Wenn mich Dinge nerven, will ich sie ändern. Es kommt aber vor, dass ich es doch nicht tue. Aus Bequemlichkeit. Das liegt vielleicht an schlechter Erziehung, aber vielleicht nehme ich mir auch die Freiheit heraus, entgegen der gesellschaftlichen Norm und Erwartung zu handeln. Frei nach dem Motto: Schadet es dir nicht, kann ich es so tun.
Der Rasen wächst kniehoch? Okay! In meinem Arbeitszimmer stapelt sich benutztes Geschirr? Passiert! Briefe und anderes Papier wollen abgeheftet werden, liegen aber in Schubladen herum? Gern!
Warum eigentlich auch nicht? Mein Nachbar mäht jedes zweite Wochenende seinen Rasen ratzeblank. Man kann sehr gut die Abgrenzung zu meinem Rasen erkennen, denn der Höhenunterschied ist enorm und Herr Nachbar hört exakt an der Grenze zu meinem Gebiet auf. Die Kante zum Waldrand ist penibel abgemessen. Manchmal frage ich mich, ob er dies mit einem Lineal tut oder ob er einfach schon so oft den Rasenmäher benutzt hat, dass er inzwischen perfekt bestimmen kann, wo er mit dem Klingenwirbler abdrehen muss, um mir ja keinen Gefallen zu tun. Denkt er sich "Die Faule Sau!"? Bestimmt. Kümmert mich aber nicht. Schließlich darf ich die Rasenhöhe meines "Gartens" ja wohl noch selbst bestimmen, oder nicht? "Hauptsache es wird kein Dschungel draus", war die Ansage des Vermieters. Ob ich hohes Gras schön finde, sei mal dahingestellt. Sicher hat ein gemähter Rasen seinen Reiz. Ich habe aber schlicht keine Lust ständig den Rasenmäher auszupacken. Drei mal im Jahr reicht doch. Aber nein - ein guter deutscher Rasen hat gemäht zu sein. Immer. Ist außerdem gesund für ihn und gut für den Boden! Na meinetwegen. Dann hab ich eben nen schlechten deutschen Rasen, wo wächst, was wachsen will.
Und solange das Geschirr keine Ratten oder Kakerlaken anzieht, keinen Schimmel ansetzt und auch ansonsten keine Beine bekommt, warum soll es nicht gestapelt werden? Spätestens wenn ich kein sauberes Geschirr mehr habe, muss es sowieso weggeräumt werden. Dann binde ich mir ein Stirnband um, spiele "Eye of the Tiger" und sage dem Porzellan den Kampf an. Und dann beginnt das Spiel von vorn.
Die Ablage nehme ich mir vor, wenn die Dokumentensuchzeit meine Geduld übersteigt. "Du findest mal wieder nix, weil Unordnung herrscht? Zeit für die Ordneraction!" Ich brauche das meiste Papier danach zwar nie wieder, aber ich kann danach wenigstens nachts in Ruhe schlafen mit der Gewissheit, dass der Papierstapel in der Schublade wieder Platz zum wachsen hat. Genau wie das Geschirrlager auf dem Tisch und natürlich der frisch gemähte Rasen vor dem Schlafzimmerfenster. Chaos muss nicht sein, darf aber. Überhaupt gibt es Ordnung eh nur bei Menschen. Das restiche Universum bedient sich dem Chaos.
Und du? Liest du gerade atmend und schweigend diesen Schund, den ich in gerade mal 10 Minuten zusammengeschmiert habe? Erstmal vielen Dank, dass du es bis hierhin geschafft hast, ohne abzubrechen. Was ist mit deinem Chaos? Umarmst du es? Oder bist du der Nachbar, der ungemähte Rasen hasst?