Es war ganz einfach. Diese Seite war die Plauderecke für Verrückte. So musste es sein. Es gab gar keine andere Erklärung dafür.
Anouk stöberte, wie sie vermutete, noch rund eine Stunde durch das Forum, fand aber keine zufriedenstellenden Antworten auf ihre Fragen.
Überall begegnete ihr dieses Wort Lucidity. Die User schrieben darüber, wie man einen Zustand erreichen konnte, den sie lucid moment nannten. Entweder meinten sie damit bewusstseinserweiternde Substanzen oder durch physische Umstände bedingte Trugbilder. Das würde bedeuten diese Menschen fügten sich bewusst Schmerzen zu, setzten sich toxischen oder strahlenden Dämpfen aus oder taten alles Erdenkliche im Widerspruch zur allgemeingültigen Norm der Gesellschaft Stehende.
Diese Leute waren psychisch Kranke, die versuchten sich ihre Probleme schön zu reden und alles was ihnen, ihrer Ansicht nach, schaden würde, niederzumachen.
Nicht nur Texte fand sie auf dem Board, auch Bilder, Fotos... und Gedichte.
Solche, wie sie sie zuvor von Internal Realism erhalten hatte.
Eines der Bilder enthielt einen Spruch, der lautete: 'Don't allow the lucid moment to dissolve', was so viel bedeutete wie 'Erlaube dem luziden Moment nicht sich aufzulösen'.
Anouk wusste zwar, was das Wort luzid bedeutete, aber nicht, was es in dem Zusammenhang für die User von Dreamland hieß.
Luzid war ein Synonym für Klar.
Sie kannte es in Verbindung mit Träumen. Luzide Träume. Klarträume.
Jene waren Träume, in denen der Träumer sich darüber bewusst war, dass alles, was geschah im Schlaf passierte.
Vielleicht waren die Menschen dieses Forums doch nicht so durchgedreht, wie angenommen. Vielleicht wollten sie nur Tipps geben, wie man auf einfachstem Wege einen Klartraum haben konnte.
Anouk hoffte, dass es tatsächlich die harmlose Variante des Begriffs war. Wäre sie hier unter Psychopathen gelandet, würde sie nicht zögern und den Tor-Browser unmittelbar deinstallieren.
Während sie weiter durch Threads, Posts, Bilder und Gedichte ging, merkte sie, dass sie tatsächlich eingeloggt war, über ihren Benutzernamen AnoukSinclair. 'Komisch', dachte sie, wo sie sich doch gar nicht in diesem Forum registriert hatte. Allerdings schien das wohl schon jemand anders für sie getan zu haben.
Es war Besorgnis erregend, während ihr einleuchtete, dass Internal Realism möglicherweise über all ihre persönlichen Daten verfügen könnte, seit er (oder sie) mit ihr über den Nachrichtendienst der Esoterik-Seite schrieb. Internal Realism konnte ihre E-Mail Adresse wissen, ihr Passwort, wenn nicht sogar ihre IP-Adresse. Sie vertraute dieser Person noch immer nicht und hatte sich lediglich auf ein eigenartiges Spielchen eingelassen, wie es schien.
Als sie gerade so über diesen Jemand gebrütet hatte, der sie auf das Forum geführt hat, bemerkte sie etwas in einem Nebenreiter der Seite. Eine kleine '1' in Klammern.
Gebannt blickte sie den Reiter an, bevor sie den Cursor zu ihm navigierte.
(1) Videochat-Anfrage
So etwas. Ein User wollte mit ihr reden, per Webcam.
Das Forum besaß also auch einige Chat-Optionen. Allerdings wurde Anouk die Sache derweil schon ein wenig unheimlich. Immerhin befand sie sich erst seit Kurzem auf der Seite, hatte keinen Beitrag verfasst und sich auch nicht anderweitig kenntlich gemacht. Sie war nur jemand, der sich Threads durchlas, darüber sinnierte und entweder zu dem Entschluss kam, dass es vollkommener Quatsch war oder ihr entwich ein Ausdruck des Behagens.
Jedoch wollte sie mit keiner hier anwesenden Person Kontakt aufnehmen. Das ging ihr eindeutig zu sehr an die Substanz, auch deshalb, weil ihr noch das paranormale Erlebnis in Köln-Deutz auf das Gemüt schlug.
Also lehnte sie die Anfrage auf einen Videochat ab.
Sie setzte sich aus der buckligen Haltung auf und streckte die Arme in die Höhe. Mittlerweile schmerzte ihr Rücken davon und sie beschloss sich eine Pause zu gönnen.
Der Stuhl knarrte und ächzte als sie sich erhob. Alles in ihrer Wohnung war mindestens genauso alt wie sie selbst... oder noch älter. Das Meiste hatte sie mitgenommen als sie von zuhause ausgezogen war, plus ein paar Möbelstücke von Nachbarn oder Bekannten ihrer Familie.
Ein kleiner Spaziergang durch die Wohnung und ein nächtlicher Imbiss würden sie sicherlich auf andere Gedanken bringen, weshalb sie überstürzt jedes Licht auf dem Weg zur Küche anknipste.
Sie konnte die Dunkelheit nicht leiden und just in diesem Augenblick sowieso nicht.
Sie öffnete den Vorratsschrank. Zu ihrem Glück enthielt der noch eine satte Ladung Käse-Nachos. Der Anblick dieser köstlichen, ungesunden Ration knuspriger Tortilla-Chips hob ihre Laune ins Unermessliche.
Darum lehnte sie sich gegen die Küchentheke und stopfte sich vollkommen gedankenverloren die Chips in den Mund.
Während sie so geistesabwesend den Snack verschlang, zuckte sie auf.
Den nächsten Chip legte sie zwar an ihre Unterlippe, aß ihn aber nicht. Stattdessen horchte sie aufmerksam und blieb dabei ganz still.
Es war nur ein kurzes Geräusch aus weiter Distanz, ein mattes Pochen, zwei Mal.
Sie vergrub die Hände in der knisternden Tüte und schlurfte über die Küchenfliesen.
Am Türrahmen angelangt, stellte sie sich nah mit dem Rücken an ihn heran und schaute ganz langsam zur Seite, in den unbelichteten Flur, hin zur Haustür.
Ein paar Herzschläge später verdrehte sie über sich selbst die Augen.
'Es muss doch nicht immer etwas passieren', beurteilte sie ihr seltsames Gehabe.
Zwischen ihre Lippen hatte sie einen Nacho-Chip geklemmt und die Tüte mit beiden Händen so eisern zerknüllt, dass der Inhalt wohl nur noch aus Krümeln bestand.
Resigniert entdeckte sie die zerbröselte Masse im Inneren der Packung, nahm noch eine Hand voll davon, ließ sie auf ihre Zunge rieseln und schmiss das Übrige in die Mülltonne. Was für eine Verschwendung. 'Ich Idiot.'
Nachdem sie sich im Bad die Hände wusch, sich kurz im Spiegel betrachtete und einen Griff ins Badezimmerregal machte, um ihre Tabletten für die Nacht zu nehmen, schlich sie verspannt in ihr Schlafzimmer zurück, wo der Monitor hell leuchtete und sie mit seinem stechenden Licht blendete.
Sie konnte es nicht fassen.
(6) Videochat-Anfrage
Irgendjemand wollte sie nicht in Ruhe lassen. Er harkte immer wieder nach und Anouk hatte schon die sechste Anfrage erhalten.
'Wenn das so ist?'
Es... konnte sich ja um einen Administratoren der Seite handeln, der sie über irgendwas informieren wollte. Vielleicht war es sehr, sehr wichtig und er wollte es ihr nicht in einer Nachricht schreiben.
Anouk klickte zögerlich auf den grünen Harken neben der Anfrage und wartete. Ihr Mikrofon war an, aber die Webcam ließ sie vorerst aus.
"Hallo?", fragte sie unsicher.
Keine Reaktion. Das Bild ihres Chatpartner blieb schwarz.
"Hallooo?", fragte sie nun lauter.
Und plötzlich konnte sie eine verpixelte Bewegung auf dem Bildschirm ausmachen.
Es war unscharf, sehr düster und das Gesicht der Person konnte sie auch nicht erkennen.
Inzwischen fing sie an ihre Entscheidung zu bereuen, bis...
"Nein!", schrie Anouk ins Mikrofon.
Sie war zornig, so zornig, dass sie fast den Chat schließen wollte.
"Hallo, Anouk", sprach eine sanfte Männerstimme und das Gesicht des Mannes auf dem Desktop bewegte sich asynchron dazu.
Sie bekam es immer nur für wenige Sekunden zu sehen, dann verschwand es wieder in der Dunkelheit.
"Was willst du noch von mir?", Anouk klang verzweifelt.
Das jugendliche Gesicht mit dem Stoppelbart blickte sie freundlich an und wirkte so starr, als es auf einmal wieder zu sprechen begann: "Noch? Was meinst du?"
"Du lässt mich gefälligst in Ruhe, du ... du ...", sie stotterte, hatte inzwischen die Webcam angeschaltet und drohte ihrem Gesprächspartner mit dem mahnenden Zeigefinger.
"Ich habe keine Ahnung, was du meinst", sagte er mit ausgeprägter Monotonie in der Stimme.
"Ich hasse dich, hast du das verstanden? Und ich ... ich werde mich n-niemals mit dir treffen!", sprach sie erbost und drehte den Kopf von der Webcam weg.
Der Mann schien nachzudenken. Dann meinte er: "Wenn du mich hasst, wieso siehst du mich dann. Mh?"
Anouk richtete entgeistert ihren Blick auf den Mann, der laut in die Kamera atmete, sodass sie es deutlich hören konnte.
"Wieso ich dich...", stammelte sie, "wieso ich... wie bitte?!"
"Würdest du mich hassen, würdest du mich gar nicht sehen", erklärte der junge Mann seelenruhig und Anouk ließ den Kopf, völlig überfragt, nach vorne fallen.
"Was macht das für einen Sinn? Du hast mir diese Anfrage geschickt. Nicht ich", erwiderte sie überrascht.
"Scheinbar warst du es doch. Ich sehe schon. Du verstehst es nicht", er grinste.
"Natürlich verstehe ich es nicht, Dummkopf!", raunte sie und verschränkte die Arme.
"Doch wer wandert durch dies Grauen", sprach der Mann mit melodischem Tonfall. Anouk erkannte die Zeile. "Wage niemals aufzuschauen, nie den schwachen Blick zu heben, in das Weben und das Beben, senke das bewimpert Lid, dass es kein Geheimnis sieht."
"Du...", hauchte Anouk fassungslos, "bist Internal Realism!"
Er senkte sein Haupt und lachte flüchtig.
"Ich hätte es wissen müssen. Du bist so versessen darauf gewesen mich zu kontaktieren. Also hast du mir diesen makaberen Quatsch geschickt, um mich zu ködern!"
"Poe", sagte er.
"Was?", sie verstand nicht.
"Das ist Poe. Kein makaberer Quatsch", führte der Mann aus.
"I-ist doch völlig irrelevant, ob das nun Poe ist oder Goethe oder Schiller", empörte sie sich und schüttelte ihre geballten Fäuste vor der Kamera, "du bist ein mieses Schwein, Moritz!"
Der junge Mann, den sie in der Kamera betrachten konnte, legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen hoch.
"Moritz?", erkundigte er sich schließlich.
"Hör auf mich für dumm zu verkaufen. Ich habe vielleicht einen kleinen Knacks, aber ich bin kein Volltrottel. Verstanden?", sie schlug mit der Faust auf ihren Tisch. Die Tastatur klapperte, die Maus rutschte ein Stückchen zur Seite und Moritz schreckte zurück.
"Was auch immer er dir angetan hat, ich bin dafür nicht verantwortlich", sprach er leise und lehnte sich vor, um ihr etwas zuzuflüstern. "Weil ich nicht Moritz bin."
Anouk ließ die Faust vom Schreibtisch fallen und die Arme in der Luft baumeln. "Aber... wer bist du dann?", fragte sie mit einem entsetzten Unterton in der Stimme. "Du siehst doch genauso aus wie er."
Der Mann stieß einen Seufzer aus, räusperte sich und schaute ihr mit einem liebgemeinten Lächeln in die dunklen, bläulichen Augen.
"Ich bin", er musste wohl krampfhaft überlegen, wie er es ihr erklären konnte, "... nicht Moritz."
Prima. Soweit waren sie schon. Nun sollte er lieber erklären, wer er war und nicht, wer er nicht war.
"Ich bin Der, der sich Internal Realism nennt."
Anouk schüttelte verständnislos den Kopf.
"Hast du keinen richtigen Namen?", wollte sie wissen.
"Offensichtlich nicht", antwortete er.
"Haben dir deine Eltern keinen gegeben?", erkundigte sich Anouk mit angestrengter Stimme.
"Offensichtlich nicht...", antwortete er ein weiteres Mal.
"Wieso denn nicht?", sie klang niedergeschlagen. Sie wollte unbedingt herausfinden, wer er war und fühlte nun mit seinem traurigen Schicksal mit, keinen Namen zu tragen.
"Sie fanden es wohl nicht wichtig genug", scherzte er.
"Dann lieben sie dich nicht?", ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Ich weiß es nicht", sprach er und traute sich dabei nicht Anouk in die Augen zu sehen.
Anouk merkte, wie sich die beiden verfuhren und sie emotional wurde. Das wollte sie eigentlich gar nicht, also lenkte sie ein wenig schluchzend auf ein anderes Thema, während sie sich mit den Fingerspitzen die Tränen aus den Augenwinkeln wischte.
"Wieso hast du mir geschrieben?", fragte sie.
Sie tat es als bloßen Zufall ab, dass Internal Realism dieselbe Erscheinung hatte wie Moritz. Vielleicht war es auch nur ihre Müdigkeit, die ihn irgendwie so aussehen ließ oder die schlechte Bildübertragung seiner Webcam.
"Die Frage ist eher: Wieso sollte ich dir nicht geschrieben haben?", erwiderte er mit einer Gegenfrage.
"Das verstehe ich nicht", äußerte Anouk.
"Falsch. Du verstehst es noch nicht", korrigierte er.
"Deine Aussagen ergeben keinen Sinn", sie seufzte, schloss die Augen und sackte ein bisschen in ihren Schreibtischstuhl.
"Noch ergeben sie keinen Sinn", meinte er grinsend.
"Hör auf mich zu verwirren", sie legte die Hände ineinander und drückte sie auf ihre Stirn.
Darauf sagte er hingegen nichts.
"Du weißt es selbst, du denkst nur nicht an die richtige Antwort. Du lässt sie außer Betracht. Deswegen kommt dir alles so merkwürdig vor", erklärte er, wobei er bei dem Wort 'merkwürdig' seine Zeige- und Mittelfinger hob und damit Anführungszeichen in der Luft machte.
"Das ist nicht wahr. Ich denke immer über alles nach. Ich schließe nichts auf Anhieb aus", Anouk stemmte die Hände in die Hüfte.
"Wirklich, Anouk? Also zählt Leugnen für dich nicht als Ausschließen", er wartete gespannt auf eine Erklärung.
"Ich ... ich leugne", sie konnte den Satz nicht beenden, da fiel er ihr prompt ins Wort: "Genau. Du leugnest. Das ist der erste Schritt."
"Welcher Schritt?", harkte sie nach.
"Zur Besserung", sprach er, "der nächste Schritt wäre, diese Wahrheitstöter zu eliminieren."
"Wahrheitstöter?"
"Tabletten"
Anouk kniff die Augen zusammen. Es war genau das, worüber Internal Realism in seinem Foren-Post berichtete hatte. Er wollte die User davon abhalten Medikamente zu nehmen oder zum Arzt zu gehen. Aber warum?
"Wieso? Warum nennst du sie überhaupt Wahrheitstöter?", erkundigte sie sich und setzte sich aufrecht auf ihren Stuhl.
Er schaute sie an. Er blickte ihr nur in die Augen. Tief. Dann warf er ihr wieder das lieb gemeinte Lächeln zu...
und verschwand aus dem Chat.
Der Bildschirm vor Anouk, der die Webcam von Internal Realism zeigte, schlug augenblicklich in ein bitteres Schwarz um. Er hatte die Bildübertragung abgebrochen und war verstummt.