Die Muse ist ein seltsames Ding.
Obwohl ich bei meinen alten Geschichten im Moment nicht weiterkomme, ist SIE immer noch da.
Kennt ihr eure Muse? Besucht sie euch auch ab und an, um dann wieder frech zu verschwinden?
Da ich euch diese Frage stelle, fühle ich mich natürlich verpflichtet, meinerseits über sie zu berichten. Denn meine Muse ist eine recht eigenwillige Frau in den besten Jahre. So Mitte 30 würde ich schätzen.
Natürlich frage ich sie nicht nach ihrem Alter. Ich weiß ja, was sich gehört.
Sicher aber wollt ihr etwas über ihr Aussehen wissen. Und möglicherweise ist es bei euch auch ganz anders, ihr seid ja Sterbliche.
Meine ist etwa 1.60 groß, hat blonde kurze Haare und sieht aus, als wäre sie aus den 20er direkt in die Neuzeit gebeamt worden.
Manchmal stelle ich mir vor, wie sie wohl reagiert hätte, wäre Captain Kirk mit seiner Mannschaft bei ihr erschienen.
Oder vielleicht ist das ja sogar geschehen und das Raumschiff Enterprise hat sie zu mir geschickt.
Also wegen dem beamen und so.
Aber zurück zu meiner Dame.
Also, sie erinnert an die Zeit der Weimarer Republik.
Ihr wisst, was ich meine? Bubikopf, Stola, Stirnband mit Feder, Netzstrumpfhose, Charleston Paillettenkleid und Zigarettenspitze. Ja, ich habe sogar extra nachgeschlagen, wie man diese langen dünnen Glimmstängel heißen.
Also alles wie damals. Vermute ich.
Ich selbst war während der Zeit nämlich auf einem Selbstfindungstrip in Alaska. Daher habe ich dieses Zeitalter irgendwie verpasst.
Und damals hatte sich meine Muse – die ich in Gedanken auch Madame Charleston oder Federvogel nenne- mir noch nicht persönlich gezeigt. Sondern schickte mir, wie allgemein üblich, ihre Ideen per Gedanken in meinen Kopf und ich konnte mich dann damit auseinandersetzen.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Seit gut fünfzig Jahren besucht sie mich nun persönlich. Zusätzlich.
Mehr oder weniger regelmäßig.
Und das ist manchmal ganz schön anstrengend, das müsst ihr mir glauben. Denn die gute Frau ist nicht immer ganz einfach.
Insbesondere für mich als Vampir, der schon so lange auf Erden lebt und manchmal lieber seine Ruhe hätte.
Ihr letztes Auftreten liegt noch gar nicht lange zurück. Vor zwei Tagen erst störte sie mich unverhofft in meinem Domizil.
Ich hatte gerade gegessen und saß auf meinem kleinen Couch, um mich ein wenig zu entspannen. Gut gelaunt blätterte ich im neuen Vampirkatalog mit den neusten Jungfrauen – herrlich altmodisch als Printausgabe – als sie mal wieder hineingeschneit kam.
Ungefragt, unpassend, rücksichtslos.
Was scherte es sie auch, ob es mir in den Kram passte.
So wie immer eben.
Da saß sie also halb auf meinem Schreibtisch, mit ihrem aufreizenden Kleid – hatte sie eigentlich noch alle? – und blies mir den Rauch ungerührt mitten ins Gesicht.
Auch so ein Punkt, den ich nicht sicher weiß. Normaler Tabak ist das nicht, da bin ich mir sicher. Ob sie irgendwelche Drogen nimmt und deshalb immer auf so verrückte Dinge kommt?
Gesehen habe ich als Vampir ja schon so einiges.
Egal was sie da inhalierte, Rücksicht auf mich nahm sie nicht. Vermutlich hatte sie deshalb mich als ihr Opfer auserkoren – ich war ja schon tot und da konnte ihr keiner vorwerfen, sie würde mir gesundheitlich schaden. Also konnte sie sich schadlos an mich halten und mir allen möglichen Scheiß in das Gesicht blasen.
So wie jetzt auch. Erneut dieser Qualm – wenn sie nun auch ihre Stange etwas seitlich hielt, war er trotzdem nicht weit von mir entfernt. Ich war überzeugt davon, dass sie dies nur tat, um mich zu verärgern. Vor allem in der Kombination mit diesem herablassenden Lächeln.
„Na Dark, läuft wohl nicht?“
Ich versuchte, diese Rauchschwaden durch Herumfuchteln in der Luft zu vertreiben.
„Du schon wieder! Was willst du diesmal?“
„Schauen, was deine Schreibblockade macht“, erklärte dieses Weib doch tatsächlich mit rauchiger Stimme.
Ihr kennt doch diese Staatsanwältin aus dem Münster Tatort, die mit den langen schwarzen Haaren? Genau so. Die gleiche Stimme hat meine Muse.
Muss am Qualmen liegen.
Mir entwich ein resigniertes Seufzen. Ich wusste, ich hatte bereits verloren.
„Alles unverändert, Muse. Also lass mich einfach in Ruhe.“ Ich war chancenlos, musste es aber ehrenhalber zumindest versuchen.
Der Federvogel lachte amüsiert, ehe er einen Blick auf meinen Computer warf. Leichtsinnigerweise stand eben dieser noch eingeschaltet auf meinem Schreibtisch, ohne aktivierten Bildschirmschoner. Und ausgerechnet war es die Übersicht meiner Projekte auf Belletristica, die auf dem Monitor angezeigt wurde.
„Ich sehe schon, lauter unfertige Dinge. Weshalb machst du nicht einfach was Neues?“
Ich knurrte zur Antwort. Noch eine Geschichte? Reichten die vielen unvollendeten denn noch nicht?
„Nun komm schon, lass uns anfangen. Hol Block und Stift heraus“, bestimmte sie frech, während ihre dunkel geschminkten Augen mich herausfordernd anblicken.
Sie wartete nur auf meinen Widerstand, um mit mir einen Kampf führen zu können.
Den ich ihr nicht bieten würde. Ich wusste ja, worauf das hinauslief.
Also kramte ich resigniert Papier und Bleistift hervor.
Sie drehte nun ihren Hintern ein paar Mal kreisend auf der Tischplatte hin und her – war das die neue Art von Tabledance? – bevor sie grinsend anfing:
„Also, du schreibst doch immer gerne Katz- und Mausspiele zwischen Mann und Frau? Und fährst gerne Motorrad? Dazu ist das doch ideal.“
Madame Charleston und ihre verdammte Alleswisserei.
„Was hat Motorradfahren mit meinem Schreiben zu tun?“
„Tzz, tzz. Wie immer schwer von Begriff.“
Sie nahm einen Zug.
„Verstehste nicht? Helm – Motorrad. Er rettet ihr das Leben. Und sie weiß nicht, wer er ist, kennt ihn aber. Du kannst ihm auch noch eine Sturmmaske mit Löchern für Augen und Mund spendieren, dann können sie sich auch küssen. Geht mit Helm ja nicht so gut.“
Selbstzufrieden grinste die Lady mich an und zeigte mir dabei ihre perfekten Zähne.
„Das. ist. totaler. Bullshit!“, widersprach ich. „So etwas habe ich schon bei der Super Vau Geschichte vor. Ein Vampir als Superheld. Sogar mit der gleichen Maskierung die du da gerade vorschlägst.“
Sie runzelte die Stirn. „Mein Lieber, meine Eingebungen an dich sind nie Ochsenausscheidungen! Laut meinen Vorgaben wirst du im Laufe jener Geschichte diese ganzen Typen wie Superman & Co. auf die Schippe nehmen. Aber diese Geschichte, die ist bitterernst!“, erklärte sie mit einem dramatischen Unterton.
Bitterernst?
„Davon abgesehen fährt dein Vampir bisher nicht Motorrad. Und das darfst du dann eben einfach später auch nicht einbauen.“
Wie bitte?!
„Deine Hauptperson in der neuen Erzählung wird ein Mensch sein. Und du verwickelst dein Paar in einen Bandenkrieg. Oder Bang Gang. Nein, warte, am besten beides!“
Alles klar! Bandenkrieg! Bang Gang! Die hatte es doch nicht mehr alle.
Und sie wollte allen Ernstes, dass ich das so niederschrieb?
Aber um weitere Diskussionen zu verhindern, gab ich einfach nach und schrieb ihren Vorschlag auf. Vorher würde sie ja doch keine Ruhe geben.
Wieder einmal eine Fiktion mehr in meiner Zettelsammlung, die nie Wirklichkeit werden würde.
Diese ganze Ideen für Geschichten. Ich sollte all meine Notizen mal binden lassen. Das gäbe einen richtig dicken Wälzer.
„Also schön, ich habe das jetzt hier aufgeschrieben. Kann ich nun endlich weiter meinen Katalog anschauen?“
„Nein, mein Lieber. Glaubst du, ich besuche dich, wenn ich dir nur eine Sache zu sagen hätte?“
Ich habe schon geschrieben, dass meine Lady hartnäckig ist, oder?
Da ich sie ja nur zu gut kannte, verzichtete ich einfach darauf, ihr zu antworten, sondern nickte nur.
„Deine Vampirgruselgeschichte“, lächelte sie und blickte den Rauchkringeln nach.
„Was ist denn jetzt damit?“
„Wie viele Kapitel hast du jetzt? Und sollte sie nicht längst fertig sein?
Musste sie in dieser Wunde rumrühren?
„Ich will da schon ausführlicher schreiben“, behauptete ich rasch. „Dann kann so etwas schon länger dauern.“
„Sagtest du nicht, du bist dir unsicher, ob das nicht alles zu detailliert ist? Aber dein Vampir hat doch mittlerweile zumindest jemanden gebissen und auch von ihm getrunken, oder etwa nicht?“
Nun ja. Keine gute Frage.
Die Frau deutete mein erneutes Schweigen durchaus richtig.
„Dann solltest du endlich mal zu Potte kommen. Sonst wird das eine Endlosserie a la Lindenstraße und läuft genauso lange. Du wolltest ja nach Beendigung deiner Erzählung noch aus der anderen Sicht schreiben und meine Variante fehlt auch noch.“
Ich erwähnte die vielen Ideen meiner Muse ja schon. Die sich manchmal leider doch auch sehr ähnelten.
Auch diesmal versuchte ich, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wollte ich doch endlich meine Jungfrauen betrachten. In Ruhe!!
„Hier ist es ja noch viel mehr die gleiche Story. Statt dem unheimlichen Verkäufer ein väterlicher Freund. Sonst ist alles genau das gleiche.“
„Muss es nicht! Du könntest dem Mann eine Nacht in einem Sarg verbringen lassen, während…“
Zufrieden registrierte sie mein leichtes Stöhnen, während ich mir ein neues Blatt nahm und ihre Ausführungen niederschrieb. Sie brauchte ihren Satz dabei gar nicht zu beenden – ich wusste auch so, was sie hatte sagen wollen.
„Keine Sorge, Dark. Wir bekommen das schon hin.“
Was blieb mir anderes übrig, als bestätigend zu nicken?