Hermine musste an sich halten, nicht zu gähnen. Obwohl er noch lebte, war Professor Binns dennoch einschläfernd, ganz wie sie ihn aus ihrer Zeit erinnerte. Dass sie direkt danach Mittagessen zu sich nahmen, verschlimmerte ihre Müdigkeit nur noch. Sie hatte montags am Nachmittag Alte Runen und Arithmantik, zwei Fächer, für die sie ihre Konzentration brauchte. Sie konnte es sich nicht leisten, müde zu sein.
Die meisten ihrer Hauskameraden waren nach dem Essen bereits aufgestanden. Tom hatte sich entschuldigt, dass er vor Alte Runen noch in die Bibliothek wollte, und so war sie alleine mit Abraxas am Tisch zurückgeblieben. Sie wusste, dass Tom absichtlich und unter den Augen aller anwesenden Schüler ohne sie aus der Großen Halle gegangen war. Er hatte sie mit Abraxas alleine gelassen, um ihren unausgesprochenen Plan in Bewegung zu setzen.
Träge drehte sie sich zu ihrem blonden Mitschüler um. Ihr stand nicht der Sinn danach, Spielchen mit Abraxas zu spielen. Selbst wenn er sich mit Rufus Lestrange angefreundet hatte, hatte er es nicht verdient, erneut von ihr an der Nase herumgeführt zu werden.
„Du siehst müde aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf", flüsterte Abraxas ihr leise zu.
Sie rang sich ein Lächeln ab: „Eine ungute Kombination aus wenig Schlaf, ermüdender Stunde bei Professor Binns und einem zu reichhaltigen Mittagessen."
Er erwiderte ihr Lächeln, doch Hermine konnte sehen, dass auch er sich dazu zwingen musste. Warum war immer alles so kompliziert zwischen ihnen?
„Wir haben noch eine Viertelstunde, ehe Alte Runden anfängt. Möchtest du eine Runde auf den Ländereien spazieren gehen?", schlug Abraxas vor. „Die kalte Luft macht dich bestimmt wieder wach."
Der Vorschlag passte ihr so gut, dass Hermine sich zu fragen begann, ob Abraxas ebenfalls mit Hintergedanken an ihre Zweisamkeit heranging. Hatte er mit Rufus etwas besprochen? Sollte er aktiv einen Keil zwischen sie treiben?
Nickend stimmte sie der Idee zu: „Das klingt gut, ja."
Gemeinsam erhoben sie sich von der langen Tafel. Abraxas bot ihr sofort an, ihre Tasche zu tragen, und obwohl Hermine wenig von der Geste hielt, ließ sie es zu. Mit einem schnellen Accio zauberten sie ihre Wintermäntel herbei, und dann waren sie auch schon aus dem Schloss hinaus in die Kälte getreten.
„Uh, es ist wirklich kalt!", entfuhr es Hermine unwillkürlich, während sie den Mantel fester um sich zog.
„Vielleicht schneit es bald?"
Mit langsamen Schritten gingen sie den schmalen Pfad entlang, der einmal rund um das Schloss führte. Sie hatten kaum die erste Biegung hinter sich gebracht, da blieb Abraxas stehen und zog sie in den Windschatten der Mauer.
„Hermine", begann er leise. Seine Stimme klang ernst, doch Hermine sah, dass er sich zwingen musste, die Worte zu sagen. Ohne ihr in die Augen zu schauen, erklärte er: „Ich habe viel mit Rufus über dich gesprochen in letzter Zeit. Ich kann einfach nicht länger schweigen."
Nervös befeuchtete Hermine ihre Lippen. Diesen direkten Angriff hatte sie nicht erwartet. Würde Abraxas ihr offen sagen, dass Lestrange etwas gegen sie im Schilde führte?
„Ich ... ich kann nicht länger zusehen, wie Tom dich behandelt", presste Abraxas heraus und endlich schaute er ihr in die Augen. Schuld sprach aus deinem Blick, doch er fuhr fort: „Ich sehe, dass du unter ihm leidest. Ich sehe, dass er sich nicht wie ein Gentleman verhält. Du bist mehr wer als das, Hermine."
Enttäuschung schwappte über sie wie eine Woge kalten Wassers. Abraxas log sie an. Sagte Dinge, die er vermutlich vorher mit Rufus besprochen hatte. Er war nicht ehrlich zu ihr, im Gegenteil. Grimmig verzog sie ihre Lippen zu einem dünnen Strich.
„Sieh mich nicht so an", protestierte Abraxas, als er ihre ablehnende Haltung bemerkte. „Du kannst es nicht leugnen! Ich weiß, dass du nur aus Angst bei ihm bleibst. Aber du musst keine Angst haben. Ich ... wir können dich beschützen. Wenn die Familie Malfoy dich beschützt, kann auch jemand wie Tom Riddle dir nichts. Bitte, Hermine. Denk darüber nach. Du bist nicht sicher an Toms Seite."
Die letzten Worte hatten so verzweifelt geklungen, dass Hermine nicht anders konnte, als ehrliche Sorge dahinter zu vermuten. Abraxas machte sich Sorgen um sie, aber nicht wegen Tom, sondern weil er wusste, dass sie Lestrange ein Dorn im Auge war. Obwohl er das Spiel mitspielte, war seine Priorität dennoch, sie zu beschützen. Auf seine Weise war Abraxas Malfoy wirklich ein sehr loyaler Slytherin.
Verzweifelt erwiderte sie seinen Blick. Sie wollte ihn in Arm nehmen, von ihm in Arm genommen werden. Sie wusste, dass er es wirklich gut mit ihr meinte. Aber eine einfache Umarmung war in dieser Zeit nicht bloß eine einfache Umarmung. Wenn sie engen Körperkontakt zuließ, würde sie ihm falsche Signale senden.
Was perfekt in Toms Plan passte.
„Abraxas", murmelte sie leise und trat näher an ihn heran, ohne ihn jedoch zu berühren. „Du verstehst das nicht. Hier geht es nicht um Schutz."
Grob packte er sie an beiden Oberarmen: „Nein, du verstehst nicht, Hermine! An der Seite von Tom bist du ... siehst du nicht, wie gefährlich das für dich ist?"
Ihr Atem beschleunigte sich, während sie in die strahlend blauen Augen von Abraxas schaute. Er war besorgt um sie und wollte ihr die Gefahr deutlich machen, ohne seinen Freund zu verraten. Das ehrte ihn, doch er war Tom und ihr mehrere Schritte hinterher.
Sie schaute zur Seite. Sie konnte ihm nicht in die Augen blicken, während sie log. „Tom hält mich nur aus einem Grund an seiner Seite. Ich bin eine Frau und er ein Mann. Er mag nach außen so tun, als würde er mich wie eine von ... von euch behandeln, aber das stimmt nicht. Nicht mehr."
Abraxas Griff lockerte sich. „Was sagst du da?"
Mit Tränen, die sich nicht vorspielen musste, schaute sie ihn wieder an: „Er will euch provozieren. Er will euch testen! Ich bin nicht mehr als ein Spielzeug für ihn. Ein Werkzeug."
„Er ... will uns testen?"
Hermine konnte deutlich hören, wie ungläubig Abraxas klang. Vermutlich passten ihre Worte überhaupt nicht zu dem, was Rufus ihm erzählt hatte. Sie kannte die Intentionen von Lestrange nicht, doch sie war sich sicher, dass auch er nicht ehrlich zu Abraxas war. Niemand war ehrlich zu ihm. Sein Name und seine Freundschaft zu Tom machten ihn zu einem Spielball. Sie war keine Ausnahme. Sie behandelte ihn nicht besser als alle anderen.
Entschlossen lehnte sie sich vor und schlang ihre Arme um seinen durchtrainierten Körper. Sie stand an Toms Seite und würde ihm immer mit seinen Plänen helfen, doch dieser Junge, dieser gute Mann vor ihr verdiente zumindest einen Funken Ehrlichkeit.
Als sie spürte, wie er ihre Umarmung erwiderte, reckte sie sich ein wenig, um ihm leise ins Ohr zu flüstern: „Ich habe dich unfassbar gerne, Abraxas. Was auch immer geschieht, was auch immer andere sagen, was auch immer ich sage. Bitte, glaube mir, die Wahrheit ist, dass ich dich mag und respektiere."
Sie wollte sich von ihm lösen, doch Abraxas ließ es nicht zu. Stattdessen legte er ihr eine Hand auf die Wange und küsste sie. Er küsste sie, als wollte er ihr all die unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen sagen. Es war kein Kuss wie zuvor, nicht liebevoll und sanft. Er küsste sie mit allem, was er hatte. Drängte seinen Körper an ihren, bis sie rückwärts stolperte und gegen die kalte Steinmauer gepresst wurde. Seine Hände fuhren unter ihren Mantel und legten sich auf ihre Hüften, um sie noch enger an ihn zu ziehen.
Bereitwillig öffnete Hermine ihre Lippen, um seiner fordernden Zunge Einlass zu gewähren. Unbeholfen, aber leidenschaftlich erkundete er sie. Erst, als ihr der Atem ausging, drehte Hermine ihr Gesicht zur Seite, um den Kuss zu unterbrechen.
„Du bist zu gut für diese Welt", raunte er ihr zu, schwer atmend und sichtlich um Fassung bemüht. „Ich sollte dich beschützen und dir den Hof machen. Sieh mich nur an. Du bist so rein und gut und ich falle über dich her, als wärst du eine Dirne. Ich habe nicht verdient, dass du mich respektierst."
Kopfschüttelnd vergrub Hermine ihr Gesicht in seiner Brust. Abraxas sollte von allen am besten wissen, dass sie weit entfernt von rein und gut war. Er hatte sie gesehen, wie sie sich von Tom berühren ließ. Er war von ihr gefoltert worden. Und trotzdem sah er in ihr immer noch eine Jungfrau in Nöten, die er beschützen wollte. Obwohl er sich mit Rufus eingelassen hatte, wollte er immer noch ihr Ritter in scheinender Rüstung sein.
„Abraxas", flüsterte sie leise, ohne ihn aus ihrer Umarmung zu lassen: „Du musst stärker werden. Du musst unbedingt stärker werden. Ich weiß, du bist klug und loyal, aber das wird nicht reichen."
Er lehnte sich ein Stück zurück, um ihr Gesicht in beide Hände nehmen zu können. Ernst schaute er sie an. „Ich weiß, Hermine. Denke nicht, dass ich blind bin für die Dinge um mich herum. Ich sehe, dass Rufus dabei ist, Tom herauszufordern."
Bestimmt schüttelte Hermine erneut den Kopf: „Du siehst es nicht nur, du weißt davon. Lestrange hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er dich auf seine Seite gezogen hat. In seinen Augen kann ich von dir keinen Rückhalt mehr erwarten."
Der blonde Slytherin errötete und schaute zur Seite. „Ich weiß. Ich habe das Gespräch sehr wohl mitbekommen. Rufus ... er meinte, es ist notwendig, dich und Tom auseinander zu bringen, weil du Tom ablenkst. Auch wenn meine Motivation eine andere sein mag, ich werde alles daransetzen, dass du Tom verlassen kannst. Ich will dir helfen, Hermine. Wirklich."
Sie legte ihrerseits eine Hand auf seine Wange und zwang ihn, sie wieder anzusehen: „Ich weiß, Abraxas, und seine Sorge wärmt mein Herz. Aber hier gehen ganz andere Dinge vor sich. Lestrange weiß nicht, worauf er sich einlässt, und du ebenso wenig. Bei Merlin, nicht einmal ich weiß noch, was Tom plant."
Überraschung trat in die Augen des Jungen vor ihr: „Du weißt es auch nicht?"
Tief holte Hermine Luft. Sie wollte ehrlich zu Abraxas sein, doch sie wusste, langfristig würde das ihnen allen nur schaden. Sie löste sich aus der Umarmung und drehte sich ein wenig zur Seite. Als sie schließlich fortfuhr, bemühte sie sich, alle Emotionen aus ihrer Stimme zu halten: „Wie ich sagte. Ich bin ein Werkzeug. Er will euch testen, eure Loyalität und Entschlossenheit. Ich dachte, er würde mich in alles einweihen, aber je mehr ich sehe, umso mehr muss ich feststellen, dass er mir Dinge verschweigt."
Abraxas lehnte sich gegen die Schlossmauer, beide Arme vor der Brust verschränkt, mit einem nachdenklichen Ausdruck auf seinem Gesicht. „Wenn du weißt, dass er dich nur benutzt. Wenn du weißt, dass er dir Dinge verschweigt. Warum bleibst du bei ihm? Hast du so viel Angst vor ihm?"
Ein trauriges Lächeln legte sich auf Hermines Lippen, als sie zu Abraxas aufsah: „Ich kann ihn nicht verlassen. Ich kann nicht."
Kurz sah es so aus, als wollte er protestieren, doch Abraxas erstarrte mitten in der Bewegung. Verwirrung und dann Unglaube machten sich auf seinem Gesicht breit. Tonlos stieß er hervor: „Du liebst ihn?"
Sie musste sich auf die Zunge beißen, um nicht aufzulachen. Wenn Abraxas nur wüsste, wie weit er von der Wahrheit entfernt war. Doch die Erkenntnis, zu der er von selbst gekommen war, war nützlich. Es machte sie schwächer und damit ein noch interessanteres Ziel für Lestrange. Statt seine Worte zu bestätigen, zuckte Hermine einfach nur mit den Schultern.
„Wie?", verlangte Abraxas zu wissen, als sie einfach schwieg. „Wie kannst du ... Hermine, ich dachte ... was ich gesehen habe. Wie kannst du trotzdem etwas für ihn empfinden? Ich dachte, wir ... du und ich ... wie kannst du mich so küssen, wenn du einen anderen Mann liebst?"
„Weil ich schwach bin", gab sie zurück. Sie ließ ihre Stimme zittern und schaute ihn noch immer nicht an. Sie war so ehrlich zu ihm gewesen, wie sie sein konnte, aber jetzt war keine Zeit mehr für Ehrlichkeit. Sie würde Abraxas vor Tom beschützen, und dazu gehörte, dass sie ihn glauben ließ, was Tom ihn glauben lassen wollte. Sie schloss die Augen, nur um sich dann herumzudrehen und mit betontem Augenaufschlag Abraxas direkt anzusehen: „Ich sehne mich nach Ehrlichkeit und Zuneigung, wie du sie mir schenkst. Ich will nicht, dass du aufhörst, mich zu mögen. Verzeih mir meine Schwäche."
„Ich werde niemals aufhören, dich zu mögen, Hermine Dumbledore."
Die Intensität in Abraxas' Stimme raubte Hermine den Atem. Er meinte, was er sagte. Mehr denn je wünschte sie sich, dass sie ihn unter anderen Umständen kennengelernt hätte. Dass nicht Draco, sondern Abraxas in ihrer Zeit gelebt und nach Hogwarts gegangen wäre.
„Danke", erwiderte sie schlicht, doch sie meinte ihre Worte ebenso ernst und aufrichtig wie Abraxas.
Mit einem Kopfnicken bedeutete sie ihm, dass sie zurückgehen sollten. Sie hatten deutlich zu lange hier draußen verbracht.
Eine kleine Stimme in ihrem Kopf sagte Hermine, dass Abraxas am Ende des Schuljahres nicht mehr so gut über sie denken würde. Sie ahnte, dass sie an Toms Seite Dingen tun würde, die alle ihre Verbündeten verurteilen würden.
Und sie betete, dass sie Unrecht hatte.