lehrer hatten sich stets beeindruckt von ihren Leistungen gezeigt, aber niemand hatte sie wirklich angestachelt, immer wieder ihr bestes zu geben. Sie hatte stets nur Lob erhalten. Es war, als wären alle Lehrer immer wieder überrascht darüber, ihre guten Aufsätze zu lesen.
Tom hingegen erwartete Höchstleistung von ihr. Er traute ihr zu, dass sie die beste sein konnte. Er traute es ihr zu.
Lächelnd öffnete sie wieder die Augen: „Hast du nicht Angst davor, dass ich dich einmal übertrumpfen könnte?"
Schnell beugte er sich weiter vor und platzierte einen kleinen Kuss auf ihren Lippen, ehe er antwortete: „Nein. Ich bin dir immer noch weit überlegen."
Protestierend entzog sie sich seinem zärtlichen Griff: „Du bist so eingebildet."
„Zurecht."
Als wäre damit alles geklärt, griff er wieder nach seiner Schreibfeder und widmete sich dem Aufsatz, an dem er gerade schrieb. Kopfschüttelnd tat Hermine es ihm nach. Sie klappte ihre Bücher für Arithmantik zu, sortierte sie weg, und schaffte so Platz für die vielen Bücher, die sie für Alte Runen brauchte. Warum bestanden Zauberer nur darauf, diverse komplizierte Gegenstände und Zusätze in ihre Zaubersprüche zu legen? Nicht nur ein Zauberstab mit korrektem Spruch und korrekter Bewegung, nein, jetzt auch noch die richtigen Runen auf dem richtigen Material in der richtigen Reihenfolge. Wer war nur auf die Idee gekommen, aus Magie so eine komplexe Sache zu machen?
Entschlossen schob sie die Gedanken beiseite, um sich stattdessen auf den Aufsatz zu konzentrieren. Es brachte nichts, über Sinn und Verstand nachzudenken, wenn sie am Ende eine herausragende Hausaufgabe abgeben wollte.
═══════════════════════
Zitternd zog Hermine den Umhang enger um sich. Der erste Advent zeigte sich von seiner eisigen Seite. Tom neben ihr schritt stoisch durch den Schnee, doch sie war sicher, dass er ebenso fror wie sie. Er zeigte es nur nicht.
„Also, hattest du gestern Zeit, die drei potentiellen neuen Mitglieder anzuschauen?"
Kopfschüttelnd rieb Hermine ihre behandschuhten Handflächen gegeneinander. Sie hatten den ganzen Vormittag gemeinsam in der Bibliothek verbracht, und er wartete bis jetzt, kurz vor knapp, ihr diese Frage zu stellen? Statt ihm das jedoch vorzuwerfen, ging sie auf die Frage ein: „Durchaus. Sie saßen an einem Tisch mit zwei Schülern aus dem fünften Jahr, Higgs und Macmillan. Letzterer ist Orions Cousin, seine Tante ist Orions Mutter. Alle fünf waren erstaunlich offen zu mir."
Toms Blick wurde skeptisch: „Bist du dir sicher, dass sie dir das nicht nur vorgespielt haben?"
Hermine hätte ihm einen wütenden Blick zugeworfen, wenn sie nicht den beschneiten, glatten Weg im Auge hätte behalten müssen: „Ja, ich bin mir sicher. Du hast doch selbst gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie vor mir ein wenig ihre Fassaden fallen lassen werden. Sie waren anfangs ziemlich reserviert. Ich glaube, sie hatten Angst, etwas Falsches zu mir zu sagen oder zu freundlich zu sein. Ihr habt ein merkwürdiges Besitzverständnis hier in England. Als würde ich jetzt dir gehören wie so ein Ding."
Sie hörte, wie Tom amüsiert auflachte: „Aber das tust du doch, Hermine. Du gehörst mir."
Schnaubend gab sie zurück: „Ebenso, wie du mir gehörst. Wir sind keine Objekte, die man besitzen kann." Sie schüttelte erneut den Kopf. Vielleicht dachte Tom tatsächlich, er würde sie im ganz wörtlichen Sinne besitzen. Darüber musste sie zu einem anderen Zeitpunkt nachdenken. „Jedenfalls sind die beiden Fünftklässler recht schnell aufgetaut, und das hat Dolohow, Rosier und Mulciber angesteckt. Ich gebe jedoch zu, dass Dolohow bis zum Schluss auf der Hut war. Ich hätte alle drei eher so wie Avery eingeschätzt, aber ich denke, Dolohow gehört nicht in diese Kategorie. Jedenfalls würdest du einen Fehler machen, wenn du dich von seinem muskulösen Äußeren leiten lässt. Er ist klug."
Endlich waren sie im Dorf angekommen, wo die Straßen zumindest grob geräumt waren. Hermine fragte sich, warum noch niemand in der Zaubererwelt auf die Idee gekommen war, einen Zauber zu erfinden, der Schneeschippen leicht machte. Selbst in ihrer Zeit stapften Zauberer und Hexen durch den Schnee wie Muggel.
„Dolohow also, mh?", murmelte Tom nachdenklich: „Ich hatte den Eindruck, dass die drei recht viel Zeit miteinander verbringen, aber dachte bisher, dass Rosier der Verstand in der Gruppe ist."
Hermine wiegte ihren Kopf hin und her: „Ich weiß nicht, ob er unbedingt jemand ist, der kluge Pläne schmiedet und strategisch denkt. Aber er ist verschwiegen und weiß, dass es immer von Vorteil ist, wenn man nur gerade so viel erzählt, wie man muss. Er schweigt lieber und beobachtet, als dass er einfach so redet. Er hat einige sehr kluge Fragen gestellt."
„Zum Beispiel?"
Gemeinsam bogen sie in die Gasse ab, die zum Eberkopf führte. Es war gut, dass sie beinahe am Ziel waren, denn Hermine merkte, wie die Kälte ihre Lippen steif werden ließ. Mühsam artikulierte sie: „Seine erste Frage war, ob ich dir wirklich treu bin. Die anderen Jungs kamen direkt zur Verteidigung meiner Ehre, aber er hat mich einfach nur abschätzig angeschaut und gewartet. Er wollte nicht wissen, ob ich fremdgehe, sondern ob ich loyal bin. Keiner von den anderen ist überhaupt auf die Idee gekommen, mich nach meiner Beziehung zu dir zu fragen."
Tom zog die schwere Tür auf und ließ sie eintreten, ehe er hinter ihr in die warme Wirtsstube trat. Sie suchten sich einen größeren Tisch in einer Ecke, von der man den Rest Schankraums im Blick hatte, hängten ihre Mantel auf und setzten sich.
Nachdem ihr vorgeblicher Vater sie kurz begrüßt und ihre Getränkebestellung aufgenommen hatte, nahm Tom den Gesprächsfaden wieder auf: „Vielleicht waren sie auch einfach klüger und haben geahnt, dass es ungesund sein könnte, diese Frage zu stellen?"
Voller Überzeugung schüttelte sie den Kopf: „Nein. Das Gespräch vorher drehte sich schon um dich. Alle fünf sind ziemlich eingenommen von dir, würde ich sagen. Sie haben mehr oder weniger subtil versucht, mir zu beweisen, dass sie dich toll finden und unterstützen. Vermutlich hoffen sie, über mich bei dir guten Eindruck zu hinterlassen. Dolohow war zwar größtenteils stumm, aber er hat oft genug zustimmend genickt, dass ich fest davon ausgehe, dass er hinter dir steht. Ich denke, sie wissen nicht, dass du auch eine gefährliche Seite hast. Davon zeigst du ja sogar innerhalb der Slytherin-Gemeinschaft sehr wenig."
Ihre Getränke kamen und Tom verschwand Richtung Toilette. Angespannt schaute Hermine sich im Schankraum um. Die Atmosphäre hier war definitiv düsterer als im Drei Besen, und sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie unwohl sie sich damals gefühlt hatte, als sie das erste geheime Treffen von Dumbledores Armee hier abgehalten hatten. Dass sie inzwischen den Besitzer kannte und sogar irgendwie mochte, änderte wenig daran, dass ihr das Klientel hier missfiel. Zum Glück war am frühen Nachmittag noch nicht allzu viel los, doch die wenigen Zauberer, die sie sah, sahen zwielichtig genug aus. Warum wirkte dieser Raum so dreckig? Obwohl ihr Tisch sauber war und auch der Boden keinerlei Dreck aufwies, abgesehen von ein wenig Schneematsch im Eingangsbereich, hatte sie das Gefühl, als würde jede Oberfläche kleben.
Tom war noch nicht zurück, da traten Abraxas und Rufus ein. Hermine hob eine Hand und winkte ihnen zu, um sie auf den Tisch aufmerksam zu machen.
„Miss Dumbledore", begrüßte Rufus sie mit einem Kopfnicken: „Ich hätte nicht gedacht, Sie hier alleine anzutreffen."
„Oh, Ihre Sorge ehrt Sie", erwiderte Hermine mit leichtem Spott, „aber Tom ist ebenfalls bereits da. Er ist nur eben austreten."
Abraxas setzte sich zu ihrem Erstaunen direkt neben sie, während Rufus an seiner anderen Seite Platz nahm. Seine ganze Körpersprache wirkte selbstbewusster als während der letzten Tage: „Wie geht es dir, Hermine?"
Sie war sich bewusst, dass Lestrange jede ihrer Interaktionen mit anderen Männern unter die Lupe nehmen würde, also verkniff sie sich das Lächeln, das sich unwillkürlich hatte formen wollen: „Gut, danke, dass du fragst. Ich bin nur ein wenig überfordert von den vielen Hausaufgaben."
„Vielleicht hätten Sie nicht ganz so viele Kurse belegen sollen?", warf Rufus ein. In seinen Augen stand eine unausgesprochene Herausforderung.
Statt auf seine Provokation einzugehen, richtete Hermine ihren Blick direkt auf Abraxas: „Ich hatte die Woche über recht viel zu tun mit Vorbereitungen für den Salon gestern, da sind einige Aufsätze auf der Strecke geblieben."
„Das kann ich mir gut vorstellen", nickte Abraxas, der zu Hermines Belustigung ebenfalls nicht auf seinen Freund einging.
Ehe einer von ihnen weiter sprechen konnte, kehrte Tom zurück und begrüßte die Neuankömmlinge: „Abraxas, Rufus. Ich wusste, dass ihr beide überpünktlich sein würdet. Sehr zuverlässig."
Hermine sah deutlich, wie beide Männer sich verspannten, als Tom sich zu ihnen setzte. Dass Abraxas in seiner Nähe angespannt war, war nicht neu, doch Rufus so offensichtlich unter Druck zu sehen, überraschte sie. Sie hatte am Vortag genau gesehen, dass er sich zu den fünf Jungs gesetzt hatte, kaum dass sie gegangen war, doch die Mienen von Dolohow, Rosier und Mulciber hatten eine eindeutige Sprache gesprochen. Ob Rufus langsam verstand, dass er zu spät und zu machtlos war, um es mit Toms Netzwerk aus Freunden und Gefolgsleuten aufzunehmen? Oder plante er heute etwas und war deswegen angespannt?
Ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, ging die Tür erneut auf, und die drei Schüler kamen zusammen mit Orion, Nott und Avery. Tom, der nun gänzlich in seine Rolle als Anführer geschlüpft war, winkte sie herbei, teilte jedem einen Platz am Tisch zu, und fragte nach dem Getränkewünschen. Anstatt auf den Wirt zu warten, erhob er sich, um die Bestellung eigenständig an der Theke aufzugeben. Innerlich applaudierte Hermine ihm. Es war definitiv eine von Toms Stärken, potentiellen neuen Anhängern zunächst die Seite von sich zu zeigen, die sich um andere kümmerte und selbstlos erschien.
Sie war gespannt, wie die Gespräche am Tisch verlaufen würden.