Der Jarl folgte dem Befehl der Völva und blieb regungslos an seinem Platz sitzen, als Jorunn scheinbar davonging. Ihre Schritte knirschten zuerst noch auf dem losen Kies der Klippe, dann wurden sie vom Rauschen des Meeres und des Waldes verschluckt und um Ragnar blieb nichts als das immerwährende Singen und Flüstern der Natur.
Lange starrte der Mann gedankenlos hinaus in die Weite, während die Kälte in seine Glieder kroch. Bald schon waren seine Füße und Knie erstarrt, doch er bemerkte es nicht. Nach und nach versank er in seine Gedanken und überließ sich der Trance, die Jorunn mit ihren Kräutern heraufbeschworen hatte. Noch einmal sah er sich selbst, wie er siegreich vor jenem alten Krieger stand, dessen Namen - Àri - er erst viel später erfahren hatte. Er sah den Alten nach einem weiteren Treffer seines Schwertes auf die Knie fallen, sah, wie er den Rücken in einem letzten Anflug von Trotz und Todesverachtung durchdrückte … Doch dann war es nicht seine Klinge, die niederfuhr und es war nicht seine Hand, die mit einer Pferdepeitsche auf einen nackten, schmalen Rücken einprügelte.
Rúnas Rückansicht veränderte sich vor seinen Augen und aus den glatten, nussbraunen Haaren wurde eine wallende Mähne blonder Locken - Lathgertha. Die Peitsche fuhr in seiner Vorstellung immer wieder auf die blasse, weiche Haut und riss Furche um Furche, während das Schreien der Möwen ihm wie die Stimme seiner Gefährtin erschien. Ragnar zwinkerte. Das wollte er nicht sehen!
Doch die Götter - oder Jorunns Kräuter - waren unerbittlich. Sie führten ihn weiter - auf die Ragnarsúð, hinaus auf das tosende Meer, weg von der Heimat, weg von allen Menschen, die er kannte. Nun war er es, der im Stafn eines fremden Bootes lag, gebunden, geschlagen, hilflos. Und die Männer, denen er ganz offensichtlich unterlegen war, ragten groß und bedrohlich vor ihm auf, die Gesichter nicht erkennbar in seiner Vorstellung. Ja, es mochte Odin selbst sein, der ihm vorführte, wie es sich anfühlte …
Bild um Bild folgte und der Jarl hatte längst vergessen, dass er noch immer auf einer herbstlichen, windumtosten Klippe saß. Er unterlag der Macht der Trance und ließ die Bilder fließen, aufmerksam beobachtet von der Völva, die seine Geistwanderung überwachte und ihm helfen würde, wäre die Belastung für ihn zu groß.
Zeit verrann, Wälder rauschten, Möwen schrien und gegen Abend tauchte auch Ragnar aus seinen Visionen wieder auf. Den Blick fest auf den äußersten Punkt der hohen Klippe gerichtet, nahm er als letztes wahr, wie ein undeutliches Bild einer nackten jungen Frau mit einem Schritt über die Kante hinaustrat und in der Tiefe verschwand. Dann war er zurück in der Realität.
Der Jarl schüttelte sich und nahm nun seine gefühllosen Beine und die alles durchdringende Kälte wieder wahr. Mit schmerzenden Muskeln kam er hoch in eine kniende Position. Noch immer stand jener Fels vor seinen Augen, von dem Rúna gesprungen war. Er bemerkte nicht einmal, dass Jorunn hinter ihm leise davonging. Nun wusste er also, wie es sich anfühlte …
Doch was half ihm das bei dem, was die Götter von ihm verlangten? Ragnar wusste es noch nicht. Doch er wusste, dass er mehr Zeit brauchte, um sich Gedanken über das Kommende zu machen. Dass er Fehler gemacht hatte, war ganz offensichtlich. Doch lag der Kern des Problems nicht viel tiefer? Waren es nicht jene zwei verschiedenen Maße, mit denen sie den Menschen Wert zuteilten, die ihn dorthin geführt hatten, wo er jetzt stand? Wo lag die Grenze dessen, was ihnen in den Augen der Götter gestattet war?
Mühsam kam der Jarl auf die Beine und schwankte einen Moment, bevor er sicher stand. Dann ging er die wenigen Schritte bis an die Abbruchkante der Klippe und sah aufmerksam in die Tiefe. Hier hinabzuspringen, erforderte großen Mut oder große Verzweiflung. Dass Rúna diesen Fall überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Doch vielleicht war es auch das - ein Wunder? Hatten die Götter ihre Hand über die junge Frau gehalten, nachdem er ihr gegenüber versagt hatte? War es wirklich der Wille der Ewigen, dass gerade sie irgendwann in ferner Zukunft den Platz der Völva einnehmen würde? Und wenn es so käme, wo würde er dann stehen?
Ragnar versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, mit einer älteren und weiseren Rúna zusammenarbeiten zu müssen. Würde sie ihm nicht jeden Fetzen Ehre und Macht vom Leib ziehen, bis nichts mehr von ihm übrig war als ein Bündel wertlosen Mannes? Der Jarl wusste, dass er so handeln würde. Hätte ihn irgendjemand bis auf die Knochen erniedrigt und gedemütigt, würde er Rache wollen. Rache, bis von dem anderen nichts mehr zurückblieb.
Doch was dachte er da? Bis Rúna eine Völva war, konnten Jahre oder auch Jahrzehnte vergehen. Viel eher würde Thorstein ihn zur Rechenschaft ziehen. Und ein Schwert in der Hand eines zornigen Mannes war eine starke, nicht zu unterschätzende Waffe.
Ja, Jorunn nahm an, dass der Steuermann ihn nicht töten würde und vielleicht gab sie ihm auch eine entsprechende Anweisung. Dennoch! Wenn Thorstein das Ritual vollzog, hatte er nichts zu verlieren. Er aber, Ragnar, würde vielleicht den Ort nicht mehr auf den eigenen Füßen verlassen. Und wenn er ganz ehrlich war, würde auch er ein Schwert zu führen wissen, sollte je ein Mann seine Hand gegen Lathgertha erheben …
Schwerfällig machte sich der Jarl auf den Rückweg zu seinem Pferd. Die Kälte war nun überall und jagte Schauer über seinen Körper. Seine Hände zitterten unbeherrschbar. Er brauchte dringend Wärme und ein paar heiße Steine an seine Füße, die er schon lange nicht mehr spürte.
Doch es war gar nicht so einfach, mit den eisigen Fingern das Lederzeug seiner Stute vom Baum zu lösen und noch schwieriger wurde es, sich in den Sattel zu schwingen. Mit Müh und Not erreichte Ragnar die Siedlung. Vor seinem Haus kam er mühsam aus dem Sattel, gab den Knechten noch die Anweisung, seine Stute zu versorgen. Dann taumelte er zitternd hinein.
Ungläubig wurde dort seine Ankunft von Lathgertha und ihren Frauen beobachtet. Als der Jarl strauchelte, sprang seine Gefährtin dazu und stützte den durchgefrorenen Mann.
"Ragnar, bei Thors Hammer, wo bist du denn nur gewesen?", forschte sie nach. Doch der Angesprochene konnte sich nicht mit dieser Frage befassen - noch nicht.
"Ein Fell, Gertha", forderte er leise. "Ein Fell und so viele heiße Steine, wie ihr gerade da habt."
Natürlich kam seine Gefährtin diesen Wünschen sofort nach, brachte ihren Krieger zum Lager und packte ihn dick in Felle und Decken ein. Die heißen Steine ließen nicht lang auf sich warten und bald verspürte Ragnar eine zunehmende Wärme seiner Glieder. Hände und Füße schmerzten schrecklich, als sie wieder mit Blut versorgt wurden und auch das Zittern ließ nur sehr langsam nach. Der heiße Tee, der ihm von einer der Sklavinnen gereicht wurde, brannte wie Feuer in seiner Kehle und später in seinem Bauch. Was für ein Tag!
Lathgertha kam an sein Lager und schickte ihre besorgten Frauen beiseite. Die kleine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Gefährten war schnell vergessen, nachdem sie ihn so schwach und zitternd gesehen hatte. Wie konnte er sich aber auch bei dieser Kälte so lange im Freien aufhalten, ohne sich aufzuwärmen? Er war doch kein kleines Kind mehr, dem man genaue Anweisungen für sein Verhalten geben musste.
Nein! Hier war etwas anderes passiert und die Schildmaid würde sicher gleich erfahren, was so wichtig war, dass Ragnar seine Gesundheit dafür riskierte.
Liebevoll rieb sie die noch immer kalten Hände ihres Gefährten. "Wo bist du gewesen, mein Lieber?", forschte sie leise nach. "Draußen beginnt es bald zu schneien. Was hat dich zu einer solchen Zeit so lange in der Kälte aufgehalten?"
Ragnar schluckte. Das war gar nicht gut! Er konnte Lathgertha nicht schon wieder anlügen oder etwas vor ihr verheimlichen. Doch wenn er jetzt alles offenlegte, war überhaupt nicht abzusehen, wie seine Gefährtin reagieren würde. Gertha war eine sehr stolze Frau. Ja, sie hatte ihm seine kleinen Spiele mit den jungen Sklavinnen immer nachgesehen. Doch war dabei auch nie eine der Frauen zu Schaden gekommen und auch einen Bastard hatte es nicht gegeben, weil Ragnar wusste, wie er das zu vermeiden hatte. Rúna aber war ein ganz anders Thema.
Nachdenklich, ein wenig zweifelnd sah er seine Gefährtin an. "Die Völva hat mich zu einem Tranceritual gerufen", gab er schließlich zu. "Ich hatte keine andere Wahl."
Er sah, wie sich die Augen Gerthas erstaunt weiteten. Schon setzte sie zum Sprechen an, doch er drückte ihre Hand entschlossen, um sie davon abzuhalten. "Ich erzähle es dir", ließ er sie wissen. "Doch lass mich einfach reden. Es ist auch so schon schwer genug!"
Lathgertha nickte überrascht. Wenn er so zu ihr sprach, musste etwas Schwerwiegendes geschehen sein. Also musste sie ihm auch das Recht zugestehen, zu erzählen, wann er es konnte. Sie setzte sich ein wenig bequemer hin und harrte der Dinge, die nun kommen würden.
Ragnar aber musterte ihre verschlungenen Hände. Würde es das letzte Mal sein, dass er ihre Finger so in seinen hielt? Er wusste es nicht. Doch er wusste, dass Jorunn ihm keinen Ausweg lassen würde. Der Betrug an Thorstein wog schwer, auch wenn der Steuermann noch nichts davon ahnte. Es blieb ihm nur, Lathgertha die Wahrheit zu sagen, egal, was danach kam. Wenn seine Zukunft nun dunkler und einsamer wurde als seine Vergangenheit, hatte er es allein zu verantworten.
"Ich habe Thorstein hintergangen", flüsterte er schuldbewusst. "Und ich habe gegen den Willen der Götter gehandelt." Er sah, wie Lathgertha erschrocken zusammenfuhr.
"Das kann nicht sein!", murmelte sie leise. Schwieg dann aber, weil sie sah, wie Ragnar sowieso schon mit sich kämpfte.
Er nickte resigniert mit dem Kopf. "Doch, Gertha! Und die Ewigen fordern ein Blutritual, um meine Schuld bei ihnen zu begleichen."
Die Schildmaid fröstelte. Ein Blutritual hatten die Menschen von Straumfjorður schon seit vielen Jahren nicht mehr abgehalten. Normalerweise forderten die Götter nur aller neun Jahre solche Gaben ein und dann wurden sie von jenen erbracht, die Großes vorhatten. Diese pilgerten zum Goldenen Tempel von Uppsala(1), wo sie an der Quelle opferten, neun von jeder Art Männlichkeit, darunter auch Menschen. Das Blut befriedete den Zorn der Götter und stimmte Odin, Freyr und Thor gnädig. Dass nun von Ragnar ein Ritus außerhalb der Zyklus verlangt wurde, war außergewöhnlich und machte ihr Angst.
"Warum?" Mit diesem einen Wort rief sie sich bei Ragnar, der ebenfalls nachdenklich geschwiegen hatte, wieder in Erinnerung.
Der Jarl zog das Schaffell um seine Schultern ein wenig enger. Er fühlte sich unwohl und irgendwie nackt und ausgesetzt, da er seiner Gefährtin reinen Wein einschenken musste. Doch es half nichts …
"Rúna …", murmelte er halblaut. "Der Schänder war ich."
(1) Tempel von Uppsala: Sowohl in der Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum als auch bei Snorri Sturluson wird von einem Opfertempel in Uppsala berichtet, wo das Hauptopferfest gegen Ende des Winters vollzogen wurde. Es wird von Menschen- und Tieropfern für den Frieden und den Sieg des Königs berichtet. Heute werden diese Schriften allerdings angezweifelt.