Der Dienstag verging wie im Flug. Obwohl er aufmerksam in allen Unterrichtsstunden war, hatte Tom doch das Gefühl, als stünde er heute außerhalb der Welt. Seine Gedanken waren woanders, nur ein kleiner Teil seines Ichs beschäftigte sich tatsächlich mit dem Schulstoff. Der viel größere Teil kreiste um Abraxas.
Er verstand seinen besten Freund einfach nicht. All die Jahre zuvor hatte er sich seiner Loyalität und Freundschaft stets sicher sein können, immerhin war Abraxas einer der ersten gewesen, der auf ihn zugekommen und ihn anerkannt hatte. Die Malfoys waren eine alte Familie, stolz, aber auch mit einem ausgeprägten Sinn für Macht. Sie wussten, dass kaum eine andere Familie so wichtig war wie die ihre, und doch hatte sie im Laufe der Geschichte immer wieder gezeigt, dass sie sich auch beugen konnten, wenn sie jemandem ernsthaft Respekt entgegen brachten. Abraxas hatte offensichtlich sein Potential erkannt, eine Freundschaft begonnen - und zielstrebig, wie Tom war, hatte er all die sozialen Konventionen befolgt, die es brauchte, um einen besten Freund zu gewinnen. Abraxas hatte ihm schnell vertraut, hatte ihn nie in Frage gestellt und ihn uneingeschränkt als überlegen anerkannt.
Dass eine Frau ihn mal vom rechten Weg ablenken würde, hätte Tom niemals erwartet.
Was sah Abraxas nur in Hermine? Sie war keine Schönheit, nicht hässlich, aber auf den ersten Blick doch eher unauffällig und durchschnittlich. Sie würde nie im Leben eine gute Hausfrau und erst recht keine gute Ehefrau abgeben. Sie war Amerikanerin und nicht so reinblütig, wie sie vorgab. Abraxas musste doch wissen, dass seine Familie niemals eine Frau wie Hermine in ihre Kreise aufnehmen würde. Sie war ja noch nicht einmal charmant.
Verärgert rieb Tom sich das Kinn, während sein Blick durch den Gemeinschaftsraum glitt. Da saßen so viele hübsche Mädchen, die Frisuren ordentlich zurechtgemacht, die Haltung gerade, die Beine anständig nebeneinander gestellt. Jede einzelne schien mit einem Buch beschäftigt, doch Tom entging nicht, dass alle Mädchen kurz in ihren Bewegungen inne hielten, als sein Blick sie streifte. Sie saßen hier aufgereiht wie in einem Ausstellungskatalog, nur darauf wartend, von ihm oder einem anderen bedeutenden jungen Mann angesprochen zu werden. Was wollte Abraxas da mit Hermine?
Hermine brauchte eine harte Hand. Sie brauchte einen Mann, der sie in die Knie zwingen konnte, der ihr überlegen war und keine Gnade zeigte. So hart Abraxas sonst auch sein konnte, zu Frauen war er viel zu sanft. Er könnte Hermine niemals gerecht werden. Er ahnte vermutlich nicht einmal, wie viel Schaden er mit seiner zärtlichen Geste am Vorabend angerichtet hatte.
Hermine war keine Frau, die mehrere Menschen in ihrem Leben haben konnte. Sie brauchte einen Mann, einen einzigen. Jeder andere, der versuchte, ihr Freund zu sein, schadete ihr am Ende nur. Er verhinderte, dass sie sich ganz hingeben konnte, dass sie wirklich loslassen und ihr Innerstes zeigen konnte. Wäre er alleine gewesen, Tom hätte geflucht. Er brauchte Hermine isoliert. Sie musste erkennen, dass niemand außer ihm selbst ihr geben konnte, was sie brauchte. Er würde niemals an sie herankommen, wenn eine Freundschaft zu Abraxas sie ablenkte.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Hermine den Gemeinschaftsraum betrat - gefolgt von Abraxas, der ein Lächeln im Gesicht trug, das ihn wie einen Trottel aussehen ließ. Sie ließen ihm keine andere Wahl, er musste intervenieren.
"Hermine , Liebes", rief er ihr durch den Raum zu: "Da bist du ja. Ich hoffe, du hast unsere Verabredung nicht vergessen? Wir wollten doch heute Abend gemeinsam lernen."
Er war erstaunt über die Ruhe, mit der sie sich zu ihm umdrehte: "Aber wie könnte ich dich jemals vergessen? Ich wollte gerade auf mein Zimmer gehen, um mich vorzubereiten."
In einer für den gesamten Raum sichtbaren Geste drückte sie Abraxas zum Abschied die Hand, lächelte ihm zu und verschwand dann im Gang zu den Mädchenschlafsälen. Eiskalte Wut stieg in Tom auf. Sie provozierte ihn. Und er war sich sicher, dass sie das nicht gewagt hätte, wenn nicht Abraxas ihr am Vorabend eine Schulter zum Weinen geliehen hätte. Er atmete tief durch, um den Hass aus seiner Stimme zu verbannen, ehe er aufstand und auf seinen besten Freund zu trat: "Ich sehe, Hermine hat in dir einen sehr guten Freund gewonnen, mein guter Abraxas."
Für einen Moment starrte der ihn nur schweigend an, einen fragenden Ausdruck in den Augen, dann sanken seine Schultern herab und er seufzte tief: "Tom ... ich weiß einfach nicht mehr, was du von mir willst. Ich bin nicht wie Rufus, ich kann dich nicht so leicht durchschauen. Wenn es dich stört, dass ich mich gut mit Hermine verstehe, dann sag das bitte. Ich ..."
Doch Tom ließ ihn gar nicht erst ausreden. Unhörbar für den Rest und nicht bemüht darum, den Zorn aus seinem Tonfall herauszuhalten, zischte er: "Vielleicht hätte der Hut dich damals besser nach Hufflepuff gesteckt."
Kopfschüttelnd ließ er Abraxas stehen, ohne ihm auch nur eine Sekunde weiter Aufmerksamkeit zu schenken. Die Lektion, die er Avery erteilt hatte, war eine Warnung für alle gewesen, doch offenbar hatte dieser jüngste Spross aus dem Hause Malfoy das nicht verstanden. Dachte Abraxas etwa immer noch, dass er, weil sie einst als beste Freunde begonnen hatten, eine besondere Stellung innerhalb ihres kleinen Kreises hatte? Verstand er wirklich nicht, dass dieselben Regeln für alle galten?
Vor Hermines Zimmertür angekommen hielt Tom inne. Es war so anstrengend, den alten, großen Namen in der Zaubererwelt Respekt entgegen bringen zu müssen. Viele Dinge wären leichter und schneller, wenn er einfach Gehorsam verlangen konnte, doch dazu waren seine wenigen Anhänger noch nicht bereit. Sie akzeptierten ihn als Anführer, aber sie erwarteten noch immer, dass er sie als wichtige Persönlichkeiten behandelte. Das musste er ändern. Doch für den Augenblick hatte er andere Sorgen.
Er musste Hermine ein für alle Mal klar machen, dass sie ihm und nur ihm gehörte.
oOoOoOo
Hermine saß in ihrem Raum und wartete geduldig auf Tom. Das Gespräch mit Abraxas hatte ihr Kraft gegeben. Es war erstaunlich, wie viel Tränen ausrichten konnten. Sie fühlte sich, als wäre ein Knoten geplatzt, als könnte sie endlich wieder klar denken und mit Stärke auf Tom schauen. Auch, wenn Abraxas nicht wusste, wer sie wirklich war und welche Geheimnisse sie hatte, so tat es doch gut, einen Freund an ihrer Seite zu wissen, der ihr immer eine Schulter zum Weinen anbieten würde. Sie war nicht länger alleine.
Die Tür zu ihrem Zimmer ging auf und schloss sich wieder. Langsam drehte Hermine sich auf ihrem Bett herum, um zu Tom zu sehen, doch das Lächeln, das sie auf ihre Lippen hatte zaubern wollen, erstarb sofort. Seine sonst dunklen Augen waren von einem roten Schimmer erfüllt, der unmöglich vom Schein des Feuers in ihrem Kamin stammen konnte. Schaudernd zog sie sich auf die Bettkante zurück.
"Hermine", kam es leise von Tom: "Hermine, Hermine. Was soll ich nur mit dir machen?"
Nervös befeuchtete sie ihre Lippen: "Tom ... ich weiß nicht, was du ..."
"Schweig!", befahl er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Überrascht schloss Hermine den Mund. Was hatte nur diese Seite in ihm hervorgerufen? Immer noch leise, immer noch voll eisiger Kälte in der Stimme fuhr er fort: "Ich hätte nicht gedacht, dass du so unverfroren bist. Oder vielleicht bist du auch einfach nur unfassbar naiv? Was auch immer es ist, ich bin ernsthaft enttäuscht von dir."
Mit langsamen Schritten kam Tom auf sie zu, umrundete das Bett, um direkt vor ihr stehen zu bleiben und auf sie hinabzuschauen. Lange starrte er sie einfach nur an, das Gesicht ausdruckslos, nur seine Augen verrieten, wie viel Zorn gerade in ihm wütete. Entschlossen erwiderte Hermine den Blick. Sie war nicht länger alleine, sie hatte einen echten Freund an ihrer Seite, einen Mann, der ihre Tränen aushielt, ohne Fragen zu stellen.
"Erinnerst du dich an unser Gespräch?", fragte Tom sanft, doch ehe sie antworten konnte, fuhr er bereits fort: "Wir haben über Freiheit gesprochen, Hermine. Ich habe dir gezeigt, was in dir steckt, die ganzen letzten Abende, an denen wir gemeinsam die Dunklen Künste ergründet haben. Und draußen auf der Wiese. Ich habe dir dein wahres Ich gezeigt, die Macht, die in dir steckt. Du herrschst noch immer über Miss Bargeworthy. Doch was tust du?"
Bei seinen letzten Worten war Toms Tonfall plötzlich wieder schärfer geworden. Er stand noch immer vor ihr, seine Gestalt türmte sich wie ein bedrohlicher Schatten vor ihr auf, ein Schatten, dem sie nicht entkommen konnte. Und noch immer verstand sie nicht, was er von ihr wollte.
"Du bist eine starke Frau, Hermine", erklärte Tom schließlich, nachdem ihm von ihr nur eisernes Schweigen entgegen schlug: "Aber du hast auch Schwächen. Erinnerst du dich an Avery? Er hat deine Schwäche gesehen. Erinnerst du dich? Weißt du noch, was ich danach zu dir gesagt habe? Was du mir versprochen hast?"
Langsam ahnte Hermine, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. Ihr Mund wurde trocken bei dem Gedanken daran, dass ihr intimes Gespräch mit Abraxas ausgerechnet von Tom beobachtet worden war. Furcht ergriff sie, Furcht um ihre neuen Freund und Furcht davor, ihn durch Tom direkt wieder zu verlieren, so, wie sie auch Ignatius und Augusta verloren hatte.
"Erinnerst du dich?", wiederholte Tom seine Frage, und plötzlichen hatte er sich zu ihr herunter gebeugt, die Hände fest auf ihre Schultern gelegt, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.
"Ich habe gesagt, dass das nie wieder vorkommt", flüsterte Hermine leise. Sie konnte seinem Blick nicht länger standhalten und schaute daher benommen auf ihre Hände.
"Ganz genau", peitschte seine Stimme durch den Raum. Mit einer Hand zwang er Hermine, wieder zu ihm aufzusehen: "Du wolltest keinem außer mir je wieder deine Schwäche zeigen. Oder deine Tränen. Warum also", und nun konnte Hermine deutlich sehen, dass das Rot in Toms Augen keine Täuschung des Lichts war, "Warum also sehe ich dich in den Armen meines besten Freundes, weinend, ohne jeden Schutz? Kannst du mir erklären, wie das zusammen passt?"
Mit offenem Mund starrte Hermine den jungen Mann vor sich an, der gerade zum ersten Mal wirklich wie jemand wirkte, der später zu Lord Voldemort werden könnte. Sie wusste, sie musste etwas sagen, irgendetwas, zu ihrer Verteidigung, zu Abraxas' Verteidigung, doch nichts kam. Als hätten sich alle Worte aus ihrem Geist verflüchtigt, starrte sie Tom einfach nur sprachlos an.
"Ich will dir Freiheit geben, Hermine!", flüsterte er eindringlich: "Siehst du nicht, dass du alles zerstörst mit deinem Tun? Verstehst du nicht, dass du mich dadurch zwingst, Dinge zu tun, die ich niemals tun wollte?"
Ehe sie begriff, wovon Tom sprach, war er von ihr weggetreten, hatte seinen Zauberstab gezogen und deutete auf sie: "Crucio."
Ein entsetztes Ächzen entfuhr ihr, als sie das ruhig gesprochene Wort hörte, diesen nachlässig gemurmelten Fluch, der so viel Unheil mit sich trug. Doch dann verschwand jeglicher Gedanke aus ihren Sinnen und sie kannte nur noch Schmerz. Jede Faser ihres Seins, jeder Nerv schrie unter den Reizen, denen sie ausgesetzt waren, und ohne ihr Zutun verkrampfte sich Hermines Körper, glitt von der Bettkante und schlug auf dem Boden auf. Sie hatte nicht einmal die Kraft zu schreien, so umfassend war der Schmerz.
Und dann war er plötzlich weg. So schnell, wie es begonnen hatte, war es wieder vorbei. Plötzlich war Tom neben ihr, Tom, der sie mitleidsvoll anschaute, sie in seine Arme zog und streichelte, während er leise beruhigende Worte murmelte.
"Du musst lernen, Hermine", hauchte er ihr zu, während eine seiner Hände immer wieder durch ihr schweißnasses Haar fuhr: "Lernen durch Schmerz. Ich war nachsichtig mit dir, doch du bist blind und willst nicht sehen. Glaub mir, es fällt mir schwer, dir dies anzutun, aber wenn du nicht streng mit dir sein kannst, muss ich es für dich sein."
Schwer atmend schaute Hermine zu ihm auf, ihre Hände klammerte sich unbewusst in sein Hemd. Jegliches Rot war aus seinen Augen verschwunden, stattdessen fand sie dort nur noch ein flackerndes Licht, als blickte sie in die unterdrückte Flamme der Leidenschaft.
Sie hatte verloren.