Schweißgebadet wachte ich in meinem Bett auf und sah mich um. Alles sah aus wie immer, der Schreibtisch stand an seinem gewohnten Platz, mit allem was darauf zu liegen hatte: Federn, Briefbogen, Tintenfässchen, usw. Das hohe Fenster war geöffnet und ich konnte die Sterne am Himmel blitzen sehen. Der Ast der Kastanie, die sich vor meinem Zimmer draußen befand, winkte mir offenbar hinterlistig zu. Ast? KastanienBAUM??? Schlagartig fiel mir wieder ein, was passiert war und ich ließ meinen immer noch schmerzenden Schädel aufs Kissen zurück sinken.
Die Soldaten im Wald mussten mich ins Schloss zurückgebracht haben. Mir fiel auf, dass mein rechter Arm mit einer Binde umwinkelt war. Er war wohl leicht ausgerenkt worden, als der Baumdämon mein Schwert zu sich gezogen hatte. Allem Anschein nach hatte der Heiler mich schon verarztet, denn auf der Nachtkomode links neben meinem Bett lagen verschiedene Bindenrollen und es standen auch einige Flaschen mit Arznei darauf.
Meine Gedanken schweiften erneut ins Unergründliche ab und ich ließ mir das Geschehene noch mal durch den Kopf gehen, dann dachte ich plötzlich an König Cámalon und ein Tuch schwarzer Verzweiflung legte sich düster auf meine Gedanken...
Was würde er tun? Wie würde er den Verlust seiner Nichte verkraften? Und vor Allem: Wie sollte ich erklären, dass ich sofort zur Stelle war?
Letzteres bereitete mir wohl die meisten Sorgen und wieder hatte ich mich in einem endlosen Gewirr aus Fragen und Gedanken verloren.
*
Die Tür öffnete sich und ein Bediensteter trat ein, er ging zu dem Fenster um es zu schließen:
"Nein, lass es bitte noch ein bisschen offen, Chase..." brachte ich hervor, als ich ihn erkannte.
Chase war für mich immer schon mehr wie ein großer Bruder, als ein Diener gewesen. Wir kannten uns seit wir kleine Kinder waren. Wir hatten miteinander gespielt und uns im Hofgarten heimlich auf Monsterjagd gemacht, obwohl man es uns verboten hatte. Er hat mir auch sehr oft aus der Patsche geholfen und die Verantwortung für meine Streiche übernommen. Das mag sich jetzt anhören, als hätte ich ihn ausgenutzt, aber so war es nicht und das wusste er auch. Ich schätzte ihn als meinen besten Freund.
Er war sehr hoch gewachsen, mit 6-7 Fuß, hatte haselnussbraune Haare, die genauso verwuschelt waren wie meine - was wohl auch zu der Sympathie beiträgt, die ich für ihn empfand - , seine Nase sah für jeden anderen komisch aus, wie in Stein gemeißelt, aber für mich war sie wie ein Erkennungsmerkmal, daran konnte ich ihn unter Tausenden erkennen. Seine Augen waren tiefbraun - sie glichen denen eines Adlers - und wenn man genau hinsah, konnte man noch immer den kleinen, rebellischen Funken darin flackern sehen, den er noch aus Kindertagen in sich trug.
"Schön, dass ihr wach seid, Sir. Ihr habt den ganzen restlichen Tag geschlafen, es ist mittlerweile fast Mitternacht." Seine feste, aber dennoch lustige Stimme gefiel mir.
"Du sollst mich nicht siezen, Chase. Bist du noch zu was anderem hier, außer Fenstermännchen zu spielen? " Ich hoffte ihn ein bisschen zu provozieren und so aus der Reserve locken zu können, normalerweise ging er auch darauf ein, doch heute verschwand nur sein Lächeln und wich einem ernsten, aber auch mitleidigem Blick...
"Nein, Flash," druckste er zögerlich herum, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand uns hören konnte. Er war sehr darauf bestrebt, sich an seine Etikette zu halten...
Er ging zur Tür und schloss sie leise.
"So, welchem Grund dient dein Aufenthalt hier dann?" Ich setzte mich im Bett auf und sah ihn verblüfft ob seiner Antwort an.
"Der König schickt mich, ich soll sehen ob du bereit bist ihm Bericht zu erstatten. Die Wachen haben noch nichts sagen wollen. Sie behaupteten zu ängstlich gewesen zu sein, um das Geschehen zu verfolgen. Den Göttern sei Dank! Was ist den passiert? Ich meine, hast du dich durch irgendetwas verraten?" Chase glaubte an mehrere Götter nicht nur an einen so wie ich, ein heikles Streitthema, dass uns oft aneinander geraten lässt, doch diesmal war ich ohnehin zu aufgewühlt um darauf zu reagieren. Ich sah die Neugier aus seinen Augen flammen und sprach die Worte mit Mühe aus: "Ein Baumdämon hat Fürstin Cenishenta entführt." Sein Gesicht wurde blass... "Nein!" Er war im Übrigen der Einzige, der um meine wahren Gefühle der Fürstin gegenüber Bescheid wusste . Deshalb verstand ich auch seine Bestürzung nur zu gut. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte wahrheitsgemäß.
"Pass auf, dass dir dein Mundwerk vor dem König nicht durchgeht. Auch wenn Ceni jetzt nicht mehr da ist, glaube ich nicht, dass die Strafe geringer ausfallen würde..."
"Ich weiß", erwiderte ich verbittert. "Ich muss mir noch was einfallen lassen, damit ich mich nicht aus Versehen verrate..."
"Eine Leichtigkeit für einen Redner wie dich."
"Erinnere mich daran, wenn ich am Galgen hänge..." Unwillkürlich griff ich mir an den Hals.
Er grinste über beide Ohren. "Du übertreibst wie immer. Komm, du musst dich noch anziehen."
"Ja", meinte ich beiläufig, während ich aufstand.
"Ich werde derweil dein Erscheinen ankündigen", er öffnete die Türe, machte mir den Diener - den ich feixend erwiderte - verabschiedete sich mit "Rufen sie nach mir, wenn sie etwas brauchen, Sir." und ging.
*
Ich zog mich in aller Ruhe an, wurde beim Gedanken an den Bericht trotz Chases Aufmunterung wieder trübsinnig und ging seelisch geknickt, aber dennoch körperlich aufrecht in den Thronsaal.
Dort jedoch sagte man mir, dass der König gerade zu Abend speise und mich schon erwarte, da ging mir erst auf, was für ein Bärenhunger mich quälte.
*
Chase stand schon stramm wartend in der Tür zum Speisesaal und führte mich zu meinem Platz.
Der lange Tisch mit seinen 12 Stühlen an jeder Seite und jeweils einem an den kurzen Seiten machte einen erhabenen Eindruck mit den Überhängen der roten Tischdecke, die sich komplett über ihn zog.
Er war reich mit allen möglichen Speisen gedeckt. Außer dem König saßen noch seine Frau Saphira, sein Sohn Sanus, dessen Frau Melana und deren gemeinsame, lebhafte, 4 - jährige Tochter Lenaria, sowie einige andere ausgesuchte Ritter der Tafelrunde am Tisch.
"Setzt euch", gebot mir der König mit sanfter Stimme und bedachte meinen eingebundenen Arm mit einem seltsam beunruhigten Blick. Seine blauen Augen verrieten Güte und Entschlossenheit. Und seine braunen schulterlangen Haare, die langsam ergrauten und zu Geheimratsecken neigten, wurden durch den Glanz der Krone noch in ihrem majestätischen Ausdruck verstärkt. Sein etwas nach vorne stehendes Kinn gab seinem Aussehen etwas Elegantes. Er schien wirklich noch nichts über den Verbleib seiner Nichte zu wissen und anzunehmen, dass sie sich einen Scherz erlaubte, wie so oft, wenn sie sich versteckt hielt, um die nach ihr suchenden Soldaten zu erschrecken. Wobei sie mich immer am häufigsten erschreckt hatte... Bei diesem Gedanken, dem Gedanken an ihr Lachen, wenn sie mich wieder einmal herein gelegt hatte, bekam ich einen Kloß in den Hals, antwortete deshalb lieber nicht und setzte mich zu der Gesellschaft dazu.
Ich ließ mir nichts anmerken, aß und trank so schnell und viel bis ich satt war und ließ mir den ein oder anderen überraschten Blick gefallen, der mir von der Wache und von Cámalon zugeworfen wurde.
Chase konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen und ich biss die Zähne zusammen um nicht auch zu grinsen, doch dann dachte ich wieder an die Fürstin, wie sie lächelt, ihr Kichern lag mir in den Ohren, und meine Trübsinnsstimmung war wieder hergestellt.
Nachdem ich fertig gegessen hatte, wobei der König gütig auf mich wartete, wurde abgeräumt und Cámalon befahl mich in den Thronsaal, wo ich ihm alles berichten sollte.
*
Als sich alle im großen Thronsaal versammelt hatten ließ sich der König auf seinem prunkvollen Thron nieder. Vor ihm auf dem roten Teppich kniend, berichtete ich, teils stockend, dann wieder flüssiger von den Ereignissen der vergangenen Nacht. Chase stand nicht weit von mir entfernt, ein paar Schritte vielleicht und warf mir ermutigende Blicke zu. Ich versuchte mich auf andere beiläufige Dinge zu konzentrieren um nicht den Anschein zu erwecken, mehr als gewöhnlich an der ganzen Sache interessiert zu sein. Ich betrachtete die kräftigen, schön verzierten Säulen, die die gewaltige, kunstvoll geschmückte, gewölbte Decke über unseren Köpfen halten mussten. Ich bemerkte, dass Sanus und Lenaria noch nicht anwesend waren. Der Hofstaat, der rechts und links neben dem roten Teppich stand, der vom Thronsaaleingang bis zum Thron verlief - sowie dem darauf sitzendem Königspaar - starrte mich gespannt ob der Neuigkeiten an, die ich über Cenishenta zu berichten wusste.
"...gingen wir durch den Wald..." plötzlich stockte ich, ich hätte ja eigentlich gar nicht bei ihr sein dürfen! Meine Gedanken überschlugen sich, aber mein Mund sprach einfach weiter und zog mich - mit mich selbst überraschenden, klug gewählten Worten - aus der Schlinge des Galgens, die ich schon um meinen Hals liegen spüre.
"...Sie äh... sie hatte mich als ihren persönlichen Schutzmann eingeteilt..." Ich wusste, dass das eine sehr dürftige Ausrede war, aber der König hinterfragte sie glücklicherweise nicht.
Während ich weiter berichtete, wandte sich mein Blick wieder der Saalverschmückung zu, die aus großen Fahnen bestand auf denen das Wappen Kertófus und das seiner Bündnisländer, Plarun und Arténol prangte. Die Halle aus Marmor kam mir heute außergewöhnlich groß vor. Als ich zu der Stelle mit dem Dämon kam, hielt ich inne, und die viel zu reelle Erinnerung an die schreckliche Szene zwang mich dazu, einen Anflug unkontrollierbarer Wut zu unterdrücken.
Chase bemerkte es und tat so als ob er mir einen Schluck Wasser bringen wolle, er hielt mir den Kelch hin und fragte:
"Ist alles in Ordnung? Soll ich den König bitten, dass er dich gehen lässt?"
"Nein, Chase. Es geht schon, danke. Ich möchte es so schnell wie möglich hinter mich bringen." antwortete ich und schluckte meine Wut mit dem Wasser runter.
*
Einige Wandbehänge und Gemälde von ehemaligen Königen später war es dann endlich fast geschafft:
" ...und dann...öffnete der Dämon die Tür in eine dunkle Dimension und nahm die Fürstin mit..." endete ich langsam meinen Bericht. Ich musste mich nun wirklich anstrengen um nicht gleich loszubrüllen, aber ich konnte meine Stimme noch davor bewahren mich zu verraten. Dennoch war ich ebenso sehr erleichtert, denn der König stellte keinerlei aufdringliche Fragen, die mich vielleicht in Schwierigkeiten gebracht hätten. Es ist weiß Gott nicht einfach vor den Augen Cámalons und des halben Hofstaates nicht die Nerven zu verlieren und noch dazu kein falsches Wort fallen zu lassen! Noch immer hingen sämtliche Blicke an mir, wäre nicht Chase bei mir gewesen, so wäre ich unter dieser Last zusammengebrochen.
"Wenn es wahr ist, was Ihr sagt, Ritter Raffaell", erhob der König - in seinen Thron gekauert - seine kühle Stimme, "dann können wir nichts tun..."
"WAS?! Aber,...- " Chase blickte den König ebenso verständnislos an wie ich und der Rest der Anwesenden.
"Es wäre zu gefährlich jemanden loszuschicken! Außerdem..."
"Majestät?" Ich wagte es zu fragen, obwohl ich doch wusste, was nun kommen würde und es doch gar nicht hören wollte!
"Es ist so, dass ich keine große Hoffnung mehr habe, dass meine Nichte noch am Leben ist..."
In diesem kurzen Moment, in dem Cámalon das verlauten lies, brach meine Welt in sich zusammen... Ich atmete schwer und mein Herz schien viele Augenblicke zu brauchen, um nur einen Schlag zu tun. Ich brauchte einige Zeit um mich wieder zu beruhigen.
„Aber-…“
„Akzeptiert bitte meine Entscheidung, Ritter Flash. Glaubt nicht, es täte mir nicht im Herzen weh, aber ich kann es weder verantworten, noch jemanden dazu zwingen, dass er sich in eine solche Gefahr begibt.“
Ich war gebrochen, willenlos und doch wusste ich, dass er Recht hatte.
König Cámalon ist ein weiser König und mir wie ein Vater, so wie ich ein zweiter Sohn für ihn bin. Er baute sein großes Reich von Anfang an auf dem Vertrauen seiner Untertanen auf. Ich weiß, dass seine Entscheidung nur logisch war, aber auch, dass ich lange Zeit brauchen würde sie zu akzeptieren. Wie traurig ich wirklich darüber war, dass Cenishenta weg war, wurde mir noch schmerzlicher bewusst, als Lenaria hereinkam:
"Hallo Großvater! Wo ist Tante Ceni?" rief sie ausgelassen und hüpfte in ihrer kindlichen Freudigkeit auf den Schoß des Königs.
Schon ihren Namen zu hören stach mir wie tausend heiße Dolche ins Herz... dann kam auch noch Prinz Sanus - für mich wie ein Bruder zwar, doch momentan reichlich unpassend, wie ich fand - und erkundigte sich unbeschwert:
"Ja, wo ist die Fürstin? Ich hab sie heut noch gar nicht gesehen. Lenaria! Du sollst doch seine Majestät nicht immer so erschrecken..."
Er hob seine kichernde Tochter hoch und setzte sie lachend auf seine Schultern.
Der König, dem ob der Kindlichkeit seiner Enkelin gerade noch ein sanftes Lächeln auf den Lippen gelegen hatte, zögerte jetzt, stand dann aber auf und entschloss sich, sichtlich mit sich ringend, es ihnen zu sagen:
"Sie ist tot. Ein Dämon hat sie entführt...", mit der in dieser Situation größtmöglichen Ruhe verkündete er das, so dass sein Sohn es erst für einen derben Scherz hielt.
"Nein! Das ist nicht wahr! Wenn das ein Witz sein soll, finde ich ihn überhaupt nicht komisch." Doch König Cámalon blieb ungerührt:
"Das ist durchaus kein Witz, Sanus", entgegnete er mit derselben verbissenen Ruhe wie zuvor. Prinz Sanus musste sich setzen. Er ließ sich auf dem Thron neben Cámalon nieder. Er hatte einen verstörten Gesichtausdruck bekommen und schlug die Hände vors Gesicht. Lenaria krabbelte unsicher von seinem Rücken herunter.
"Was meint Opa mit 'tot'?" wollte sie von ihrem Vater wissen, der die Hände hochnahm und sie umarmte, was sie sich nicht gefallen lassen wollte, bis er schließlich erklärte:
"Dass sie nicht wieder kommen wird..." Tränen rannen über Sanus Gesicht.
Ich hätte am liebsten einfach los geschrieen, aber alles was ich raus bekam, war ein leises, gequältes Flüstern:
"Es tut mir leid, ich war bei ihr, aber ich konnte nichts tun. Der Dämon war zu stark."
Ich spürte die mitleidigen Blicke, die mir von allen Seiten und vor allem von Chase zugeworfen wurden.
Ich verfluchte meine Schwäche und betrachtete still Sanus, der sich nun die Blöße gab und weinte. Er tat mir sehr leid. Meine Stimme zitterte, als ich sie zum Sprechen anhob, aber da Lena ebenfalls das Weinen anfing, merkte es zum Glück niemand... mir wurde schon schwindelig und übel.
"Euer Majestät, ich bitte um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen..."
"Geht nur, geht..." entgegnete der König mit belegter Stimme. Er saß nun wieder auf seinem Thron und wischte sich die Tränen weg. Während ich von Chase gefolgt aus dem Saal trat, sah ich nicht auf. Ich mochte die Gesichter der Menschen nicht sehen, von denen die herzzerreißenden Schluchzer kamen. Das wäre das letzte gewesen, das es brauchte, um mich von meinem völligen Unnutzen zu überzeugen. Was nützt schon ein Ritter, wenn er nicht kämpfen kann?
*
Aus dem Saal heraus hielt ich es gerade noch so lange aus, bis wir bei der Treppe, die zu den Gemächern hoch führte, ankamen. Dann brach ich zusammen und Chase half mir die Stufen hoch, da ich noch ganz benommen war. Doch sobald ich mir sicher sein konnte, dass uns niemand hörte, brachen all meine Gefühle auf einen Schlag heraus.
Ich fing an zu fluchen, zu heulen und Chase durchzuschütteln, der alles stumm und ruhig über sich ergehen lies, mich in eine brüderliche Umarmung nahm und mich danach stützend nach oben begleitete.
Als er mich sicher im Bett wusste, wünschte er mir eine gute Nacht und ging mit einem sorgenvollen
Gesichtsausdruck aus dem Raum.
Nachdem die Türen geschlossen waren, zerfiel die Stille um mich in grausames Schweigen.