Fünf Kilometer von Visby entfernt, bereitete Louis Dubois das Abendessen für sich und Lysander vor. Der war schon über eine Stunde unterwegs, dabei hatte er nur mal eben etwas in dem der Stadt zugehörigen Stall nachfragen wollen.
Louis hoffte, dass Lysander mit seinem Vorhaben Erfolg gehabt hatte. Die Pferde gut versorgt zu wissen, während sie beide außer Landes waren, das war ihnen ein Bedürfnis.
Das Knirschen des Kieses in der Einfahrt, gefolgt vom Schlagen einer Tür, ließen den Stallmeister aufhorchen.
»Na endlich«, murmelte er und lehnte sich in den Rahmen der Küchentür, gespannt, was sein Boss erreicht hatte.
Dieser betrat keine Minute später das Haus, hängte seine Jacke an die Garderobe und musterte seinen Freund schmunzelnd.
»Auf was wartest du?«
»Was denkst du wohl?« Louis verdrehte die Augen. »Hattest du Erfolg?«
Sich an dem Anderen vorbeischiebend, betrat der Unsterbliche die Küche und holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.
Nachdem Lysander einen Schluck getrunken hatte, lehnte er sich an die Arbeitsplatte.
»Aber ja. Ich habe alles zu unserer Zufriedenheit klären können. Es ist wirklich eine sehr schöne Anlage und die Tiere sehen sehr gut genährt und gepflegt aus. Ich denke, unsere Pferde wären dort gut untergebracht.«
»Eine Sorge weniger.« Louis musterte seinen Freund einen Moment. »Und jetzt? Hast du Hunger?«
Lysander streckte sich. »Ganz ehrlich? Ich würde mich gerne etwas hinlegen. Irgendwie macht mir das trübe Wetter heute zu schaffen.«
»Gut, dann mach das. Der Eintopf, den ich gekocht habe, schmeckt später aufgewärmt noch besser. Also geh und schlaf ‘ne Runde.«
Lysander nickte. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum und stieg die Treppe hinauf zu den Schlafzimmern.
*
Riley hatte sich nach seinem Reitunfall zu den Unterkünften geschleppt. Sein Rücken fühlte sich an, als ob ihn jemand mit einem Messer bearbeiten würde. Der junge Mann stöhnte vor Schmerzen auf und stützte sich am Esstisch ab. Rye wollte eigentlich nur noch unter die heiße Dusche und sich dann langmachen.
Da es in der Hütte jedoch bitterlich kalt war, musste er noch Holz für den Ofen hereinholen, um diesen anzufeuern. Riley biss die Zähne zusammen und ging langsam wieder nach draußen. Vor dem Holzstapel stehend überlegte er, wie er das Ganze am besten bewerkstelligen sollte, ohne seinen Rücken zu sehr zu belasten.
»Was tust du da?«
»Na, wonach sieht es denn aus? Heizmaterial reinholen. Die Bude ist eiskalt«, gab Riley zurück und warf seinem Zimmergenossen, der wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war, einen gequälten Blick zu.
»Geh zurück ins Haus, ich mach das hier schon. Ist bestimmt nicht gut für deine Verletzung, wenn du Holz schleppst«, erwiderte Eric und schob seinen Arbeitskollegen vorsichtig zur Seite.
Brummelnd gehorchte der Dunkelhaarige und verschwand wieder Richtung Unterkunft, während sein Mitbewohner sich eine ordentliche Ladung Holz schnappte und ihm folgte.
In der Hütte angekommen, zog Riley seine Sachen aus und verschwand im Badezimmer, um erst einmal heiß zu duschen. Mit etwas Glück würde das einen Teil der Schmerzen zumindest lindern.
Als er schließlich wieder in die Wohnstube zurückkam, brannte der Kaminofen und eine angenehme Wärme hatte sich in dem Raum ausgebreitet.
Nur mit einem Handtuch um die Hüften, humpelte Riley zu dem schmalen Schrank, in dem seine sauberen Sachen waren, nahm eine Boxershorts heraus, ließ das Handtuch fallen und zog diese an.
Eric saß am Tisch und beobachtete seinen Mitbewohner grinsend. Der war so mit seinen Schmerzen beschäftigt, dass er den Blonden ganz vergessen hatte und zusammenzuckte, als der ihn ansprach.
»Auch ‘nen Tee?«
»Ehm … ja klar … gerne«, erwiderte Riley und merkte, wie er rot wurde.
Immer noch schmunzelnd stand Eric auf, ging in die Kochecke und holte eine weitere Tasse aus dem Schrank.
Er goss den Tee ein und schob seinem Mitbewohner die Tasse hin. »Und? Hat das Duschen was gebracht? Außer, dass du wieder sauber bist.«
»Danke«, nuschelte Rye und nahm Platz. »Vielleicht ein wenig, aber ich denke nicht für lange. Johanna wollte ja den Arzt anrufen, damit der sich das mal anguckt. Ich vermute, dass es wirklich eine Prellung ist. Tut jedenfalls verflucht weh.«
»Nun, wenn der Doc da war, weißt du mehr«, erwiderte Eric, trank seinen Tee aus und stand auf, »ich werd dann mal weiterarbeiten. Du kommst klar oder brauchst du noch was?«
Riley schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauch nix. Alles gut, danke.«
Sein Mitbewohner ging zur Tür, öffnete diese, doch er drehte sich noch einmal um und kehrte an den Tisch zurück. »Wenn irgendwas ist, dann … Moment ...« Er suchte nach einem Stück Papier und einem Stift, schrieb etwas darauf und gab den Zettel Rye. »Hier hast du meine Handynummer. Ruf mich an oder schick ‘ne SMS, wenn du was brauchst, die Schmerzen schlimmer werden oder weiß der Henker was. Renn bloß nicht in der Gegend rum, klar?! Am besten legst du dich hin.«
Nickend nahm Riley den Zettel mit der Nummer entgegen und sah Eric an. »Ich hoffe ja, dass das nicht nötig sein wird, aber danke.«
»Kein Ding. Fühl dich geehrt«, antwortete sein Kollege lächelnd, »die Nummer bekommt nicht jeder. Ich hasse diesen mobilen Nervtöter nämlich und steh nicht so auf dauerndes Gebimmel und Gepiepe. Aber es gibt Situationen, da muss es eben sein. Schon dich! Bis später.«
Mit einem letzten Blick auf seinen Mitbewohner, verschwand Eric nach draußen in die Kälte.
*
Drei Stunden später klopfte es an der Tür der Hütte.
Riley, der sich auf seinem Bett hingelegt hatte und schließlich eingeschlafen war, schreckte aus dem Schlaf hoch. Der junge Schwede setzte sich auf … natürlich viel zu schnell.
»Verdammt«, fluchte er, als der Schmerz in seinen Rücken fuhr und schnappte nach Luft. Es klopfte erneut und Riley quittierte es mit einem gepressten »Herein«.
Seine Chefin betrat den Raum, im Schlepptau einen älteren Mann, den sie als Doktor Johansson vorstellte.
Dieser ließ sich von Rye erst einmal erzählen, was genau passiert war und untersuchte ihn im Anschluss gründlich.
»Nun«, sagte der Arzt, als die Begutachtung abgeschlossen war, »Ihr Rücken ist geprellt. Zum Glück ist es nur eine leichte Verletzung, aber ein paar Tage werden Sie sich schon schonen müssen. Bewegung ist erlaubt, aber bitte nicht überstrapazieren - kein schweres Heben und Tragen. Was das Reiten angeht: Das müssen Sie ausprobieren, aber ich würde es nicht übertreiben. Ich werde Ihnen jetzt ein Schmerzmittel spritzen, damit Sie über Nacht Ruhe haben. Ein paar Tabletten lasse ich Ihnen auch noch da.«
Riley nickte zerknirscht und biss die Zähne zusammen, als der Arzt ihm die Spritze setzte.
»Gut, das wäre es für den Moment. In einer Woche sollte das Ganze schon wesentlich besser sein. Ansonsten kommen Sie bitte in der Praxis vorbei«, sagte Dr. Johansson, gab seinem Patienten zum Abschied die Hand und verließ dann mit Johanna die Hütte wieder. Riley seufzte und legte sich wieder in sein Bett. Das konnte ja lustig werden, wenn er so gut wie nichts machen durfte …
*
Die nächsten Tage plätscherten vor sich hin, aber da er sich schonte, waren die Schmerzen am Ende der Woche fast vollständig verschwunden. Nur wenn er sich zu schnell bewegte, spürte er noch einen leichten Stich im Rücken.
Am Freitag nach seinem kleinen Unfall ging Riley gegen Mittag hinüber zum Stall, um sich Flame zu holen. Der junge Mann wollte … musste sich wieder in den Sattel schwingen und das Pferd weiterarbeiten. Als Riley das Gebäude betrat, sahen Johanna und Eric erstaunt auf. Sie waren gerade dabei das Heu für die Abendfütterung in den Boxen zu verteilen.
»Was machst du hier? Alles gut?«, fragte Eric.
Rye sah seinen Mitbewohner an. »Ja, alles in Ordnung.«
Dann wandte er sich an seine Chefin: »Ich werd mir gleich Flame holen und mit ihr ein wenig arbeiten. Mein Rücken hatte genug Ruhe, denke ich.«
Johanna musterte ihn skeptisch. »Bist du sicher?«
Riley nickte. »Ja, bin ich. Außerdem hat Dr. Johansson es mir nicht verboten. Ich hätte es schon viel früher probiert, aber die Schmerzen waren zu extrem. Wenn es nicht geht, dann lass ich Flame nur ein wenig laufen. Sie muss ja irgendwie mal ‘ne Beziehung zu mir aufbauen können.«
Seine Chefin nickte. »Gut, du wirst schon wissen, was geht und was nicht. Aber sei vorsichtig.«
Eric hatte inzwischen die letzte Box mit Futter versorgt und kam zu Riley herüber. »Klar, irgendwann musst du ja mit dem Training anfangen. Dann lass uns mal runter zu den Paddocks gehen. Ich hol Wintersong rein. Der kann auch mal wieder was tun.«
Der 22-Jährige nickte und gemeinsam verließen sie den Stall in Richtung der Ausläufe.
Nachdem sie die beiden Pferde von den Paddocks geholt hatten, band Riley die kleine dunkelbraune Stute in der Stallgasse an und machte sie für die geplante Reitstunde fertig, während Eric seinen Kaltblutwallach in der Box vom Dreck im Fell befreite.
»Mann, Mann, musst du dich immer so einsauen?«, brummelte der Blonde, als auch er endlich fertig und sein Pferd wieder sauber war. Er ging zu Riley und Flame hinüber, lehnte sich an die Boxenwand neben ihnen und beobachtete seinen Mitbewohner. »Was hältst du davon, wenn wir ‘nen kleinen Ausritt machen? Es schneit grad nicht, die Sonne ist mal draußen und der Kleinen würde es bestimmt guttun.« Damit strich er der Stute durch die lange, weiße Mähne.
Riley hob den Blick. »Meinst du? Ich kenne Flame ja kaum. Ich hab keinen Nerv, dass sie mir im Gelände rumzappelt, denn das ist ja doch etwas Anderes als in der Halle. Das wäre für meinen Rücken nicht so toll.«
»Wintersong und ich sind doch dabei. Der wird sie schon mit seiner Ruhe anstecken und falls nicht, dann tauschen wir die Pferde eben. Auch kein Problem.« Eric strich sich eine Strähne aus den grünen Augen. »Also, wie sieht’s aus? Kommst du mit?«
Riley überlegte noch einen Moment, dann nickte er zögerlich. »Ja, ich komm mit.«
Kurz darauf verließen sie auf dem Rücken ihrer Pferde den Hof. Flame war natürlich nervös und tänzelte unter ihrem Reiter, aber Riley nahm es gelassen. Seinem Rücken schien es nicht allzu viel auszumachen und dass die Stute sich an Erics Nordschwedisches Kaltblut drängte, störte Rye auch nicht im Geringsten.
Im Gegenteil. Wintersong schien tatsächlich eine beruhigende Wirkung auf Flame zu haben, wie sein Besitzer es vorausgesagt hatte. Sie drehten eine Runde um Visby und ließen die Pferde sich austoben. Nach einem flotten Galopp über eine der großen Wiesen vor der Stadt, war auch Flame ganz ruhig und gelöst.
»Meinst du, wir können durch die City zurückreiten?«, fragte Eric mit einem Seitenblick auf seinen Mitbewohner. »Ich würde nämlich gerne etwas erledigen, wo wir einmal hier sind. Dann muss ich nachher nicht noch mal los, sondern kann weiterarbeiten.«
Riley strich seinem Pferd über den Mähnenkamm, bevor er zustimmte: »Ich denke schon. Flame ist ruhig und es ist für sie ja nur eine weitere Erfahrung. Lieber jetzt, wenn Wintersong dabei ist, der ihr Sicherheit gibt, als irgendwann alleine. Ja, lass uns durch die Stadt reiten.«
Eric nickte und trieb sein Pferd den asphaltierten Weg hinunter, der nach Visby führte – Riley folgte ihm.
Sie ritten durch den östlichen Torbogen in die mittelalterliche Stadt und hielten auf dem Marktplatz an.
»Ich werde mich schnell mal erkundigen, ob ich auf dem Weihnachtsmarkt noch einen Stand für meine Sachen anmieten kann, wenn du einen Moment mit den Pferden hier wartest. Dauert nicht lange. Ich hab mich schon telefonisch schlau gemacht und Hermann hat auch ein gutes Wort eingelegt, sagt er. Es ist nur ‘ne Formalität, denk ich«, sagte Eric und sah seinen Kollegen an.
Der nickte. »Sicher, mach ruhig. Ich tränk’ die Pferde so lange am Brunnen. Ist ja noch ruhig hier, sodass wir niemanden stören.«
Eric sprang vom Rücken seines Kaltblutes und drückte Riley die Zügel in die Hand. »Super, danke. Ich beeil mich.« Damit lief er quer über den Marktplatz und verschwand in einem großen Gebäude am Rand des kleinen Stadtparks.
Rye sah ihm einen Moment nach, dann lenkte er die Pferde über den Platz und hielt sie an dem Brunnen in der Mitte an. Der Dunkelhaarige ließ sich vom Rücken der Stute gleiten und lehnte sich an den Brunnenrand, während die beiden Tiere ihren Durst stillten. Riley strich sich eine Strähne aus den Augen und schaute über den Platz, auf dem sich zu dieser Zeit des Jahres viele kleine Häuschen aneinander reihten. Typisch Weihnachtsmarkt eben.
Eric wollte sich hier auch einen Stand anmieten. Keine schlechte Idee, wie Riley fand. Mit etwas Glück konnte sein Kollege sich hier auf Gotland eine Existenz aufbauen und als Sprungbrett war der Weihnachtsmarkt bestimmt gut geeignet.
Während Rye mit den Pferden dort stand und wartete, füllte der Platz sich langsam, aber stetig. Flame zuckte zusammen, als ein paar Kinder kreischend an ihnen vorbeiliefen.
Beruhigend auf sie einredend, kraulte der junge Schwede der Stute die Nase. »Alles gut, Mädchen. Ich glaub, wir müssen öfter hierherkommen, damit du dich an die ganzen Geräusche gewöhnst.« Er lehnte seine Stirn für einen Augenblick an ihre und kraulte sie hinter den Ohren. Riley nahm sich vor, ab jetzt mit Flame mindestens einmal in der Woche nach Visby zu reiten, damit sie so viele Umweltreize wie möglich kennenlernte.
Eine sanfte, dunkle Stimme riss Rye aus seinen Gedanken. »Sie wird sich daran gewöhnen. Sie ist noch ziemlich jung, oder?«
Erstaunt trat der Angesprochene einen Schritt zurück, wandte seinen Blick in die Richtung, aus der die Stimme kam und schaute in das Gesicht eines jungen Mannes, der ihn anlächelte. Der Fremde trat an die Stute heran. Vorsichtig strich er ihr über den Hals und redete leise mit ihr. Flame senkte den Kopf, ließ sich die Zuwendung gefallen und schnaubte entspannt.
»Ja, noch sehr jung«, beantwortete Riley die Frage des Anderen und musterte diesen genauer. Er schien nicht älter als höchstens fünfundzwanzig zu sein. Die Haare des Fremden, die ihm bis auf die Mitte des Rückens fielen, waren … silbergrau und schimmerten im Sonnenschein faszinierend. Rileys erster Gedanke war, ob diese gefärbt waren oder dies tatsächlich die natürliche Haarfarbe seines Gegenübers war.
Als hätte der junge Mann die Gedanken erraten, sagte er schmunzelnd: »Nein, sie sind nicht gefärbt.« Dabei sah er Riley in die Augen und dieser stellte erstaunt fest, dass die des Fremden unterschiedliche Farben hatten – eins war grün und das andere goldbraun.
Interessiert und zugleich ein wenig verwirrt starrte Rye den Fremden an.
»Und auch meine Augenfarben sind echt«, beantwortete dieser die ungestellte Frage schmunzelnd, »das ist lediglich eine Pigmentstörung. Nennt sich Heterochromie. Nichts Weltbewegendes, aber zugegebenermaßen selten und bestimmt irritierend, wenn man so etwas noch nie gesehen hat.«
Riley merkte, dass ihm Hitze ins Gesicht stieg. Das Anstarren fremder Männer schien zu einer lästigen Gewohnheit zu werden. »Tut mir leid. Ich wollte nicht …« Er brach ab und schaute verlegen zu Boden.
»Neugier ist keine Schande«, gab der Fremde zurück und streichelte Flame noch einmal über den Hals. »Ich muss mich nun leider verabschieden. Vielleicht sieht man sich mal wieder. Pass gut auf dein Pferd auf.« Damit lächelte er Riley noch einmal an, drehte sich um und verschwand im, mittlerweile ziemlich dichten, Getümmel auf dem Marktplatz.